Manchmal denke ich, dass ich als Kind vielleicht näher dran war an Gott, als ich es heute bin. Und vielleicht denkt Gott das auch. Weil er mich noch von früher kennt. Wie ich war. Im Sommer, in der Hängematte liegend, ganz still, eine Schale Kirschen in den kleinen Händen. Über mir Kastanienbäume und Wolkenträume. Nichts denken. Nichts tun. Nur sein. Vor allem glücklich. Kirschenkauend und Wolkenguckend. Die Hängematte bewegt sich sachte im Wind. Und wenn ich die Beine in die Luft strecke, sieht es aus meiner Perspektive so aus, als könnten meine nackten Füße über das weite Blau laufen. Meine Beine bilden eine Brücke zwischen Himmel und Erde. Meine Seele ist stille zu Gott. (Psalm 62)
Wenn ich heute Kirschen esse, dann gucke ich dabei Fotos auf Instagram. Oft mache ich sogar selbst ein Bild. Um den Moment festzuhalten. Die Kirschen. Und den Sommer. Vielleicht ein bisschen was von mir selbst und dem Gefühl, diesem köstlichen Sommerkirschgefühl, das bitte nicht so schnell vorbei sein soll. Nichts denken, nichts tun, nur sein: Das fällt mir heute schwer. Denn mein Kopf und mein Herz sind meist schon einen Moment weiter. Weil ja doch nichts bleibt, wie es ist. Ich glaube, darum zu wissen, und deswegen will ich festhalten, was mir gefällt. Es konservieren. Für Zeiten, in denen keine Kirschen an den Zweigen hängen, in mir drin mehr Winter als Sommer ist und der Himmel unendlich weit weg scheint.
„Vorausschauend zu sein“, das ist ein Charakterzug, der meist positiv bewertet wird. Denn er bewahrt uns scheinbar vor Katastrophen und Komplikationen. Er gibt uns das Gefühl, alles im Griff zu haben. Aber dieses „Vorausschauendsein“ nimmt mir auch das, worin ich als Kind so gut war: Hier sein. Nur hier sein. Kirschenkauen und Wolkengucken. Mit den Beinen eine Brücke bauen. Ohne Gedanken an ein Später. Das klappt nicht, wenn man sich selbst und dem Leben immer schon einen Schritt vorauseilt, auch wenn es nur in Gedanken ist.
Manchmal bedaure ich es sehr, dass wir mit dem Erwachsenwerden zwar viel lernen, aber auch viel ver-lernen. Wie ging das nochmal? Dieses Hiersein und nicht immer noch mehr wollen? Ich vermisse das und deswegen erkläre ich die Ferienzeit zu einer Fastenzeit: Ich verzichte auf das Vorausschauen. Will nicht am ersten Urlaubstag schon den letzten fürchten. Ich will mich überraschen lassen. Vielleicht auch von mir selbst. Will die Reiseführung einem anderen überlassen. Will weniger konservieren und lieber mehr probieren. Kirschen schmecken ohnehin am besten frischgepflückt und nicht aus der Dose. Vielleicht habe ich so am Ende des Sommers weniger Fotos auf dem Handy als sonst, aber vielleicht ein volleres Herz. Und eine Seele, die stille ist, zu Gott. Ein bisschen so wie früher.