Vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags haben sich zahlreiche Abgeordnete am Dienstagmorgen bei einem ökumenischen Gottesdienst in Berlin versammelt. Traditionell laden die Berliner Büros von evangelischer und katholischer Kirche vor der Konstituierung des Parlaments zu einem Gottesdienst ein. Die Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche beim Bund, Prälatin Anne Gidion. sagte, die Kirchen wollten dazu beitragen, Orte zu schaffen, die den Abgeordneten vermitteln, "dass Sie mehr sind als das, was Sie leisten, mehr als die Klicks und der Applaus, mehr als das Amt und der gefüllte Kalender".
Dazu böten die Kirchen Gottesdienste und Andachten, weitere Veranstaltungen wie Abgeordnetenfrühstücke "und Stellungnahmen, die Sie manchmal unnötig finden und manchmal hilfreich", sagte Gidion und erntete einige schmunzelnde Gesichter. Im Januar hatten die Kirchen mit einer kritischen Stellungnahme zum Asylkurs der Union für Aufsehen gesorgt.
In ihrer Begrüßung warb Gidion besonders für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: "Vielleicht haben Sie auch Erwartungen, was der Glaube zu Ihrem Dienst beitragen kann. Antworten auf Fragen wie: Was hält uns zusammen? Was hält diese Gesellschaft zusammen? Dieses neu gestaltete Gotteshaus atmet dabei selbst etwas fast Parlamentarisches, es gibt nicht vorne und hinten, sondern ein Zentrum mit Kuppel, eine konzentrierte Mitte und den Himmel darüber", sagte die Prälatin.
Gidion dankte den Abgeordneten, die aus dem Bundestag ausscheiden und hieß die neuen willkommen. Ihr Respekt gelte allen, so Gidion: "Sie übernehmen Verantwortung in diesem großen Verständigungsort Parlament. Sie vertreten das Demos, das Volk, mit bestem Wissen und Gewissen." Die Kirchen wollten dabei die Bundestagsabgeordneten begleiten, mit "verschwiegener, auch seelsorglicher Begleitung – solidarisch und ohne Ansehen der Person und unabhängig davon, wie viel uns politisch verbindet oder auch mal trennt." Gidion: "All das wird nicht immer gelingen und manchmal braucht es dann Streit, Verständigung und Versöhnung. Im Parlament und in unserer Gesellschaft."
Der katholische Prälat Karl Jüsten rief die Politiker:innen in seiner Predigt auf, Mandat oder Amt so auszufüllen, dass die Vertrauensbeziehung zu den Wählerinnen und Wählern "wachsen kann". Die Erfahrung lehre, dass in die Demokratie vertraut werde, wenn "ein anspruchsvolles Ethos gelebt wird und wenn sich die Ergebnisse des Parlaments sehen lassen können", sagte der Leiter des katholischen Büros in Berlin. "Wir stehen als Gesellschaft vor großen Herausforderungen", sagte Jüsten und ergänzte: "Bürgerinnen und Bürger erwarten Antworten von Regierung und Parlament."
Zu dem Gottesdienst waren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Mitglieder der scheidenden Regierung in die katholische Sankt Hedwigs-Kathedrale gekommen, unter ihnen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Unter den Gottesdienstbesuchern waren zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Union wie CDU-Chef Friedrich Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sowie Mitglieder des alten Bundestagspräsidiums, wie die bisherige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne).
Alterspräsident Gysi mahnt zu sprachlicher Mäßigung
Alterspräsident Gregor Gysi (Linke) ermahnte die Mitglieder des Bundestags, mehr auf ihre Sprache zu achten. Die Abgeordneten müssten allgemein verständlich sprechen und "den gehobenen Stil überwinden", sagte Gysi in der konstituierenden Sitzung des Parlaments. Außerdem sollten die Bundestagsmitglieder in ihrer Sprache "das Maß wahren". "Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren und nicht immer bei Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen."
Gysi verwies dabei auf die Diskussionen über Fragen von Verteidigung und Sicherheit. Die Politiker:, die eine starke Bundeswehr angesichts der Weltlage für unerlässlich hielten, dürften "niemals als Kriegsbetreiber" bezeichnet werden. Umgekehrt sollten die Abgeordneten, die wie er selbst vor allem auf Deeskalation und Abrüstung setzten, nicht "Putin-Knechte" genannt werden.
Letztlich gehe es allen um die Sicherung des Friedens, betonte der Linken-Politiker. Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie Frieden erreicht werden könne, müssten respektiert werden. "Ferner müssen wir alle ehrlicher werden", appellierte Gysi weiter. "Man muss die wahren politischen Beweggründe für Entscheidungen angeben."
Gysi schlug dem Bundestag die Einrichtung überparteilicher Gremien vor, in denen "offen und ehrlich" über besonders komplexe und umstrittene Themen beraten werden sollte. Als Beispiele nannte er das Renten- und Steuersystem, die Finanzierung der Krankenkassen und den Abbau von Bürokratie.
Der 77-jährige Gysi hatte nicht aufgrund seines Alters, sondern wegen seiner langen Zeit als Bundestagsabgeordneter das Amt des Alterspräsidenten übernommen. Dieses wird seit 2017 von dem Bundestagsmitglied übernommen, das die längste Parlamentserfahrung hat, und nicht mehr vom ältesten. Die AfD-Fraktion scheiterte am Dienstag zu Sitzungsbeginn mit dem Versuch, die vor 2017 geltende Regelung wieder einzuführen.