Gegen die Kraftlosigkeit

Das Zelt ist offen. Draußen sieht man Büsche und Steine. Zwei Beine liegen ausgestreckt im Zelt mit dem Füßen draußen auf dem Boden.
Leonie Mihm
Leonie streckt die Füße aus dem Zelt.
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Gegen die Kraftlosigkeit
Leonie kommt auf ihrer Reise an ihre Grenzen. Spanien ist wunderschön, aber der Winter macht es manchmal schwierig. Im aktuellen Blog beschreibt sie, wie sie mit ihrer Kraftlosigkeit umgeht.

Ich liege im Zelt. Die äußere Plane schlägt immer wieder gegen die andere. Die Sturmböen sind normal geworden tags und nachts, aber an die Lautstärke kann ich mich nicht gewöhnen. Jede Nacht liege ich wach und höre dem Wind zu. Er kommt aus der Ferne. Kämpft sich laut und tosend durch Olivenhaine und Korkeichenblätter und gelangt schließlich zu unserem kleinen Lager. Unaufhörlich, unregelmäßig und laut. Manchmal bringt er Regen, manchmal bringt er so kleine Sand- und Staubkörner, dass sie sogar durch die Zeltplane gelangen und ich hustend und mit trockenen Augen aufwache. Ich streiche die Staubschicht von meinem Handydisplay. 2:55 Uhr. Ich möchte ihn verfluchen, diesen Wind. Er raubt mir den Schlaf und die Kraft. Am Anfang hatte ich Angst, dass das Zelt die Naturgewalten nicht aushält und habe mit klopfendem Herzen die nächste Böe abgewartet. Aber die Furcht ist nach und nach der Genervtheit gewichen und dem Verlangen nach Ruhe. 

Der Wind schränkt uns mehr ein als die Kälte, vor der wir aus Katalonien nach Valencia entflohen sind. Denn bei Wind kann ich Handschuhe anziehen, bei Sturm und Sand kann ich mich auf dem Beifahrersitz verkriechen oder im Schlafsack verstecken. Die Schlafsäcke waren mal blau und rot. Jetzt sind sie beige - von der Staubschicht. Ich bin müde. Wer hätte gedacht, dass Zelten doch so anstrengend sein kann?

Die Küstenlandschaft von Katalonien.

Ich will ehrlich sein, wir waren jetzt schon mehr als einmal kurz davor, umzukehren und einfach 20 Stunden lang durchzufahren, um wieder auf einem Sofa liegen zu können, dass nicht in einer Ferienunterkunft steht. Alles wird jeden Tag anstrengender. Wo werde ich heute Nacht schlafen? Wo bekommen wir sauberes Wasser her? Was machen wir, wenn uns wieder aggressive Hunde entgegen rennen? Wo bekomme ich Kraft her, wenn ich nicht mal mehr durchschlafen kann? Warum tun wir uns das alles überhaupt an? Wenn wir nicht dazu kommen, die Natur zu genießen, weil wir alle Zeit, die wir haben, dafür brauchen, um uns von ihr zu erholen? 

Das Dorf Siurana vor einer Felsenlandschaft.

Aber wir haben uns entschieden weiterzumachen. Nicht nur weil wir drei Monate auf diese Reise hingearbeitet und gewartet haben, sondern auch weil es sich am Ende dann doch lohnt. Ich merke jeden Tag aufs Neue, dass ich wirklich am Leben bin. Aber wir lernen auch: Es muss langsamer und ruhiger gehen. Es braucht Tage, an denen einfach nichts passiert. Tage ohne Wanderung, Klettern, Stadterkundung und Strandbesuche. Tage ohne Wäsche waschen, Einkaufen und komplexe Rezepte. Es fühlt sich komisch an, für solche Tage mehr Platz einzuräumen. Schließlich haben wir das auch nicht gebraucht, als wir noch nicht mit Auto und Zelt unterwegs waren, sondern mit unserem VW-Bus. Zu Beginn der Reise habe ich geschmunzelt über die Rentner:innen auf den Campingplätzen an der Küste, die im Süden überwintern. Da sind diese Menschen so nah an Meer und Bergen und alles, was sie machen, ist vor ihrem Wohnmobil zu sitzen und sich von der Sonne bescheinen zu lassen. Aber jetzt kann ich es so sehr nachfühlen. Nur dass ich hier kein Wohnmobil habe, in das ich mich verkrümeln kann. 

Erneut erkenne ich, dass mein Hochmut und meine Wertungen mir das verwehrt haben, was ich jetzt selbst schmerzhaft lernen muss. Anstatt mich über die sonnenbadenden Rentner:innen zu erheben, hätte ich auch gleich von ihnen lernen können. Denn sie sind viel näher an Gottes Weisheit dran gewesen als ich mit meinem Durst nach Erleben, Minimalismus und Arbeiten und das alles gleichzeitig. Ich habe meinen persönlichen Sonntag vergessen. Meine Pause. Meine Ruhe. 

Ich liege in der blauen Hängematte. Der Stoff flattert im starken Wind. Die Sturmböen sind normal geworden tags und nachts. Ich hänge zwischen Olivenbäumen und höre dem Wind zu. Er kommt aus der Ferne. Kämpft sich laut und tosend durch Olivenhaine und Korkeichenblätter und gelangt schließlich zu unserem kleinen Lager. Unaufhörlich, unregelmäßig und laut. Manchmal bringt er Regen, manchmal bringt er kleine Sand- und Staubkörner, aber ich genieße das kühle Säuseln an meinen Füßen. Ich blättere die nächste Seite von meinem Buch um. Ich danke dem Wind für das leichte Schaukeln. Ich merke, dass er mich gar nicht mehr nervt, der Wind. Ich habe auch keine Angst mehr, dass das Zelt und Hängematte von ihm zerrissen werden. Ich konnte mein Verlangen nach Ruhe stillen. Sogar mit Wind. Auch wenn er uns manchmal einschränkt, weiß ich jetzt, dass es nicht der Wind ist, der mir alle Kraft raubt. Es ist mein Verlangen nach meinem inneren Sonntag. Ich brauche ihn, so wie der trockene, sandige Boden um mich herum den Regen braucht. Ich brauche mich nicht im Zelt verstecken, bis er vorbei ist. Ich muss nicht mehr schlafen, um nicht mehr müde zu sein. Ich muss meine Ruhe suchen und finden. Ich brauche Pausen. 

Wer hätte gedacht, dass Zelten doch so anstrengend sein kann?

Leonie steht an einer Klippe.

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