Das Protokoll

Das Protokoll

Urteil. Rückfahrt. Paulus, Elias. Koffer verräumen. Endlich! Nach zwei Monaten des Hin- und Herfahrens: weg, weg mit ihm! Schlafen wie eine Tote. Und wirr träumen.

Am anderen Tag Kreuzweg lesen. Wie aus dem Nichts. Den aus dem Vatikan von diesem Jahr. Betrachtungen aus dem Gefängnis in Padua. Die Station, an der Jesus zum ersten Mal fällt unter dem Kreuz. Aufgeschrieben von einem verurteilten Mörder:

Es war das erste Mal, dass ich gefallen bin, aber dieser Sturz war tödlich. Ich habe einem Menschen das Leben genommen. Es dauerte nur einen Tag, um von einem unbescholtenen Leben zu einer Tat zu gelangen, die eine Verletzung aller Gebote beinhaltet. Ich fühle mich wie eine heutige Version jenes Verbrechers, der Christus anfleht: "Denk an mich!" Ich stelle mir vor, dass er nicht nur Reue empfunden hat, sondern sich dessen bewusst war, dass er auf dem falschen Weg ist. Ich erinnere mich an das kalte und widrige Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. (…) Ich sehnte mich danach, so akzeptiert werden, wie ich war, aber es gelang mir nicht. Ich litt am Glück der anderen, sie waren für mich wie Stöcke zwischen den Speichen. (…) Ich fühlte mich allen gegenüber fremd und wollte mich um jeden Preis rächen.

Mir war nicht bewusst, dass das Böse in mir langsam immer mehr anwuchs. Eines Abends dann brach meine Stunde der Dunkelheit an. Auf einmal und wie eine Lawine entlud sich meine Erinnerung an all das Unrecht, das ich in meinem Leben erlitten hatte. Der Zorn erwürgte die Liebenswürdigkeit, und ich beging ein Unrecht, das unermesslich größer war als alles, was ich selbst erlitten hatte. Die Schmähungen der anderen im Gefängnis brachten mich dazu, mich selbst zu verachten. Ich war soweit, Schluss zu machen, ich war am Limit (…)

Nicht glauben zu können, dass es in der Welt Güte geben würde, war mein erster Sturz. Der zweite, der Mord, war fast eine Folge - ich war innerlich bereits tot.

Mitleid kommt in mir auf, wenn ich das lese. Wie er sich jetzt wohl fühlt?

Mitleid mit "unserem" Täter habe ich dagegen nicht. Wie es ihm geht, ist mir egal. So christlich bin ich nun auch wieder nicht.

Auch die Israel-Reise fällt mir wieder ein, der Kreuzweg in Jerusalem. Wer mochte, konnte eine Station lesen. Ich wollte unbedingt und ich wählte eben jene dritte, an der Jesus zum ersten Mal stürzt. Und ich las und ich betete für mich, für uns:

Der Weg, den Jesus geht, ist steil. Das Kreuz ist schwer; es lastet auf seinen Schultern. Es drückt ihn zu Boden. Die Menschen stehen um ihn herum. Alle schauen zu, aber niemand hilft. Jesus stützt sich mit der Hand ab, damit er nicht ganz zu Boden fällt. / Uns scheint oft unser Kreuz zu schwer. Ein Leid bedrückt uns. / Lasset uns beten: Herr Jesus Christus, das Kreuz hat schwer auf dir gelastet. Hilf uns, dass wir von unseren Sorgen nicht erdrückt werden. / Wir bitte dich, erhöre uns.

Ich weiß es noch genau: Ich hörte nichts und niemanden, keine Rufe, keinen Laut, und ich merkte den Trubel nicht, nicht die Menschen um mich herum, ich spürte nur das Gewicht, die Last … und schwieg.

Ein Jahr ist das jetzt her. Und doch ist es, als wäre es gestern gewesen.

Seltsam, dass ich gerade jetzt an Jerusalem denke. Und an Rom. Nun, da der Prozess vorbei ist. An einen Zufall glaube ich nicht. - Vielleicht geht’s ja um meinen Kreuzweg. Um einen Aufbruch. Denn Gott will, dass es mir gut geht. Und der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.

Niemals.

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