Herzlichen Glückwunsch, Zeitungskunde! Diese Wissenschaft entstand mitten im Ersten Weltkrieg, ganz am Ende der Kaiserzeiten, an der Universität Leipzig. Gerade begeht sie an ihrer Geburtstsstätte, vor allem in Form einer Tagung von "rund 450 Forschern und Führungskräften aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich", ihren 100. Geburtstag. Offenbar wurden bereits Innovationen ins Werk gesetzt.
Und bevor es erwartbare Witze hagelt: Die Kunde heißt gar nicht mehr "Zeitungs-", sondern hat sich längst in "Kommunikationswissenschaft" oder sogar "Kommunikations- und Medienwissenschaft" umbenannt. Sie kann also durchaus noch ein paar Jahrzehnten oder sogar -hunderten entgegenblicken.
Wie der Zufall will, kam gerade wieder ein ebenso lesenswerter wie lesbarer Longread zur Zukunft von Zeitung, Medien und Kommunikation herein. Volker Lilienthal, der mit seinem akademischen Titel nicht völlig uneingeschränkt glückliche Hamburger Qualitätsjournalismus-Professor, hat (auch noch) bei netzpolitik.org seine vor kurzem bei einer anderen Medienkongress-Gelegenheit gehaltene Keynote veröffentlicht. Der guten alten Zeitung sagt er u.a. vorher:
"Das klassische Blattmachen oder, moderner ausgedrückt mit Jakob Vicari, die publizistische Komposition eines Medienprodukts, das seine Abnehmer insgesamt und nicht nur interessenselektiv schlauer machen möchte –, diese aufklärungsverpflichtete Komposition wird obsolet."
Sowie:
"eine Welle ..., der sich kaum noch jemand ... wird entziehen können. Und wenn, dann nur um den Preis, künftig übersehen zu werden, unaufholbar zurückzufallen im Kampf um Aufmerksamkeit."
Diese Welle hat natürlich mit den sogenannten sozialen Medien zu tun. Gut beobachtete jahresaktuelle Auftritte von Google- und Facebook-Führungskräften in Europa dienen Lilienthal als Belege dafür, wie die Konzerne den Journalismus "fördern und kolonisieren" (so die netzpolitik.org-Überschrift). Sei es, dass ein Google-Starmanager, als er ein "Project Shield" verkündete, "welches 'all the world’s independent news agencies' angeboten werde", "das Eigenschaftswort 'independent' beim Aussprechen merkwürdig verschluckte". Sei es, dass Mark Zuckerberg neulich in Berlin so von "the wrong governments" sprach, dass die Annahme, für ihn "gibt es offenbar auch richtige Regierungen, denen und deren Geheimdiensten man ruhig etwas aushändigen darf", sich aufdrängt.
In München "verlor bereits zum fünften Mal ein Medienunternehmen vor Gericht gegen den Adblock-Plus-Entwickler" Eyeo (futurezone.at), und zwar dieses Mal die Süddeutsche Zeitung. So deutlich wie das Münchener Landgericht formulierten bisher urteilende Gerichte kaum, dass sie
"einen impliziten Vertrag zwischen den Lesern und Süddeutsche Zeitung, der den Abruf von kostenlosen Inhalten mit Werbung vergütet, ... nicht erkennen" (ebd.),
und dass "die Gesetzgebung nicht dazu verpflichtet sei, die Geschäftsmodelle der Verlage zu retten oder aufrechtzuerhalten" (meedia.de). Dabei ging es hoch her. In diesem Prozess hatte der Süddeutsche Verlag mit Einnahmeverlusten im "mittleren sechsstelligen Euro-Bereich", der Werbeblocker-Entwickler, der bekanntlich selbst mit fieser Werbung gute Geschäfte macht, dagegen mit "informationeller Selbstbestimmung" (heise.de) argumentiert.
[+++] Rasch noch mal zurück zu Lilienthal:
"... Und doch musste ich gerade lesen, Spiegel Online verwalte seine Themenplanung immer noch in einem Google Doc – ein Unding, wie ich finde",
sagte/ schreibt er ebenfalls, schließlich kooperieren Google und der US-amerikanische Staat nicht nur eng, sondern inzwischen in Personalunion.
