Mit der Frage nach Vision, Strategie und Zielen letzte Woche habe ich offensichtlich einen Nerv getroffen. Aber auch, weil ich natürlich die Frage direkt auf Pfarrer*innen gemünzt habe. Denn sie sind mit Herz und Seele dabei und wehren sich gegen die Unterstellung, sie würden ziellos arbeiten – oft zu Recht. Sich selbst Ziele zu setzen und sie dann auch zu erreichen, die eigene Arbeit zu reflektieren und zu fragen: "Was kann ich besser machen?" gehört zum Repertoire der meisten Seelsorgerinnen. Zumal Seelsorge ein Bereich ist, in dem ich auch keine quantifizierbaren Ziele setzen würde. Dafür könnte beispielsweise ein Ziel in der Arbeitsorganisation gefasst werden: Wer merkt, dass Menschen in der eigenen Gemeinde von mehr regelmäßigen Ansprechzeiten profitieren könnten, kann sich das Ziel setzen, eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort nur dafür zur Verfügung zu stellen.
Meistens gehen solche Entscheidungen dann auf Kosten anderer Dinge. Das ist auch völlig in Ordnung, obwohl es Menschen oft schwerfällt, andere Tätigkeiten oder Aufgaben tatsächlich zu lassen. Alles, was wir in der Kirche tun, ist irgendjemandem lieb und teuer. Das allein sollte aber nicht den Ausschlag geben, ob wir es weiter tun. Wenn es um knappe Ressourcen geht, sollte die Leitfrage sein: Hilft mir das, meine Ziele zu erreichen? Aber auch: Hilft uns das, unsere Ziele zu erreichen?
Dieses "uns" kam letztes Mal ein bisschen kurz. Denn natürlich kann sich jede und jeder persönliche Ziele setzen, und auch einzelne Gemeinden überlegen sich, gezielter vorzugehen. Aber das hat Grenzen. "Bürogratia" hat unter dem Einstiegsbeitrag zu Zielen mit einem gutem Beispiel dafür kommentiert:
"Wie unsinnig die schon vorhandene Messwut der Kirche an dieser Stelle ist, kann ich am Beispiel unserer Gottesdienstbesucher-Statistik festmachen und den berühmten Zählsonntagen: 1. Advent, Heiligabend, Invocavit, Kantate und Ewigkeitssonntag. Mein Mentor im Vikariat und sein Presbyterium setzten sich jedes Jahr das Ziel, die Gottesdienstbesucher-Zahlen vom letzten Jahr im neuen Jahr um 5 % zu steigern. Man fing mit Familiengottesdiensten an, erweiterte auf Gemeindefeste, Konzerte lokaler Chöre und Theatergottesdienste, lud irgendwann prominente Gastprediger und Gastmusiker ein, musste an den Zählsonntagen gar in Festzelte oder Sporthallen ausweichen, denn in der Tat: die Besucherzahlen bei den Gottesdiensten mit Aktion/Promi stiegen immer höher. Auch aus Nachbargemeinden und Kirchenkreisen strömten Menschen herbei, sogar Kirchenfremde. Die Zahl der teilnehmenden Gemeindeglieder aber blieb konstant, ging über die Jahre im normalen Maß zurück. In den Nachbargemeinden dagegen ging die Zahl der teilnehmenden dortigen Gemeindeglieder sehr viel stärker zurück, weil die Angebote meiner Vikariatsgemeinde ja sehr viel interessanter waren."
Eine "Messwut" sehe ich wirklich nicht in der evangelischen Kirche, aber das Beispiel zeigt exemplarisch auf, wieso Ziele im Kontext der Gesamtorganisation stehen müssen. Es bringt nämlich netto nichts, wenn eine Gemeinde bessere Gottesdienste als die andere macht und deshalb die Menschen von der einen in die andere Gemeinde wandern. Ja, die Menschen erleben (offenbar) bessere Gottesdienste, das ist auch gut. Das explizite Ziel, die Zahl der Gottesdienstbesucher an den Zählsonntagen insgesamt zu erhöhen, wird dadurch aber mit Blick auf den ganzen Kirchenkreis eben nicht erreicht. Das muss auf der Kirchenkreisebene aber auch erkannt werden und alle Gemeinden im Einzugskreis sollten gemeinsam überlegen: Wer macht was dafür? Wer macht Gottesdienst für welche Zielgruppe? Welche Konzepte sind übertragbar, welche nicht?
Wenn ich mir selbst Ziele setze und sie selbst evaluiere, lerne nur ich davon. Das hilft der Gesamtorganisation aber nicht. Wenn alle Gemeinden nur unabhängig voneinander vor sich hin arbeiten, bräuchten wir die Kirchenkreise und Landeskirchen nicht mehr. Sie sind aber genau dafür da, ortsübergreifende Entwicklungen und Verwaltungsleistungen so zu erledigen, so dass die Pfarrer*innen in den Gemeinden sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können: Kasualien, Verkündigung, Seelsorge. Hier sind die Oberkirchenräte gefragt, die Landeskirchenämter, die Verwaltungsstrukturen, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen und die Ziele ihrer eigenen Arbeit auf den Prüfstand zu stellen. Und dann auch zu entscheiden, welche Sachen nicht mehr nötig sind, wenn sie den übergreifenden Zielen nicht dienen.
Evaluieren und priorisieren kostet auch Zeit und Arbeit, die anderswo fehlt und auf den ersten Blick unsinnig und konfliktbeladen erscheint. Aber auf lange Sicht macht das Sinn, um die Kirche als Ganze nicht ins Leere laufen zu lassen.
Wie die Kirche in Sachen Digitalisierung nicht ins Leere laufen könnte, können wir uns übrigens gerade alle gemeinsam überlegen. Aus einer Twitter-Frage https://twitter.com/reledu_media/status/1157182560818122752 zum Thema "EKD-Papiere über Digitalisierung" entstand zum einen der Hinweis, dass die Kammer für Soziale Ordnung der EKD an einem solchen Grundsatzpapier gerade arbeitet. Zum anderen aber entsprang aus dem Thread ein Etherpad, in dem kollektiv und kollaborativ ein solches Papier entstehen kann, crowdgesourct und offen für alle. Hier ist das offene Dokument mit dem vorläufigen Titel "Kirchliches Handeln angesichts der Digitalisierung. Positionen und Perspektiven" - wenn ihr gute Ideen habt, schreibt mit!
Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!