"Gottesteilchen" gefunden?!

"Gottesteilchen" gefunden?!

In der Erwartung eines historischen Resultats hat die Welt heute gebannt nach Genf geblickt. Und tatsächlich: Man hat das - oder besser: ein - Higgs-Teilchen nachgewiesen. Worum es dabei geht - und warum die Rede vom "Gottesteilchen" nur ein Marketing-Gag ist.

Der große Hörsaal am Forschungszentrum CERN bei Genf war brechend voll, immer wieder wurde der "historische Moment" beschworen, und per Internet-Livestream war man nicht nur mit Interessierten in aller Welt verbunden, sondern lieferte gar die Auftaktveranstaltung für eine Teilchenphysik-Konferenz in Australien: Ungewöhnlich war das "Update zur Higgs-Suche" allemal, welches das CERN für heute vormittag mitteleuropäischer Sommerzeit angekündigt hatte.

Die Aufmerksamkeit verwundert nicht, wenn man sich vor Augen führt, dass die Teilchenphysik - also die Forschung, die herauszufinden veresucht, was Materie ist und, im wahrsten Sinne, was die Welt im Innersten zusammenhält - seit geraumer Zeit mehr oder weniger auf der Stelle tritt. Die grundlegende Theorie von Elektronen und Protonen, von Strahlung und Kräften, von Atomkernen und ihren kleinsten Bestandteilen, stammt im Wesentlichen aus den 1960er Jahren. Es ist das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik und hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Experimenten bewährt.

Zu viele Fragen offen

Zwar denken Physiker schon lange über das Standardmodell hinaus, und das auch mit gutem Grund: Es beschreibt die Wirklichkeit zwar zufriedenstellend, aber es lässt zu viele physikalische Warum-Fragen offen: Warum gibt es gerade 29 verschiedene Elementarteilchen? Warum haben sie alle gerade ihre jeweilige Masse, und warum kann die Theorie diese Werte nicht erklären? Warum konnte im jungen Universum ein Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie entstehen, ohne welches es niemals Galaxien, Sterne, Planeten und Leben hätte geben können? Und warum ist diese Physik des Allerkleinsten trotz aller Bemühungen so schlecht kompatibel mit der Theorie des Kosmos im Ganzen, also mit Theorie der Gravitation?

Dieses Nachdenken über eine "Neue Physik" jenseits des Standardmodells hat faszinierende Konzepte mit klangvollen Namen hervorgebracht: Supersymmetrie, Stringtheorie, Quantenschleifengravitation … Diese haben jedoch alle miteinander ein ganz fundamentales Problem: Sie sind bisher reine Theorien - Gedankenkonstrukte beziehungweise mathematische Erfindungen, die oft genug schon kaum in sich kohärent zu formulieren sind, aus denen sich bisher aber vor allem keinerlei messbaren Auswirkungen ergeben haben.

Welche Rolle spielt nun das Higgs-Teilchen in diesem großen Panorama? Im Standardmodell ist zunächst einmal unklar, warum manche Wechselwirkungsteilchen (Photonen) masselos sind, andere, vergleichbare Wechselwirkungsteilchen (W- und Z-Bosonen, die etwa beim radioaktiven Zerfall eine Rolle spielen) dagegen nicht. In den 1960er Jahren dachten sich nun einige Physiker, darunter der Schotte Peter Higgs, eine Erweiterung der Theorie aus, die (mathematisch) dafür sorgt, dass W- und Z-Bosonen ihre Masse bekommen. Auch das war zunächst nur eine mathematische Erfindung. Diese lieferte allerdings nicht nur die gewünschte Erklärung für die Bosonen-Massen, sondern auch die Vorhersage eines neuen Teilchens: eben des Higgs-Bosons.

Vom gottverdammten zum Gottesteilchen

Seither wurde diese Erweiterung zu einem kanonischen Bestandteil des Standardmodells. Während alle anderen im Rahmen des Standardmodells vorhergesagten Teilchen jedoch nach und nach in immer aufwändigeren Beschleunigerexperimenten gefunden wurden, entzog sich das Higgs, unverschämterweise, über Jahrzehnte dem experimentellen Zugriff. Der Physiker Leon Lederman bezeichnete es deshalb in einem Buch auch als "goddamn particle" (gottverdammtes Teilchen). Und, so geht jedenfalls die allgemein kolportierte und absolut plausibel klingende Erzählung weiter: Als ein griffiger Titel für das Buch gesucht wurde, kam ein findiger Verlagsmitarbeiter auf die Idee, Ledermans Bezeichnung noch etwas zu frisieren - das Buch erschien somit unter dem Titel "The God Particle" (Das Gottesteilchen,1993).

