Pflegedienst blickt auf Sexualität im Alter

Sich begehrendes Seniorenpaar
Getty Images/iStockphoto/KatarzynaBialasiewicz
Sexualität bleibt ein menschliches Grundbedürfnis, auch im Alter. In der Pflege muss man damit gut umgehen.
Tabu abbauen
Pflegedienst blickt auf Sexualität im Alter
Vor einem Jahr startete in Bremen ein ambulanter Pflegedienst, der mit seinem Schwerpunkt auf Sexualität und geschlechtlicher Diversität im Alter bundesweit einzigartig ist. Jetzt ziehen die Inhaberinnen eine erste Bilanz.

Schon an dem Plakat, das im Flur gleich hinter der Eingangstür hängt, ist zu sehen: Das ist ein besonderer Dienst. "If you're racist, sexist, homophobic or an asshole - don't come in", ist da zu lesen. Ein klares Statement, das die Geschäftsführerinnen Hannah und Judith Burgmeier ein paar Schritte weiter im Sozialraum mit einem großen Banner unterstreichen: "Vielfalt gemeinsam neu erleben". Das passt zu dem ambulanten Pflegedienst, der von hier aus mit Blick auf das Grün in den Bremer Wallanlagen geleitet wird. "vielfältig." heißt das Unternehmen, das vor einem Jahr gegründet wurde. Mit dem Zusatz: "Pflege in allen Facetten".

"Wir sind Deutschlands erster ambulanter Pflegedienst mit dem Schwerpunkt auf Sexualität und geschlechtlicher Vielfalt im Alter", sagt Hannah Burgmeier (30), die das Start-up mit ihrer Ehepartnerin Judith (38) ins Leben gerufen hat. Man muss dazu sagen: Es ist bisher der bundesweit einzige Dienst mit diesem Konzept. Und das, obwohl Sexualität und sexuelles Wohlbefinden für die meisten Menschen ein elementares Grundbedürfnis sind. "Das gilt auch für den Alltag in der Pflege", betont Judith Burgmeier und ergänzt: "Dennoch ist es ein Tabu, über das nicht gesprochen wird."

Besonders betroffen sind queere Menschen, die in ihrem Leben vielfach Verfolgung und eine teils dramatische Diskriminierungsgeschichte erleben mussten und ihre Identität deshalb lange versteckt haben. Die Aids-Krise befeuerte eine Stigmatisierung. Und erst 1994 endete mit der Streichung des Paragraphen 175 die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen in Deutschland. Was aber nicht bedeutet, dass sie heute automatisch akzeptiert sind.

Deshalb seien viele queere Lebensläufe von Angst geprägt, sagt Judith Burgmeier. Ihnen falle es schwer, sich einem Pflegedienst anzuvertrauen. "Mit dem Pflegebedarf im Alter haben sie mit einem Gesundheitswesen zu tun, das Heterosexualität und Monogamie noch immer als Norm sieht", sagt ihre Partnerin Hannah Burgmeier. "Da gibt es viel Scham, Unsicherheiten und Unwissen."

Judith (li.) und Hannah Burgmeier (re.) sind Inhaberinnen des Pflegedienstes "vielfältig."

Um dem zu begegnen, haben die beiden Frauen "vielfältig." gegründet. Sie sind überzeugt: Sexuelle Bedürfnisse kennen kein Alter. Und Sexualität ist eine gesundheitsfördernde und lebensverlängernde Ressource.

Es beginnt beim Gespräch

"Eine versteckte Identität hingegen hat noch nie gesund gemacht", betont Judith Burgmeier, gelernte Altenpflegerin, die Pflegewissenschaft und Pflegemanagement studiert hat. Hannah Burgmeier ist Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, darüber hinaus Gesundheits- und Pflegepädagogin sowie Sexualwissenschaftlerin. Gemeinsam erleben sie, dass vor allem mit Blick auf ältere pflegebedürftige Menschen Sexualität überwiegend im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen oder sexualisierter Gewalt gesehen wird und damit ein negatives Thema ist.

Bei "vielfältig." gehen sie einen grundsätzlich anderen Weg, für den auch ihr Logo steht. Es erinnert an tanzende X- und Y-Chromosomen oder an ein Gendersternchen. Dieser andere Weg beginnt in der Kommunikation und da bereits im Aufnahmegespräch.

Professionalität ist gefragt

"Wir stellen Fragen, auf die es keine direkte Antwort geben muss. Doch gerade in einem so intimen Bereich wie der Pflege, die besonders verletzlich macht, ist es wichtig, dass es einen Raum gibt, in dem offen über Bedürfnisse gesprochen werden kann", bekräftigt Hannah Burgmeier. "Wenn wir wissen, was die Menschen brauchen, können wir sie mit unserem Team auch gut versorgen." So könne beispielsweise über Sextoys oder Sexualassistentinnen und -assistenten gesprochen werden. "Wir haben eine Liste, die wir weitergeben".

Und in der Praxis führt das Thema weiter. Wie beispielsweise wird ein geformter Penis nach einer geschlechtsangleichenden Operation richtig versorgt? Wie reagieren, wenn ein Mann morgens bei der Körperpflege einen erigierten Penis bekommt und sich selbst befriedigt? Oder wie umgehen mit einer demenzkranken Frau, deren Libido durch Medikamente verstärkt wurde? "Da ist Professionalität gefragt", sagt Hannah Burgmeier.

Angebote zur Weiterbildung

Doch darauf und insbesondere auf die sexuelle Diversität in der Gesellschaft sei die Pflege nicht vorbereitet, ergänzt die Sexualwissenschaftlerin und spricht mit Blick auf die Zahlen von einer Versorgungslücke: "Etwa zehn Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft leben in einer queeren Lebensrealität." Laut Bundesfamilienministerium gibt es etwa eine Million Menschen, die über 65 Jahre alt sind und sich als LSBTIQ+ identifizieren. Sie hätten oft keine Kinder und kaum familiäre Unterstützung. Deshalb seien sie auf die professionelle Altenhilfe angewiesen.

Um vor diesem Hintergrund die Basis für eine "sexualfreundliche Pflegekultur" zu erhöhen, bieten Hannah und Judith Burgmeier bundesweit Seminare, Workshops und Vorträge für das Gesundheitswesen an. Außerdem gibt es bei "vielfältig." eine individuelle Paar-, Beziehungs- und Sexualberatung. Der Dienst sei noch immer in der Startphase, sagt Hannah Burgmeier. Doch das Risiko der Selbstständigkeit habe sich gelohnt. "Wir versorgen seit einem guten halben Jahr, haben tolle Pflegefachpersonen gefunden und würden immer wieder Ja zu unserer Gründung sagen."