Und jetzt hat Spiegel Online sogar höchste, in Teilen Europas womöglich noch unbekannte Staatsgeheimnisse in einer Google Doc-Datei abgelegt. Bzw. hat SPON-Kolumnist Sascha Lobo News über "Täter islamistischer Mordanschläge in der EU", die vermutlich in Belgien bis vor kurzem unbekannt waren, anderswo aber nicht im geringsten, darin zusammengestellt.
Und zwar um in seiner aktuellen Kolumne sowohl für Datenschutz als auch für "eine bessere Überwachung der längst Verdächtigen" zu werben und andererseits gegen ein in Teilen der EU "zahnloses Justizsystem" ("der völlig unterskandalisierte Nährboden für jede Form von gewalttätigem Extremismus") zu wettern. Während der Bundesinnenminister gerne im Fernsehen "Datenschutz ist schön, aber in Krisenzeiten hat Sicherheit Vorrang" sagt (siehe auch wiederum netzpolitik.org), seien "längst bekannte Gefährder unterüberwacht", argumentiert Lobo.
[+++] Jetzt endlich was schön Überschaubares. Erdogan vs. "Extra 3" (Altpapier gestern) - wie ging's weiter?
Die neue Sendung gestern spät hat sich immerhin eine TV-Kritik verdient. "Die Redaktion von 'Extra 3' hat sich für den souveränen, den eleganten Weg entschieden. Keine peinliche Nabelschau, kein großer Weiterdreh", lobt sueddeutsche.de. SPON und faz.net drehen bloß die DPA-Meldung zur Sendung ein bisschen weiter.
Schon vor der Ausstrahlung hatte gestern die Bundesregierung doch noch selbst Stellung bezogen, ja: "stellte klar: Die Pressefreiheit ist nicht verhandelbar" (EPD, hier nebenan). "Regierung verteidigt 'extra 3' vor Erdogan-Kritik", lautet die schönste Schlagzeile (Neues Deutschland). Was freilich nicht verhinderte, dass empörte Leitartikler weiterhin "die leisetreterische Berliner Reaktion" (Daniel Friedrich Sturm und Deniz Yücel bei welt.de) kritisieren:
"Während [der deutsche Botschafter Michael] Erdmann ... deutlich zeigt, was er von den autoritären Tendenzen in der Türkei hält, verzichtete die Bundesregierung bis zum Mittwochnachmittag darauf. Vizeregierungssprecherin Christiane Wirtz und AA-Vizesprecherin Sawsan Chebli äußerten sich zunächst weitgehend mit - zum Teil abgelesenen - Floskeln zur Causa Satirefilm" (ebd.). "Das wirkt so, als habe die Bundesregierung widerwillig nachgeholt, was von Anfang an hätte klargestellt werden müssen" (Michael Hanfeld unter der Überschrift "An der Kette" in der FAZ, um dann an deren Karikaturisten Greser und Lenz zu erinnern, die auch schon mal eine Botschaftereinbestellung auslösten). Die Süddeutsche lässt "die peinliche Zurückhaltung" der Regierungssprecher den George-Orwell-Begriff "Neusprech" mal wieder hervorholen.
Echt jetzt?
Ich würde es eher mit Lenz Jacobsen halten, der bei zeit.de meint:
"Die knappe, aber eindeutige deutsche Reaktion ist angemessen. Sie ist diesmal sogar ein Zeichen der Stärke und nicht der Schwäche. Denn die Angegriffenen haben in diesem Fall keine wuchtigere Verteidigung nötig."
Die FDP hat schon früh "Weiter so mit kritischer Satire" gepostet. Und telegene Politiker vermutlich sämtlicher Parteien, die sich gerne zur Verfügung stellen würden, um in Talkshows oder in "Tagesthemen"-Zuschaltungen mit Reichstagskuppel (oder dem Wahrzeichen ihrer Heimatstadt) im Hintergrund wortreich die deutsche Satirefreiheit zu verteidigen, gäbe es mindestens genug. Vermutlich gibt es noch viel mehr. Tatsächliche Probleme, bei deren Lösung all das Engagement hilfreicher sein könnte, sowie erheblich größere (schwerer überschaubare) Anlässe zur Aufregung aber auch.
Manchmal wirken Kommentarseiten so, als wollten Zeitungen ihren verbliebenen Lesern täglich den gewohnten Empörungsgrad bieten, damit nicht auch noch sie ihre Abos kündigen. Der Anlass scheint dabei zweitrangig.
