Kein Großereignis ist sicher vor Fehlinformationen und Verschwörungstheorien. Das gilt auch für den Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Wenig überraschend spekulierten Rechtsradikale direkt über Brandstiftung gegen ein Symbol der Christenheit, obowhl es dafür gar keine Belege gibt. Ockahms Rasiermesser verliert zunehmend an Schärfe. Außerdem fand am Abend des Brandes der Twitteraccount @CathedraleNotre rasenden Zuspruch: Am Dienstagmorgen hatte er mehr als 14.000 Follower, am Montagnachmittag waren es nur wenige Dutzend gewesen. Den zu verlinken, lohnt sich aber nicht, weil der Account nach etwa einem Tag direkt gesperrt wurde. Denn der/die Menschen dahinter twitterten nichts anderes als Fotos vom Kathedralen-Brand, die sie irgendwo anders klauten, meistens bei der Nachrichtenagentur AFP.
Wer aber auf Twitter nach "Notre Dame" suchte und Live-Berichte von der Katastrophe finden wollte, bekam diesen Account direkt angeboten. Für etwa vier Stunden war er die beste Quelle für gesammelte Bilder des Kathedralenbrandes. Und ohne weitere Recherche war auch nicht erkennbar, ob es eine Originalquelle oder eine Kopie war. Der Twitter-Account der AFP, der die Bilder postete, war unter dem Suchwort nicht schnell auffindbar, und der eigentlich offizielle Kanal der Kathedrale Notre-Dame (@notredameparis) hat bis heute kein Wort und kein Bild über den Großbrand abgesetzt. Die Suche wurde dadurch zusätzlich erschwert, dass die Universität Notre Dame in Indiana, USA, für alle ihre Aktivitäten eine Vielzahl an Twitteraccounts betreibt, die sämtlich besser auffindbar sind als der Account der Kathedrale in Paris.
Auch ich hatte den inzwischen gesperrten Account zwischenzeitlich retweetet, bevor ich zu den AFP-Kanälen gewechselt bin, weil es der Account war, der in meiner Timeline die aktuellsten und besten Bilder zu dem Brand lieferte. Die Lehren daraus? Als Verwalter, Besitzer oder Kurator einer Marke, Organisation oder Sehenswürdigkeit muss ich selbst auf alle aktuellen Ereignisse reagieren und berichten, wenn ich nicht will, dass andere diese Aufmerksamkeit auf sich ziehen und viellleicht sogar monetarisieren. Eine Nachrichtenagentur sollte nie Bilder ohne Wasserzeichen twittern oder facebooken, damit im Inhalt selbst erkennbar ist, wo das Bild herkommt. So lässt sich eine Quelle auch dann nachvollziehen, wenn die Inhalte in Sekundenschnelle rekontextualisiert werden. (Das gilt übrigens auch für Video-Snippets.)
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Und die Uploadfilder, die die Folge des nun beschlossenen EU-Urheberrechts sind, hätten hier vermutlich massive Probleme verursacht. Denn wer ein Bild in solchen Situationen zuerst auf einer Plattform hat, bekommt erstmal Recht, weil das das Referenzmaterial für die Filter ist. Konkret: Wenn jemand AFP-Fotos aus automatisierten Meldungskanälen zieht und sie twittert, bevor AFP oder andere Medien es tun, verhindert er damit vermutlich auch die Verbreitung durch den eigentlichen Urheber. Eine Nachrichtenagentur lebt aber von der Aktualität ihrer Inhalte, die sie in solchen Sondersituationen besonders auf Twitter & Facebook demonstrieren kann und will. In Echtzeitsituationen wie dem Kathedralenbrand ist das Urheberrecht mit seinen langwierigen Klärungsprozessen der tatsächlichen Urheberschaft ein schlechtes Instrument.
