Im Moment der Geburt wird ein Pfeil abgeschossen, der irgendwann trifft; dann endet das Leben. Mit diesem Bild erläutert Leon Windscheid die Tatsache, dass mit dem ersten Atemzug im Grunde bereits das Sterben beginnt. Diese Vorstellung ist natürlich deprimierend, und deshalb ziehen es die meisten Menschen vor, sie so weit wie möglich von sich zu weisen. Im Alltag spielt das Sterben in der Regel keinerlei Rolle, aber natürlich lässt sich der Tod nicht ignorieren, schließlich ist er allgegenwärtig: einerseits in den täglichen Nachrichten, andererseits in der nächsten Umgebung, wenn zum Beispiel jemand aus der Verwandtschaft stirbt.
Im Rahmen der Reihe "Terra Xplore" geht Psychologe Windscheid mit viel Empathie lang der Frage nach, wie viel Tod zum Leben gehört. Der erste Beitrag, "Totgeschwiegen", beginnt gleich mal mit einer Schocktherapie: Neben dem Tod von Kindern sind Suizide das düsterste Kapitel dieses Komplexes. Das Wort "Tabu" lässt sich nicht steigern, deshalb gibt es keinen Begriff dafür, wie rigoros dieses Thema ausgeblendet wird; dabei nehmen sich hierzulande jedes Jahr rund 10.000 Menschen das Leben. Die Zahl der Betroffenen geht in die Millionen, denn ein Suizid setzt bei den Angehörigen natürlich ganz andere Gedanken in Gang als ein natürlicher Tod.
Entsprechend bedrückend ist ein Gespräch Windscheids mit einem Elternpaar, dessen Sohn Nico sich vor zehn Jahren das Leben genommen hat. Ein junger Mann berichtet, dass er mit 15 an einem ganz ähnlichen Punkt war. Er beschreibt, wie sich das angefühlt hat, als er keinerlei Freude mehr am Leben verspürte, weil er überzeugt war: Wenn ich jetzt sterbe, wird mich niemand vermissen. In einer bewegenden Therapierunde bekommen Hinterbliebene die Gelegenheit, einem Gegenüber zu sagen, was sie den Verstorbenen bei einem Wiedersehen erzählen würden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In der zweiten Folge (Sonntag um 18.30 Uhr) fragt Windscheid: "Gibt es gutes Sterben?" Die Antwort lautet Ja. Kronzeugin ist Nadja, eine Frau, der man nicht ansieht, wie es um sie steht: Seit einer Brustkrebsdiagnose vor einigen Jahren führt sie ein Leben auf Abruf, die Metastasen sind überall. Aber Nadja wirkt nicht wie ein Mensch, der mit dem Bewusstsein lebt, dass er jeden Moment sterben könnte; sie lächelt oft, als sich Windscheid mit ihr unterhält, und auch ihre vierzehnjährige Tochter macht einen gefassten Eindruck. Ähnlich wie bei den Eltern Nicos verdient es größten Respekt, dass die beiden sich zur Verfügung gestellt haben, um über ihr Schicksal zu sprechen.
Nadja ist mit sich im Reinen und genießt jeden Augenblick, der ihr vergönnt ist. Sie ist Palliativpatientin. Die Palliativmedizin kümmert sich um Menschen, die unheilbar krank sind, und ermöglicht ihnen ein schmerzfreies Sterben in Würde. Im Münchner Klinikum Großhadern hat Windscheit einen Tag lang eine Palliativpflegerin bei der Arbeit begleitet. Hier lernt er eine der wichtigsten Voraussetzungen für "gutes Sterben": Es kann eine große Hilfe sein, positiv auf das eigene Leben zurückzublicken, wie auch diverse wissenschaftliche Studien bestätigen.
In der dritten Folge, "Der Tod ist mein Job" (27. April; alle Episoden stehen bereits in der ZDF-Mediathek), geht Windscheid einem der jüngsten Bestatter Deutschlands zur Hand. Anfangs noch zögerlich und buchstäblich auf Abstand, verliert er nach und nach die Scheu und hilft Luis (Jahrgang 2005), eine alte Frau für ihre letzte Reise vorzubereiten. Eine zweite Ebene dokumentiert eine Art Experiment: Der Psychologe hat sich mit einem Sarg in eine Fußgängerzone gestellt und bietet den Menschen an, sich hineinzulegen; eine clevere Idee, um sich über das Thema Tod auszutauschen, zumal die Reaktionen gänzlich unterschiedlich sind und von brüsker Ablehnung bis zu Gelächter reichen.
Die Reihe bietet jedoch nicht nur die Möglichkeit, sich mit dem Tod auseinandersetzen, sie hat auch einen weiteren Mehrwert, und das gilt nicht nur für Windscheids Interviews mit Sachverständigen aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie und Soziologie. Es gibt konkrete Empfehlungen, wie man sich am besten verhält, wenn Menschen in der Umgebung düstere Gedanken haben; außerdem werden regelmäßig Hinweise auf entsprechende Internetseiten eingeblendet. Am Ende von Folge zwei sagt Windscheid: Es sei zwar nicht möglich, dem Leben mehr Tage zu geben, aber man könne den Tagen mehr Leben geben. Natürlich ist das ein Kalenderspruch; wahr ist er trotzdem. Dazu passt Nadjas Appell ans Publikum: Freut euch jeden Tag, am Leben zu sein!