Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,
seit drei Tagen bin ich wieder in Deutschland, zurück aus einem Land, dass sich über seine Einwanderungsgeschichte definiert - den USA. Das Einwanderungsthema hat mich aber hier direkt wieder in Empfang genommen. Kanzlerin Angela Merkel hat sich bei Anne Will als Politikerin profiliert, die Menschlichkeit und christliche Nächstenliebe über das reine Wahl-Kalkül stellt. Das ist bei vielen Menschen gut angekommen, bei vielen Medien noch viel mehr - so sehr, dass Spiegel Online und focus.de auf ihren Startseiten am Donnerstag morgen fast kein anderes Thema mehr kannten. Ja, Angela Merkel sollte sogar angeblich für den Friedensnobelpreis nominiert werden. (Das wurde dann aber doch nichts, weil sich das Nobelpreis-Komitee rechtzeitig an den Friedensnobelpreis für Barack Obama erinnert hat.)
Auch ohne Nobelpreis hat die Kanzlerin gleich als ersten Satz bei Anne Will klare Worte gesprochen: "Wir schaffen das." Prägnant und zukunftsweisend, ein Satz, mit dem sie 2016 sogar in den Wahlkampf gehen könnte. Und eine wohltuende Aussage inmitten der Diskussion um Flüchtlinge und alles, was damit zusammenhängt.
Man muss daran erinnern, dass die Kanzlerin qua Beruf die Leitlinien der deutschen Politik festlegt. Mit ihrem klaren "Wir schaffen das" legt die Kanzlerin eine solche Leitlinie vor, die zwar bei Innenminister Thomas de Maiziere und CSU-Chef Horst Seehofer nicht gerade auf Begeisterung stößt, aber deutlich macht: Wir gehen das Problem nicht pessimistisch an.
Aus diesem starken Satz ergeben sich aber zwei weitere Fragen: Was wollen wir eigentlich schaffen? Die Kanzlerin bietet bei Anne Will folgende Antworten auf diese außergewöhnliche Herausforderung an: Hundertausende Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen, Flüchtlinge besser in Europa verteilen, die Ursachen der Flucht bekämpfen.
Und wer ist eigentlich "wir"? Angela Merkel sagt bei Anne Will ganz oft "ich". "Ich mag mein Land, Millionen von anderen mögen dieses Land", sagt sie. "Ich muss in Europa arbeiten", sagt sie. "Ich habe einen Plan, aber der hängt nicht von mir alleine ab", sagt sie. Und was sie damit sehr deutlich macht, ist: Jede und jeder Einzelne muss selbst entscheiden, was er oder sie dazu beitragen kann, dass Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland zunächst einmal versorgt und untergebracht werden - und in den nächsten Jahren hier so integriert werden können, dass sie wie alle anderen Menschen auch eine faire Chance und notfalls angemessene Unterstützung bekommen.
Das ist eine zutiefst christliche Sicht auf die Flüchtlingskrise: Wer Hilfebraucht, soll sie bekommen. Bedingungslos. Angela Merkel gibt dem "C" in "CDU" damit wieder ein Gesicht.
Die Diskussion steht aber erst ganz am Anfang, wie wir alle in Deutschland zukünftig Gesellschaft gestalten wollen. Dazu sind mir dank Twitter und Facebook in den paar Tagen, die ich schon wieder im Lande bin, zwei Beiträge aufgefallen (beides sind Leseempfehlungen): Zum einen die Kolumne von Bundesrichter Thomas Fischer auf Zeit Online. Fischer schreibt:
"Das Problem ist die Definition dessen, was wir als "Grenze" und "Belastbarkeit" ansehen. Die Grenze wird offenbar da gezogen, wo unser eigenes Alltagsleben tangiert ist. Also: Flüchtlinge so lange, bis ich mich einschränken muss. Was für eine erbärmliche Definition des "Möglichen", was für eine peinliche Vision! Die "Belastbarkeit" Deutschlands (und zahlloser anderer Länder) ist um ein Vielfaches größer."
Die Gegenposition vertritt Jörg Baberowski im Schweizer Tagesanzeiger:
Ich glaube, dass Deutschland daran zerbrechen wird. Zumindest werden uns soziale Konflikte ins Haus stehen, von denen wir jetzt noch nichts ahnen, weil die Folgen erst in einigen Jahren zu besichtigen sein werden.
Baberowski zieht in dem Interview ebenfalls den Vergleich mit den USA, der mir auch im Kopf rumspukt. Dort identifizieren sich die Einwanderer - wenn sie denn anerkannt sind - positiv mit dem Land. Deutschland dagegen mache Angebote, verlange aber nichts von den Menschen, die neuerdings hier leben, meint Baberowski.
Ich glaube, Angela Merkel hat Recht, wenn sie sagt: Wir schaffen das. Sie hat auch Recht, wenn sie sagt: Der Zuzug von so vielen Menschen ist unsere größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung. Welche Folgen das auf uns alle hat, wenn mehrere Hunderttausend Neubürger aus anderen Kulturkreisen in Deutschland wohnen, wird sich noch zeigen. (Übrgens: Ja, das sind alles Neubürger, auch wenn sie nicht wählen dürfen und manchen eine Abschiebung droht - sie wohnen schließlich in Deutschland.) Baberowskis große Skepsis teile ich nicht, aber in einem einzigen Punkt stimme ich ihm zu: Wir dürfen von unseren Neubürgern durchaus etwas verlangen. Ich sehe da zwei Dinge: dass sie die hier geltenden Regeln von Nächstenliebe und Respekt beachten, und dass sie Deutsch lernen. Letzteres ist erheblich schwieriger als ersteres, also brauchen sie dabei Hilfe. Deutsch ist keine leichte Sprache. Aber es ist der erste Schritt zur Einbürgerung.
Was wir schaffen müssen, ist, dass sich diese Neubürger sich nicht jahrzehntelang als Fremde fühlen. Angela Merkel hat die Leitlinien dafür gelegt. Diesen Weg können wir mit ihr gemeinsam gehen.
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