Irgendwas Reales ist immer

Irgendwas Reales ist immer
Die Wirkung von Medien ist begrenzt, das weiß nun auch R.T. Erdogan. Zwei diesem kritisch gegenüberstehende, deutschsprachige Websites waren zwischenzeitlich down - Hackerangriffe mit türkischen Wurzeln sollen verantwortlich sein. Eine Meinung in diversen Facetten zum Dortmunder Terror-„Tatort“. Alte Linke teilen sich ein Vokabular mit neuen Rechten. Kai Diekmanns Einstieg ins Taxi-Gewerbe.

Wie Can Dündar kann man das also auch sehen. 

„Das ist ein Pyrrhussieg. Nach all dem Druck, ja, der Unterdrückung, nach diesem unfairen Wahlkampf gegen das Nein-Lager, der Inhaftierung so vieler regierungskritischer Journalisten und mit einer Medienlandschaft, die fast ausschließlich für ein Ja geworben hat, ist die Mehrheit immer noch so winzig – für mich ist das der Anfang vom Ende der Ära Erdogan“,

antwortet der türkische Journalist im deutschen Exil auf die Frage von Daniel-Dylan Böhmer in Springers Welt, ob Recep Tayyip Erdogan trotz des knappen Ausgangs des Referendums zur Verfassungsänderung gestärkt daraus hervorgehe.

Alle und alles kontrolliert und doch nur ganz knapp gewonnen - das allerdings reicht, um in Zukunft besagte Kontrollen noch weiter auszubauen. Bis auf Weiteres scheint auf unabhängige Medien und Journalisten in der Türkei keine Verbesserung zu warten. Für Freunde der Demokratie ist Dündars Lesart aber natürlich erbaulicher. 

Weitere Analysen zum Thema lesen Sie im Politikteil ihres Vertrauens. Aus Medienmediensicht lassen sich daran noch zwei Meldungen aus Berlin und Wien anschließen. 

Auf die Website des Berlin Story Verlages und des Berlin Story Bunkers ist, wie erst am Montag bekannt wurde, in der vergangenen Woche ein massiver, professioneller und zum Teil weiter andauernder Angriff verübt worden. Er erfolgte nach der Unterstützung der Aktion ,Free Deniz’ zugunsten des in türkischer Haft sitzenden Journalisten Deniz Yücel, teilte Verleger Enno Lenze dem Tagesspiegel am Montag mit. Daher lege es nahe, dass der Cyberangriff von türkischer Seite aus begangen wurde“,

meldet der Tagesspiegel

Gestern Nachmittag twitterte aus Österreich die Satire-Seite Die Tagespresse:

###extern|twitter|DieTagespresse/status/853953841993330688###

###extern|twitter|DieTagespresse/status/853971667097464832###

Der Berlin-Story-Verlag veröffentlicht Bücher zur Berliner Geschichte und zieht daraus die Aufgabe, über die Gefahren des Totalitarismus aufzuklären. Dazu nutzt er auch den angesprochenen Berlin-Story-Bunker - eine Ausstellung über das Dritte Reich, untergebracht in einem ehemaligen Luftschutzbunker und ergänzt um einen Nachbau von Adolf Hitlers Arbeitszimmer im Führerbunker, weshalb auch Nicht-Berliner von dem Angebot schon mal gehört haben könnten. Dieses Reenactment wird nämlich nicht nur positiv gesehen. Doch zurück zum Hack. 

Verleger Lenze schreibt auf der mittlerweile wieder erreichbaren Website

„Man kann die Weltlage ignorieren, sich als ,unpolitisch’ verstehen oder sich darauf berufen, dass man unabhängig sein will und sich nicht äußert. Aber davon wird es nicht besser. Daher engagieren wir uns seit langem für demokratische Werte und für unterdrückte Menschen. Ich bin bei Reporter ohne Grenzen, seit den 1990ern im Chaos Computer Club und habe viel Hilfe für Flüchtlinge an der IS-Front geleistet. Das Ironische daran: Wenn der IS auf mich schießt, kann ich inzwischen damit umgehen. Wenn es Morddrohungen gibt, kümmert sich die deutsche Polizei sofort darum – wiederholt und zuverlässig. Wenn aber unsere Internetseiten gekapert oder gelöscht sind, wenn mein Twitter-Account gehackt wird, weiß ich nicht, was ich tun soll, an wen ich mich wenden kann.“

Wenn man die „Der IS schließt auf mich“-Melodramatik abzieht, bleiben ein Hackerangriff auf Free-Deniz-Aktivisten in Deutschland und ein weiterer Beweis, dass die Übertragung geltenden Offline-Rechts aufs Internet noch ein wenig der Nachhilfe bedarf. 