Besser wäre in Sachen Urheberrechtsreform eine Umkehr des Urheberrechtes gewesen, nämlich zum expliziten Meldesystem: Urheberrechtlich geschützt wäre dann nur, was Urheber bei einer zentralen Stelle als solches anmelden. (Vielleicht könnte das eine sinnvolle Anwendung für Blockchain sein.) Auch das hat Missbrauchspotential, ließe aber grundsätzlich Freiräume statt eine prinzipielle Einschränkung an den Anfang zu setzen wie die jüngst beschlossenen Regelungen. Es ist ja auch ein Urheberrecht, keine Urheberpflicht.
Welche Probleme automatisierte Systeme mit solchen Ereignissen haben können, hat YouTube beim Notre-Dame-Brand eindrücklich demonstriert. YouTube hat in den USA ein automatisiertes Fact-Checking-System, das dafür sorgen soll, unter Videos mit Verschwörungstheorien eine verifizierte Information zum tatsächlichen Geschehen anzuzeigen. So etwas wird unter anderem unter den Lügen von Impfgegnern und unter 9/11-Videos angezeigt. Weil die Bilder der brennenden Kathedrale offenbar den rauchenden Twin Towers sehr ähnlich waren, hat YouTube den 9/11-Hinweis auch unter den Nachrichtenvideos zum Notre-Dame-Brand eingeblendet (Beispiele bei Buzzfeed).
YouTube und Facebook besser verstehen
Dabei hatte YouTube gerade noch für positive Nachrichten gesorgt, weil die Videoplattform ebenso wie Facebook aktiver gegen weißen Nationalismus vorgehen will (Buzzfeed zu YouTube, Gizmodo zu Facebook). Facebook insbesondere hatte bisher zwischen "white nationalism" (als kein Problem) und "white separatism" (als ein Problem) unterschieden. Da will die Plattform jetzt strenger sein.
Das ist aber auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wie die riesigen Plattformen mit Inhalten umgehen, die aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarungen problematisch sind. Sie treffen Entscheidungen vor allem auf der Basis wirtschaftlicher Kennzahlen und sind eigentlich herausgefordert, Entscheidungen über Inhalte auf moralischer Basis zu treffen.
Dazu sind in der vergangenen Woche zwei wichtige, einsichtsvolle Artikel (beide auf englisch) erschienen, die ich jedem ans Herz legen möchte, der die großen Plattformen besser verstehen will.
In der New York Times ist ein Porträt über Susan Wojcicki erschienen, CEO von YouTube. Der Text zeigt deutlich, dass auch das Top-Team bei YouTube vor allem handelt, um Werbekunden zufrieden zu stellen. Ein inhaltliches Ziel verfolgen sie mit YouTube nicht, aber aufgrund der jüngsten Probleme haben sie immerhin erkannt, das die reine Zuschau-Dauer der YouTube-Nutzer*innen als Maßstab nicht ausreicht. "Responsible growth", verantwortungsvolles Wachstum, heißt Wojcickis neues Ziel. Der wichtigste Satz in dem Artikel kommt von Wojcicki selbst: "I own this problem."
Die Wired befasst sich ausführlich mit Mark Zuckerbergs Plan, im Jahr 2018 Facebook zu "fixen". Es ist die Zeit rund um das Bekanntwerden der größten Facebook-Probleme der jüngsten Zeit: der Cambridge-Analytica-Skandal, russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf, der UN-Bericht über Facebooks Rolle beim Völkermord gegen Rohingya in Myanmar, Zuckerbergs Kongressanhörung und der Kündigung der Instagram-Gründer Kevin Systrom und Mike Krieger. Das Bild, das Facebook abgibt, ist das einer Firma, die sämtliche politischen und sozialen Folgen ihres Handelns völlig falsch einschätzt und eher hilflos als souverän mit der eigenen Macht und Reichweite umgeht und auch noch keine Ahnung hat, was eigentlich Journalismus ist.
Währenddessen wünscht man sich, von Jack Dorsey für Twitter auch einmal den Satz "I own this problem" zu hören. Stattdessen macht er mit Hungerdiäten von sich reden.
Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!