Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,
es ist 2017, deswegen können sich viele Menschen vor lauter Thesen kaum zurückhalten. Das ging offensichtlich auch Innenminister Thomas de Maizière so, der mit seinen zehn Thesen zur Leitkultur in der "Bild am Sonntag" für viel Aufsehen und Kritik gesorgt hat. (Eine Zusammenfassung der de Maizières Thesen finden Sie hier, der originale Gastbeitrag ist ein kostenpflichtiger "Bild plus"-Inhalt hier.)
Für seine Thesen hat er ziemlich viel Widerspruch bekommen, aber auch Zuspruch. Das ist immer so, wenn jemand "Leitkultur!" ruft. Denn den Begriff füllt jeder mit seinen eigenen Wünschen zur Integration. Zur Frage "wie wollen wir in Deutschland zusammenleben?" hat jede*r eine Meinung, und die Diskussion um eine Leitkultur bringt diese Meinungen dann zum Vorschein.
Die beiden Positionen werden ganz gut zusammengefasst von den Denkern Ruud Koopmans und Jürgen Habermas. Koopmans argumentiert im Interview mit der "Welt" nationalistisch: "Nationen mit einer langen Geschichte, die ihre gemeinsame Kultur und Identität haben, und die meisten Leute wollen diese Kulturen auch bewahren". Habermas schreibt in der Rheinischen Post dagegen von einer "allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur" und dem "Einleben" von eingewanderten Staatsbürgern in diese politische Kultur, die sich dadurch auf der Basis des Grundgesetzes "fort- und umbildet".
Ein Problem an de Maizières zehn Thesen ist, dass er unter dem Begriff "Kultur" ganz unterschiedliche Dinge vermischt. Geschichtsbewusstsein, Bildung und Identität stehen da ebenso drin wie konkrete Anweisungen für soziales Verhalten (Hände schütteln). Das hat mit Leitkultur aber nichts zu tun. Identität als Bürger eines Landes, einer Gesellschaft - und darum geht es hier - formt sich nicht über das Befolgen eines 10-Punkte-Plans zu Leitkultur. Staatsbürgerliche Identität kann man nicht verordnen. Sie braucht Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie sich entwickeln kann. Das ist der eigentliche Gedanke hinter der Leitkultur.
Die Idee einer Leitkultur steht damit gegen das Konzept eines identitätslosen Multikulturalismus, in dem parallele Kulturen nebeneinander existieren, ohne sich zu vermischen, und gleichzeitig gegen eine Politik der nationalen Abschottung, in der Integration nur durch völlige Assimilation möglich wäre. Der Politologe Bassam Tibi hat den Kerngedanken in seinem Buch "Europa ohne Identität" von 1998 so formuliert:
"In einer kulturell vielfältigen Gesellschaft leben Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in einem durch Leitkultur verbundenen Gemeinwesen zusammen. Im Modell einer Multi-Kulti-Gesellschaft gibt es dagegen keine verbindlichen Werte einer Leitkultur, sondern eine Zusammenballung von nebeneinander lebenden Menschen, also faktisch eine Ansammlung von ethnischen Ghettos. Ein solches Europa wäre Werte-neutrales "Wohngebiet", ohne eigene Identität. [...] Kulturelle Vielfalt darf aber nicht bedeuten, dass Gemeinschaften ausschließlich ihre partikularen Werte behalten. Sie erfordert gemeinsame Grundwerte. In Europa muss die kulturelle Moderne die Quelle dieses benötigten Konsenses sein." (Bassam Tibi: Europa ohne Identität?, C. Bertelsmann 1998)
(Und wie immer ergänze ich an dieser Stelle: Für die Verhandlung dieses Konsenses braucht es ausreichend gute Sprachkenntnisse, die ein Grundpfeiler für gelingende Integration sind.)
De Maizières zehn Thesen lesen sich aber nicht wie eine Vorstellung der Leitkultur als Grundlage für kulturelle Vielfalt, sondern wie eine schablonenhafte Checkliste des Deutsch-Seins. Leitkultur wird heute leider viel zu wenig im Sinne Bassam Tibis gebraucht, sondern im Sinne konservativ-nationalistischer Stimmen, die darunter eine Assimilationsvorlage verstehen und keine Grundlage für Vielfalt.
Um genau das zu vermeiden, nämlich eine partikulare ideologische Schablone über Integration zu stülpen, hat die Initiative Kulturelle Integration das Wort Leitkultur immer vermieden. Thomas de Maizère gehörte zu den Unterstützern der ersten Stunde für diese gesamtgesellschaftlich angelegte Initiative. Sein jetzt aufgeschriebener Zehn-Punkte-Plan ist dagegen - wie EKD-Kulturbeauftragter Johann Hinrich Claussen feststellte - reine Wahlkampftaktik. Das führt dazu, dass die Diskussion über Leitkultur wieder im reflexartigen rechts/links-Schema geführt wird. Dabei ist in der Mitte viel Platz für diese Diskussion. Zehn-Punkte-Pläne lassen nur leider zu wenig Platz für Unschärfen. Ohne die geht das mit der Leitkultur aber nicht.
Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!
Wenn Sie Fragen zu evangelisch.de oder unseren Themen haben, sind die Redaktion und ich auf vielen verschiedenen Kanälen erreichbar:
- unter diesem Blogeintrag in der Kommentarfunktion
- evangelisch.de auf Twitter als @evangelisch_de und auf Instagram als evangelisch.de
- ich selbst auf Twitter unter @dailybug
- evangelisch.de auf Facebook
Alle Fragen zu Kirche und Glauben beantwortet Ihnen unser Pastor Frank Muchlinsky auf fragen.evangelisch.de.
Ich werfe immer am Samstag an dieser Stelle einen Blick auf die vergangene Woche und beantworte außerdem Ihre Fragen zu evangelisch.de, so gut ich kann. Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!