Wie kompliziert der Versuch, den Angriff abzuwehren, war, beschreibt Lenze in seinem Post ausführlich. Zudem legt er dar, weshalb er türkischsprachige Angreifer mit einem Hang zu Erdogan für verantwortlich hält („Bei der Suche nach Dateien, die ganz aktuell erstellt wurden, taucht eine mit diesem Inhalt auf. Der Text ist türkisch. (…) – ,normalerweise werden englischsprachige Programme verwendet’.“)

Bei der ebenfalls attackierten Tagespresse hat man derartige Hinweise bislang nicht vorliegen - Betreiber Fritz Jergitsch sagte gegenüber Futurezone.at, „(w)oher der Angriff genau abstamme, sei noch nicht bekannt“. Doch nach Artikeln wie „,Zeichen für starke Demokratie’: Erdogan freut sich über 116% Wahlbeteiligung bei Referendum“ vermutet man auch hier Erdogan-Fanboys mit wenig Verständnis für freie Meinungsäußerung oder gar Satire als Urheber der Attacke.

Der Verpflichtung als Spaßmagazin nachkommend hat man Erdogan zum Tagespresse-Mitarbeiter des Monats („Kategorie: ,Meiste Zugriffe’“) gekürt. Gruselig bleibt die Vorstellung von Cyberkriegern auf Mundtotmach-Feldzug dennoch.

[+++] Womit nur ein weiterer Beweis erbracht wäre, dass der „Tatort“ eingestellt werden könnte, weil er mit überraschenden wie verstörenden Wendungen in der Realität eh nicht mithalten kann. (Ganz recht, dies ist eine Überleitung.) Trotzdem lief dann gestern Abend dieser mit der Folge „Sturm“, die bereits an Neujahr gezeigt werden sollte, aufgrund des Terror-Themas und der zeitlichen Nähe zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt aber verschoben wurde. Nur um jetzt auf Anschläge in St. Petersburg, Stockholm und Dortmund zu folgen (zuletzt Altpapierkorb am Donnerstag).

Dass die Entscheidung fürs Senden richtig war, darüber sind sich die Kritiker überraschend einig. Unterscheiden lassen sich aber zwei Hauptargumente. 

1. Der Zuschauer ist mündig genug für diesen Film: 

„Noch einmal verschoben wurde der Film nun nicht, die ARD erklärte, der Tatort könne ,aufgrund seiner zeitaktuellen inhaltlichen Ausrichtung der Realität nicht ständig ausweichen’. Ein hübscher Satz, und nicht nur deshalb irgendwie vernünftig, weil in Dortmund die ganz große Katastrophe glücklicherweise ausgeblieben ist. Sondern auch, weil man sich beim Ansehen ziemlich sicher ist, dass das Publikum so eine erfundene Geschichte von der Realität trennen kann.“ (Katharina Riehl, Wochenend-SZ)

„Ein wenig erinnert die Diskussion über die Angemessenheit dieser „Tatort“-Ausstrahlung an den seltsamen Satz auf der Pressekonferenz von Innenminister Thomas de Maizière nach den Anschlägen von Paris und der Absage eines Länderspiels in Hannover, wegen etwaiger Terror-Gefahr. Demnach gebe es, sinngemäß, Wahrheiten, die dem Bürger nicht zuzumuten seien. Teile der Antwort, so de Maizière damals, würden ,die Bevölkerung verunsichern’. Seien wir froh, dass uns die ARD mit dem ,Tatort’ nicht für dümmer verkauft, als wir sind. Für empfindsamere Zuschauer gibt es den Aus-Knopf.“ (Markus Ehrenberg, Tagesspiegel)

2. Eskapismus ist auch keine Lösung:

„Der Abschied vom Automatismus der Verschiebung bei furchtbaren Großereignissen ist eingeleitet, und das ist gut so. Andernfalls hätte sich kein Drehbuchschreiber, kein Regisseur mehr den Luxus geleistet, die Realität ins Fiktive zu holen, das Weltgeschehen auch dort einfließen zu lassen, wo die Krimis spielen. Irgendetwas Reales ist doch ohnehin immer im Fiktionsangebot. Menschen töten einander, im Leben und im Fernsehen.“ (Hans Hoff, DWDL)