Die Nachricht des heutigen Tages lautet nun: Im Gegensatz zu allen früheren, bestenfalls uneindeutigen Versuchen hat man nun am "Large Hadron Collider" am CERN ein Teilchen nachgewiesen, das zu dem Steckbrief passt, den man anhand des Standardmodells vom Higgs-Boson erstellen kann. Dass die Suche so lange gedauert hat, hängt unter anderem damit zusammen, dass dieses Teilchen selbst eine sehr große Masse hat und man deshalb Teilchen mit gigantischen Energien aufeinander schießen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, es zu erzeugen. Außerdem zerfällt es (wie alle sehr schweren Elementarteilchen) nach extrem kurzer Zeit in andere, leichtere Teilchen - man kann deshalb nie das Higgs selbst "sehen", sondern nur seine Zerfallsprodukte, und daraus unzweideutige Rückschlüsse zu ziehen ist ein komplexes Problem. (Die Abbildung oben [Quelle: CERN] zeigt ein solches Ereignis: Es entsteht ein ganzer Teilchenschauer, darunter auch zwei Photonen - dies sind die Zerfallsprodukte, aus denen sich unter ganz bestimmten Umständen auf ein Higgs-Teilchen zurückschließen lässt.) Mit dem heutigen Tage sind die Zweifel allerdings praktisch ausgeräumt: Zwei Gruppen mit jeweils eigenem Detektor haben unabhängig voneinander und mit jeweils extrem großer statistischer Sicherheit (Fehlerwahrscheinlichkeit eins zu einer Million) nachgewiesen, dass es dieses neue Teilchen geben muss.

Trotz des Erfolgs: We need more data!

Das ist ein großer, auch mit extremem Aufwand erkaufter Erfolg. Entsprechend aus dem Häuschen sind die CERN-Forscher, und besonders gerührt war der mittlerweile greise Peter Higgs, der in der ebenfalls live übertragenen Pressekonferenz erklärte, er sei höchst erstaunt, dass dieser Fund noch zu seinen Lebzeiten gelungen ist. Auf der anderen Seite wirft auch diese Antwort, wie meistens in der Wissenschaft, viele neue Fragen auf. Die entscheidende lautet: Handelt es sich nun exakt um das vom Standardmodell vorhergesagte Higgs, oder gibt es Abweichungen in Details? Wurde also vielleicht nur "ein" Higgs-Boson gefunden, das letztlich auf eine modifizierte und erweiterte (womöglich auch verschiedene Higgs-Bosonen umfassende) Theorie verweist? Ein solcher Beleg für Neue Physik wird von den Forschern mindestens ebenso herbeigesehnt wird das Higgs.

Ist der heutige Fund also der ultimative Triumph des allgemein als unbefriedigend empfunden Standardmodells - oder der Anfang von dessen Revision? Diese Frage ist leider offen, bis auf Weiteres: "We need more data", hieß es denn auch am Ende der Ergebnispräsentation in Genf, und auch die Pressemitteilung klingt eher nüchtern und zurückhaltend.

Die theologische Perspektive

Und was ist zu alledem aus theologischer beziehungsweise Glaubens-Perspektive zu sagen? Die Anekdote zur Namensentstehung macht schon deutlich: Substanz hat die Bezeichnung "Gottesteilchen" in keiner Weise. Man darf davon ausgehen, dass die meisten Wissenschaftler diese Bezeichnung überhaupt nicht mögen. Peter Higgs selbst soll sich der Bezeichnung von Beginn an widersetzt haben, und das ZDF zitiert den Physiker Joachim Mnich mit der treffenden Bemerkung: "Was wir als Teilchenphysiker versuchen, ist zu ergründen, wie das Universum funktioniert. Wer dahinter steckt, was dahinter steckt oder wie es geschaffen wurde, das ist glaube ich eine andere Frage. (...) nach meiner Meinung sind entweder alle Teilchen Gottesteilchen oder keins."

Andererseits gibt es in unserer marktgesteuerten Mediokratie wohl keine Chance, dass das Higgs-Teilchen seinen Beinamen irgendwann wieder abstreift. Zu groß ist die Faszination, die jede - auch scheinbare - Verbindung von Forschung und Metaphysik erzeugt. Wie gut sich das verkauft, hat zuletzt ja etwa Stephen Hawking vorgemacht, als er sein Buch "Der große Entwurf" vor allem über die (theologisch und philosophisch fast rührend naive) Aussage vermarktete, es habe keinen Schöpfergott gebraucht - schließlich könnten allein die Naturgesetze erklären, wie das Universum entstanden sei.

So steckt wohl immer, wenn das "Gottesteilchen" bemüht wird, auch ein bisschen die Hoffnung dahinter, die Transzendenz mithilfe wissenschaftlicher Rationalität in den Griff zu kriegen. Eine vergebliche Hoffnung freilich, denn über Sinn und Ziel des Kosmos, über das Woher der Naturgesetze und die vielen existenziellen Warum-Fragen unseres Lebens wird die Physik keine Auskunft geben - Higgs-Boson, Neue Physik und "more data" hin oder her.

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