Mitglied einer Ladies-Gang

Mitglied einer Ladies-Gang
Ich bin über fünf Jahre Pastorin in Eime und während dieser Zeit bin ich Gang-Mitglied bei den „Ladies“ geworden. Frauen, Witwen, jenseits der 80 Jahre, die sich häufig treffen, um, wie sie selbst sagen, Zeit miteinander totzuschlagen.

Wir begegnen uns zu vielen verschiedenen Anlässen und heute möchte ich Sie mal vorstellen, weil sie mich inspirieren, motivieren und ich eine tiefe pastorale Liebe für sie hege, die sich darin ausdrückt, dass ich unglaublich dankbar über meine Berufswahl bin.

Dieser erlesene Kreis existiert, weil es einen Motor gibt, nämlich Frau Amalie (Gang-Anführerin): Wie alt genau sie ist, weiß ich nicht, ich kann mir immer nur Zeitspannen merken. Ich weiß, dass wir vor Corona zusammen den 85. Geburtstag gefeiert haben, aber den 90. noch nicht, also ist sie irgendwo dazwischen. Frau Amalie ist eine Vertriebene aus dem heutigen Polen und hat sich die Power der Flucht, bis ins hohe Alter bewahren können. Sie ist ein richtiger Schelm, neckisch, lustig, spendabel, neugierig, aber auch liebevoll und gütig und sie hat ein ganz niedliches Gesicht. Von Frau Amalie kamen bis jetzt immer die Ideen für Unternehmungen, z.B. waren wir an einem ihrer Geburtstage Sushi essen. Das war eines der schönsten und witzigsten Erlebnisse meines Lebens: Sechs ältere Menschen essen zum ersten Mal mit Stäbchen, kauen mit ihren Zahnprothesen auf zähen Algen rum und bekommen Tränen vom Wasabi und von meiner Freude über diesen Nachmittag in die Augen. Am Anfang ist Frau Amalie noch selbst immer das Auto gefahren, sie hat uns dann alle nach der Reihe nach abgeholt.  Manchmal hat sie mich nach einem Dorffest auch nach Hause gebracht. Das fand ich immer so lieb, weil ich dann nicht angetrunken allein durchs Dorf laufen oder meine Frau bemühen musste. Sie hat dann immer gesagt: „Frau Pastorin, das ist eine Investition in die Zukunft, eines Tages fahren sie mich!“ und so soll es nun sein, inzwischen bin ich die Fahrerin, dies aber sehr, sehr gern.

Dann gibt es noch Frau Edit(h - ich glaube ohne h), mit ihr habe ich schon den 95. Geburtstag gefeiert, den 100. aber noch nicht. So wie sie, stelle ich mir Engel vor: Keinerlei Boshaftigkeit oder Hintergedanken zu erkennen. Eines Tages habe ich sie mal im Krankenhaus besuchen müssen und da dachte ich, ich sehe sie zum letzten Mal - zum Glück habe ich mich getäuscht. Nun lebt sie in einem Altenheim und wir sind uns beide einig, die 100 schaffen wir, weil es diesen kritischen Berg gibt, den ich mit ihr das erste Mal erklimmen musste und den sie bezwungen hat. An ihrem Krankenbett habe ich einst aufrichtig gebetet, so ins Beten komme ich selten. Ich spürte, es geht um alles und nur durch das Gebet waren wir noch verbunden. Sie fühlte meine Sorgen und sie versprach mir durch ihre Aura zu kämpfen, sprechen konnte sie da nicht mehr. Heute lebt Frau Edit(h), es geht ihr gut und sie ist zufrieden, in einem Altenheim und ich glaube, sie hat ein paar gute Jahre vor sich. Frau Amalie und ich besuchen sie dort regelmäßig. Ich fahre uns erst in ein Testzentrum, Frau Amalie ist dort natürlich auch mit QR-Code registriert und dann ab zu Kaffee und Kuchen zu Frau Edit(h).

Eine weitere Lady im Bunde ist Frau Ruth, sie ist noch nicht lange Witwe und somit auch noch nicht lange Gang-Mitglied. Ihren Mann habe ich beerdigt und als er noch lebte, tauchte Frau Ruth auch nirgendwo auf. Erst nach dem Tod Ihres Mannes musste sie selbstständig werden, um wieder neue Kontakte zu knüpfen. So kam sie vermehrt zu den Gottesdiensten und zum Seniorennachmittag und bekam Anschluss an die Gang. Das war eine schöne Zeit, wir aßen zusammen Frau Amalies Weintrauben aus dem Garten und zockten oft Donnerstagsnachmittags „Rummy Cup“, ganz nach Gang-Regeln: Ein Joker muss z.B. nicht ausgelöst werden, sondern kann einfach weggenommen und eingesetzt werden, solange noch drei Steine in der Reihe liegen. Die Ladies waren sich einig, das sei rechtens und gingen auf meine Schummel-Vorwürfe gar nicht weiter ein. Inzwischen hat sich Frau Ruth leider wieder etwas zurückgezogen, taucht kaum mehr auf, aber neulich war ich sie zum 85. Geburtstag besuchen, das war mal wieder schön. Es lohnt sich nämlich immer Frau Ruth zu besuchen, sie hat die nützliche Gabe und besondere Antennen, Dorftratsch aufzuschnappen. Der ist dann aber noch sehr wirr und muss von mir recherchiert und sortiert werden, aber ohne sie wüsste ich wesentlich weniger über meine Gemeinde, z.B. wer welches Haus gekauft hat, wer krank ist oder welche*r Jugendliche über die Strenge geschlagen hat.

Es gibt noch ein paar mehr Gang-Ladies, z.B. Frau Hannah, Frau Eva (eigentlich Evelyne) und Frau Ilse, aber vielleicht zu diesen in einem späteren Spiritustext mehr.

Ich schreibe über meine Ladies hier, weil sie der häufigste Grund dafür sind, dass sich spirituelle Erlebnisse in meinem Leben ereignen. Es sind schöne Momente, die mir die Damen schenken, weil es Momente sind, in denen ich Gott nahe bin. Aufgrund Ihres Alters, ihrer Themen und ihrer besonderen Zerbrechlichkeit, bin ich näher an der Endlichkeit dran. Die Ladies haben mir einen eigenen Zugang zur Spiritualität geschenkt und damit zu Gott. Und das fühlt sich so geborgen an - Ich danke den Ladies dafür sehr.

weitere Blogs

Altar mit dekoriert in Regenbogen-Farben
Für diesen Blogbeitrag habe ich ein Interview mit Lol aus Mainz geführt. Lol ist christlich, gläubig und non-binär. Nicht für alle christlichen Kreise passt das gut zusammen.
Weihnachtsbaum Emil beim Abtransport für Kasseler Weihnachtsmarkt
In Kassel war der Weihnachtsbaum zu dick für den Transport
Manche halten sie einfach für Drag Queens, doch die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz sind eine nicht-religiöse Ordensgemeinschaft mit sehr klarem Auftrag. Einblicke aus dem Ordensalltag von Sr. Magdalena.