„Die Folge, die am Ostermontag gezeigt wird, ist derzeit ein fast unfassbar passendes Paradebeispiel dafür, wie die Präsenz von Gewalt in unserem Alltag mittlerweile den fiktionalen Szenarien den Rang abläuft. Während einst die erfundene Brutalität dazu diente, uns bewusst zu machen, wie gut es uns in unserer weichgespülten Wohlstandsgesellschaft geht, halten wir uns nun eher an Krimis, um einen Umgang mit dem allgegenwärtigen Morden, dem Verlust von Menschenleben zwischen Aleppo, dem Mittelmeer, Berlin, Paris, Brüssel, Schweden und London zu finden.“ (Anne Haeming, taz)

„Die Realität lautet: Der Terror geht nicht weg. Er kommt immer wieder. Verschieben hilft da nicht. Beim Sender hat sich daher wohl die aristotelische Einsicht durchgesetzt, dass die schonungslose Darstellung der Wirklichkeit kathartische Wirkung haben kann. (…) Dass der WDR schon lange vor den ersten Anschlägen in Deutschland den Versuch unternahm, sich mit dem radikalen Islam auseinanderzusetzen, ist mutig. Leider bleibt es beim Versuch.“ (Christoph Cöln, Die Welt)

Letzteres Zitat deutet an, was das eigentliche Problem des gestrigen Tatorts war - nicht das Thema, sondern seine Umsetzung. Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell bei Zeit Online

„Damit wäre man bei der wohl besten Antwort auf die ganzen Verschiebediskussionen. Die ließe sich vermeiden, wenn die ARD gerade bei so einem sensiblen, weil aufregenden Thema wie Terror nicht derart halbgare Filme produzieren würde. ,Sturm’ ist nämlich kein Film über Terror, sondern eine Raub- und Erpressungsgeschichte im Familienverbund, die sich mit den Attributen des Terrors nur pimpt: Moscheebesuch, deviante Jugendliche und der große, komplett sinnlose Knall am Schluss erscheinen hier wie Tieferlegen, Alufelgen und Heckspoiler beim Auto. Es soll halt nach mehr aussehen.“


Altpapierkorb

+++ Die taz feiert dieser Tage ihren 38. Geburtstag und hat zu diesem Anlass Klaus Raab, ebenfalls einst Altpapier-Autor, für die taz am Wochenende ins Archiv gelassen, wo er verstörende, rhetorische Parallelen entdeckte: „Der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer, der sich als Enthüllungsjournalist für linke Lebenslügen einen Namen gemacht hat, führte im März 2017 vor, warum es so nahe liegt, von den 68ern auf die Neuen Rechten zu kommen. Über ein Interview mit Rudi Dutschke aus dem Jahr 1967 schrieb er: ,Wer beim Zuhören die Augen schließt, erkennt viele Parolen wieder, die heute die rechten Provokateure im Munde führen.’ (…)  Was soll man sagen? Im Detail hat Fleischhauer Recht. (…)Die erste Ausgabe erschien im April 1979 mit Gedanken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Rede ist dort von einem Staat, der ,jeden Widerstand zu ersticken’ versuche. ,Die TAZ wird Säure werden müssen, um gesellschaftliche, politische und persönliche Verkrustungen wegätzen zu können.’ Da Wahrheiten nicht pur zu haben seien, sondern nur gemischt mit Hass, Hoffnungen und Meinungen, müsse man sie ,in 10.000 Lügen erzählen’. Es ist, während man das liest, als säße einem ein kleiner Fleischhauer auf der Schulter und würde rufen: ,Es war alles schon mal da. Bei euch, ihr Trottel!’“ +++

+++ „Kai Diekmann landet wie viele Journalisten im Taxigewerbe und berät künftig Uber.“ Turi2-Autor Jens Twiehaus hat der Clown zum Frühstück sehr gut geschmeckt. Weitere Infos zum neuen Berater-Job von Diekmann hat auch Martin U. Müller bei Spiegel Online (leider nicht ganz so schön bebildert wie im gedruckten Spiegel, wo Diekmann gerade beim Verzehr von Coke und Brötchen abgelichtet wurde, aber hey: er sitzt dabei in einem Auto!) +++

+++ Kopp Online ist offline. „Obwohl das Interesse an Kopp Online überwältigend groß war (in der Spitze weit über 600.000 Besucher pro Tag) hat uns leider die Unterstützung unserer Leser gefehlt. Trotz zahlreicher Aufrufe haben wir in den vergangenen 12 Monaten nur 6.000 EUR an Spenden erhalten. Das reicht nicht einmal um die Seite eine Woche lang in der gewohnten Qualität zu betreiben.“ So zitiert die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP), die eine schöne Zeitschrift namens Skeptiker herausgibt, auf ihrer Website aus einem im Netz herumgeisternden Schreiben des Verlags. +++