+++ Videostoff zum Thema: "Glauben Sie denn dass die Türken das Video genauso lustig finden wie die Deutschen?" ist eine vertrackte Frage, aber was "Extra 3"-Moderator Christian Ehring im dbate.de-Skype-Interview so sagt ("Selbst Novizen von den Piraten oder der AfD würden in so ein Fettnäpfchen nicht treten"), durchaus interessant. +++ Dass Präsident Erdogan selbst wg. Atomgipfel und Moschee-Einweihung in den USA weilt, und dort seine Bodyguards sangen, jedoch nicht "Erdowie, Erdowo, Erdogan", weiß und zeigt welt.de (also mit selbsttätig startenden, in diesem Fall aufschlussreichen Video). +++
+++ "Vorsicht vor der digitalen Weltpolizei"? Da befasst sich Christian Schwägerl vorn auf dem FAZ-Feuilleton mit dem "Tay-Experiment" (siehe heise.de). +++
+++ Die nächste Versteigerung der Fußball-Fernsehrechte rückt näher. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky tat der SZ, die auf S.2 darüber berichtet, den Gefallen, schon wieder (weiterhin?) "die größte Schlacht, die man je erlebt hat", zu erwarten. "Amazon, die Deutsche Telekom, der US-Kabelunternehmer John Malone mit Unity-Media oder Vodafone mit der neuen Tochter Kabel Deutschland - sie alle könnten für die Pay-Rechte mitbieten", fasst die SZ zusammen, um im folgenden Absatz, in dem drei Sätze mit "Aber auch" beginnen, RTL und Discovery-Eurosport als Konkurrenten der ARD-"Sportschau", also im Free-TV, zu nennen. +++ Aber auch "die Al-Dschasira-Tochtergesellschaft BeIn Sports" könnte für deutsche Fußballrechte bieten (Tagesspiegel am Ende eines Artikels über Al Dschasiras Lage). +++ Ders. stellt das "Team Marktwert" innerhalb der Bundesliga vor. +++
+++ Bei einem Blick auf die keineswegs gute Lage der Medienfreiheit in Russland stellt der Standard (bzw. Eva Steinlein für APA/ DPA) fest, dass "immer mehr deutschsprachige Nutzer bei VKontakte ... in Gruppen wie 'Deutsch, und nur Deutsch'" diskutieren. +++
+++ "Gleichermaßen entspannt wie enthusiastisch" findet kress.de seinen Interviewpartner, TAZ-Chefredakteur Georg Löwisch, und hat irgendwie sogar Recht. +++
+++ Gestern lief der erste Film der ARD-Trilogie "Mitten in Deutschland: NSU", und weitere Kritiken gelangten im Lauf des Tages ins Netz. Z.B. von der TAZ ("Allerdings: Alle drei Teile sprechen eher das Herz an als den Verstand ...") sowie von Klaudia Wick (BLZ). +++
+++ Die SZ-Medienseite berichtet von einem Prozess in Lüneburg, bei dem ein früherer Verdener Oberstaatsanwalt auf der Anklagebank sitzt, der womöglich "präventiv ein Signal" gegen eine Journalistin setzen wollte. Über dem Fall schwebe die Frage "Wie geschützt ist die Pressefreiheit in Deutschland?" +++ Und über das heutige Comeback der Allegra, einer Springer-Zeitschrift (!) "nach zwölf Jahren Pause" am Kiosk. "Allegra ist ein hübsches Heft", findet Katharina Riehl zumindest. +++
+++ Die tägliche Vorstellung einer US-amerikanischen Serie schultert die FAZ-Medienseite ("The Ranch" bei Netflix, "auf deren Erfolg darf man wetten"). +++ Ferner wird eine ebenfalls amerikanische "Studie zu Selbstzensur und staatlicher Überwachung" vorgestellt, der "zufolge ... selbst Leute, die grundsätzlich die Berechtigung allgemeiner staatlicher Überwachung anerkennen, zur Selbstzensur" neigen, "wenn ihre Ansicht von der Mehrheitsmeinung abweicht." +++ Und Michael Hanfeld stellt die drei mutmaßlichen Kandidaten für die RBB-Intendanz vor, "drei würdige Bewerber" (u.a. habe sich Volker Herres "als versierter Manager des ersten ARD-Programms einen Namen gemacht, und dabei Fertigkeiten als Moderator zwischen den beteiligten Sendern und Programmgenres an den Tag legen müssen"). +++ Nachtrag (Tsp./ Ulrike Simon, RND): Der will wohl gar nicht mehr ...
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.