Die Debatte um die Entscheidung der Essener Tafel, vorerst nur Deutsche als Neukunden aufzunehmen, geht weiter. Dabei geriet am Mittwoch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst in die Kritik, die den Aufnahmestopp als "nicht gut" bezeichnet hatte. Während Politiker zunehmend Verständnis für die Probleme in Essen äußerten, rief die Arbeiterwohlfahrt die Verantwortlichen auf, den Aufnahmestopp rückgängig zu machen.
Regierungssprecher Steffen Seibert bemühte sich nach Merkels kritischen Worten in einem RTL-Interview um Ausgleich. Er erinnerte daran, dass die Kanzlerin auch von dem Druck gesprochen habe, mit dem die Tafeln umgehen müssten. Die Politik könne Hilfe anbieten. Es sei aber klar, dass allein die Verantwortlichen vor Ort die Entscheidungen träfen, sagte Seibert.
Merkel habe sich mit dem Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) in Verbindung gesetzt. Sie begrüße den Beschluss, dass an einem Runden Tisch über das weitere Vorgehen beraten werden soll. Seibert bekräftigte aber auch den Standpunkt der geschäftsführenden Regierungschefin: "Bedürftigkeit ist Bedürftigkeit. Dafür ist nicht die Staatsangehörigkeit die Richtschnur."
Christian Lindner: Politik soll nicht die Tafel kritisieren
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner reagierte auf Merkels Kritik in der "Bild"-Zeitung und sagte, wenn die Helfer bedrängt würden, sollte die Politik die Tafel nicht kritisieren, sondern Hilfe anbieten. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck erklärte, die Freiwilligen badeten aus, was die Politik versäumt habe. Caritas-Präsident Peter Neher rief dazu auf, die Verantwortlichen in Essen zu unterstützen statt kluge Ratschläge zu geben.
Die Unionspolitiker Stephan Mayer (CSU) sagte der "Passauer Neuen Presse", er habe sehr viel Verständnis für den Essener Beschluss. Der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach erklärte, er finde die Entscheidung zwar nicht unproblematisch, vermisse aber das Verständnis für die Menschen, die nicht mehr zur Essener Tafel kamen.
Sarah Wagenknecht: Entscheidung ein "Hilfeschrei"
Die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sarah Wagenknecht, sagte im RBB-Inforadio, die Entscheidung der Tafel sei ein "Hilfeschrei", kein Rassismus. Linken-Parteichefin Katja Kipping erklärte, die Tafeln unterstützten regelmäßig 1,5 Millionen Menschen. Das sei ein Handlungsauftrag an die Politik. Über Quoten für Deutsche und Nicht-Deutsche an den Tafeln zu diskutieren, sei "absurd".
Der bundesweite Dachverband der rund 900 Tafeln hatte am Dienstag nach einer Krisensitzung mitgeteilt, dass die Essener Tafel trotz der teilweise massiven Kritik vorerst an ihrem Aufnahmestopp für Ausländer als Neukunden festhalte. Jetzt soll ein Runder Tisch nach Lösungen für die Probleme bei der Lebensmittelausgabe suchen.
Der Essener Vereinsvorstand hatte den vorübergehenden Aufnahmestopp damit begründet, dass der Anteil der Migranten unter den 6.000 Menschen, die regelmäßig Lebensmittel erhalten, auf 75 Prozent gestiegen sei. Ältere Menschen und Alleinerziehende würden auf diese Weise schleichend verdrängt.
"Nachdem durch einen darwinistischen Verdrängungsprozess einheimische alleinstehende Mütter abgedrängt worden waren, war es der Intention nach von der Leitung der Essener Tafel human, den Verdrängten eine Chance einzuräumen."
Der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler forderte die Essener Tafel auf, den Aufnahmestopp rückgängig zu machen. Er sagte im Radiosender SWR, dieser werde zu einer Eskalation führen, "die ist fürchterlich". Das grundlegende Problem liege aber nicht bei der Tafel, sondern an Sozialleistungen, von denen die Menschen nicht leben könnten.
Der Theologe Richard Schröder unterstützte hingegen die Essener Entscheidung. Der frühere Politiker, der nach dem Mauerfall SPD-Fraktionschef in der DDR-Volkskammer und Mitglied des Bundestags war, schrieb in einem Gastbeitrag für "Die Welt": "Nachdem durch einen darwinistischen Verdrängungsprozess einheimische alleinstehende Mütter abgedrängt worden waren, war es der Intention nach von der Leitung der Essener Tafel human, den Verdrängten eine Chance einzuräumen." Sie habe dies "aber nicht besonders klug eingefädelt". Er empfahl den Verantwortlichen, sich etwa an Chemnitz zu orientieren, wo die Tafel an unterschiedlichen Tagen jeweils nur für Migranten, Alteingesessene und Behinderte geöffnet sei.