+++ Stephan Lambys Dokumentation „Die nervöse Republik“ - lief die nicht längst? Ach nee, das war nur die erste PR-Welle nach der Premiere mit angeschlossener Podiums-Diskussion in einem Berliner Kino. In der ARD ist es morgen, 22.45 Uhr soweit. SZ (Constanze von Bullion: „Doch, lustig ist er bisweilen schon, der Film von Stephan Lamby. Je länger er aber dauert, desto stärker wirkt er gefangen in eben jener Hysterie, die er zu beschreiben sucht.“) und FAZ (Hans Hütt: „Den Film zeichnet ein seismographisches Gespür dafür aus, dass gerade etwas ins Rutschen kommt. Wie eine Sonde verzeichnet er die Pegelausschläge einer Wendezeit. Unklar bleibt, wohin die Reise geht.“) besprechen den Film schon heute auf ihren Medienseiten. +++

+++ Journalismus entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern entlang eines Geländers namens Haltung. Argumentiert zumindest Neu-Buzzfeed-Chef Daniel Drepper im Medium Magazin: „Ich finde eine Haltung wichtig. Noch wichtiger finde ich für die tägliche Arbeit, dass ich auf diese Haltung, auf dieses Fundament mit journalistischen Prinzipien aufbauen kann. Dass ich meinen Job nicht nur aus dem Bauch heraus mache. Ich brauche ein Geländer, dass nicht nur auf meinen eigenen Erfahrungen fußt. Ich brauche ein Geländer, das auf den Erfahrungen von vielen Tausend Vorgängern aufbaut.“ +++

+++ Facebook verspricht mal wieder was, diesmal das schnellere Löschen von Gewaltvideos. Ganz von allein ist man allerdings nicht auf die Idee gekommen: Anlass war Kritik, nachdem das Video eines Mordes in Cleveland zwei Stunden online gestanden haben soll, wie Zeit Online meldet. +++

+++ „Bei den Serien mögen die Amerikaner noch Weltmeister sein. Geht es jedoch um Serienfestivals, dann sind es definitiv die Franzosen. Nun drängt sich der Eindruck auf, dass es die Grande Nation ein wenig übertreibt mit den TV-Feierstunden. ,Peak Festival’ sozusagen. Wo soll der ganze Stoff herkommen, um von 2018 an vier statt zwei große Serienfestivals allein in Frankreich zu füllen?“ Warum in Frankreich auf den Serienboom der Serienfestivalboom folgt und diese Expansion an „House of Cards“ erinnert, erklärt bei DWDL Torsten Zarges. +++

+++ Christian Jakubetz hat ein Probeabo für eine Lokalzeitung abgeschlossen. „Dass das journalistische Ergebnis nicht so wirklich überzeugend war, hatte mich nicht so sehr überrascht in den letzten Wochen. Was mich viel mehr wundert: wie unglaublich schlampig solche Verlage mit Kunden umgehen, von denen man ja annehmen könnte, dass man sie einigermaßen sorgsam pflegen sollte“, schreibt er in seinem Blog. +++

+++ Falls Sie sich mit dem Gedanken tragen, eine Internetversicherung abzuschließen: bei Netzpolitik.org macht Anna Biselli zum Thema die Yvonne Willicks. +++

+++ Im Tagesspiegel widmet sich Catharina Schick der Frage, welche sozialen Netzwerke die jungen Leute von heute eigentlich nutzen - eine Formulierung, zu der mich übrigens die Überschrift „Wo spielt die Musik?“ sowie Sätze wie „Snapchat und Instagram, darum scheint sich unter Jugendlichen also alles zu drehen“ inspirierten. +++

+++ Mit welchem Ernst die dritten Programme ihrer Aufgabe nachkommen, ihre Zuschauer über Osterhasen, -eier und -n generell zu informieren, dokumentiert Übermedien. +++

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch. 

weitere Blogs

...oder wie man mit dem Licht beginnt.
Altar mit dekoriert in Regenbogen-Farben
Für diesen Blogbeitrag habe ich ein Interview mit Lol aus Mainz geführt. Lol ist christlich, gläubig und non-binär. Nicht für alle christlichen Kreise passt das gut zusammen.
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Heute: mein Glaube in diesem November