"In dem Moment, wo bestimmte Gruppen der Bevölkerung es sich nicht mehr leisten können, wenn sie unsicher sind, zu einer Notfallambulanz oder Notaufnahme zu gehen, riskieren wir einen Grundpfeiler unseres solidarisch organisiertem Gesundheitssystems", sagte Nagel im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese schlichte ökonomische Sichtweise sei "zu banal" und werde dem Thema nicht gerecht, sagte der Professor am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth. Für den Teils gravierenden Anstieg von Patientenzahlen in Notaufnahmen gebe es viele Gründe. "Es ist eine komplexe Gemengelage und nicht eine neue Bequemlichkeit unserer Bevölkerung." Befragungen zeigten, dass etwa der Hälfte der Patienten in Notaufnahmen bewusst sei, dass sie nicht akut lebensgefährlich erkrankt seien.
"Ein wesentlicher Punkt ist, dass die normalen Hausarzt-Patienten-Beziehungen, die es über Jahrzehnte gab, durch mobilere Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich abnehmen", erläuterte Nagel. Wo früher noch der Hausarzt angerufen wurde, gingen die Menschen inzwischen eben häufiger in die Notaufnahme. Zudem seien durch das Internet medizinische Informationen zwar leichter zugänglich. Das führe aber auch zu größerer Verunsicherung, unterstrich der Mediziner und Theologe.
Durch den Ärztemangel habe zum Teil die Erreichbarkeit von Praxen abgenommen. Auch wenn die Wartezeiten auf Facharzttermine im internationalen Vergleich in Deutschland immer noch gering seien, sei ein Großteil der Bevölkerung die derzeitige Situation nicht gewohnt.
Sinnvoll sei der Vorschlag, Notarztpraxen als eine Art kassenärztlichen Bereitschaftsdienst in die Nähe von Notfallambulanzen in Krankenhäusern zu legen, sagte Nagel. Diese könnten eine erste Anlaufstelle sein und im Zweifelsfall entscheiden, wer in die Notaufnahme weitergeleitet werde. In Verbindung mit einem Krankenhaus seien sie für Patienten in Not außerdem leicht zu finden.
Lauterbach hält Strafgebühr für Patienten für abwegig
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hatte den Vorstoß der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für die Einführung einer Patientengebühr in Notaufnahmen ebenfalls zurückgewiesen. "Der Ruf nach einer Rettungsstellengebühr für Notfallpatienten ist abwegig", sagte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion der "Passauer Neuen Presse" (Dienstag). Das Problem sei, dass man bei Fachärzten viel zu lange auf eine akute Behandlung warten müsse. Anstelle dieses Problem endlich zu lösen, wolle die Kassenärztliche Vereinigung die Patienten bestrafen.
Lauterbach erklärte, viele Patienten könnten selbst gar nicht entscheiden, ob sie in die Rettungsstelle müssten oder mehr Zeit für eine Behandlung bleibe. Zur Lösung des Problems schlägt der SPD-Politiker vor, dass in den Notfallzentren der Kliniken auch niedergelassene Ärzte arbeiten sollten. Sie könnten dann die Fälle übernehmen, die nicht der Notfallbehandlung bedürften.
Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hatte vorgeschlagen, von Patienten mit Bagatell-Beschwerden, die sich in Klinikambulanzen behandeln lassen, notfalls eine Strafgebühr zu verlangen. Viele Patienten kämen ins Krankenhaus, weil sie keine Lust oder keine Zeit haben, sich einen Termin bei einem niedergelassenen Kollegen zu besorgen, argumentierte er.
Forderung nach Reformen der Notfallversorgung
Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Grünen, forderte, die Notfallversorgung in Deutschland zu reformieren. "Kein Mensch setzt sich aus Langeweile in die Notaufnahme. Gebühren sind der falsche Weg, weil sie Menschen aus finanziellen Gründen davon abhalten können, sich nötige Hilfe zu suchen."
Statt Eintrittsgelder zu verlangen, müsse die Notfallversorgung verbessert werden. "Viele der Probleme in den Notaufnahmen lassen sich lösen, wenn es ein klar verständliches Angebot aus einer Hand gibt: eine Notrufnummer, eine Anlaufstelle, eine einheitliche Ersteinschätzung", sagte Kappert-Gonther. Hierfür müssten Krankenhäuser und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte besser als bislang zusammen arbeiten.