Kurze Frage: Wie viel Orwell haben wir eigentlich, wenn man morgens früh beim Scannen der Nachrichtenlage von den neuesten Enthüllungen des liebsten Rechercheverbundes von allen liest und sich denkt: Ja mei. Immerhin diesmal nichts mit Sachsen.
?
Damit Sie nicht glauben, wir hätten das nicht mitbekommen:
„Der US-Geheimdienst NSA hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel offenbar in größerem Umfang ausgeforscht als bislang bekannt. Das zeigen Dokumente der Enthüllungsplattform Wikileaks, welche die ,Süddeutsche Zeitung’, der NDR und der WDR vorab einsehen konnten. Darunter sind detaillierte Vermerke von Gesprächen, die Merkel mit europäischen Staatschefs und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen führte.“ (Quelle: sueddeutsche.de)
Ein schlauer Algorithmus hat neben dem Artikel einen Kommentar von Hans Leyendecker aus dem vergangenen Juli verlinkt.
„Das Desinteresse, die Apathie, die scheinbare Unempfindlichkeit - das ist der eigentliche Skandal dieses großen Falls. Natürlich können auch Skandale abnutzen; wenn der Reiz der Neuheit verschwunden ist, hatte Aufklärung immer schon einen schweren Stand. Wenn Affären Serienprodukte sind, verfällt ihr politischer Kurswert, und es braucht schon große Schweinereien, um noch echte Aufregung auszulösen. Das entschuldigt aber nicht das organisierte Nichtstun der Regierenden und macht den Skandal nicht kleiner“,
schrieb er damals.
Heute liest man die Enthüllung und zuckt mit dem Schultern. Ja. Gut. War so zu erwarten. Wie weit ist es vor hier wohl bis zum resignierten Wahrnehmen, dass halt schon wieder Flüchtlinge traktiert und ihre Häuser in Deutschland angezündet wurden?
[+++] Um die gute Stimmung noch ein wenig aufrecht zu erhalten, sprechen wir nun über rechte Hetze, Internettrolle und unverbesserliche Aluhutträger, deren Existenz in diesem Land nicht mehr abzustreiten ist. Doch wie soll man ihnen begegnet?
Friedemann Karig plädiert bei Übermedien dafür, Verständnis zu zeigen.
„Wenn alte Sicherheiten erodieren, wenn Geschäftsmodelle und Hierarchien und Institutionen und Überzeugungen von heute auf morgen fallen, bleiben wir ohne Halt zurück. Fallen auf den harten Boden der postmodern komplizierten Realitäten. Und werden paradoxerweise umso weniger offen für Vernunft und Argumente, je nötiger wir sie hätten“,
erklärt er. Wer sich darauf zurückziehe, dass die Kommentatoren dummes Pack seien, mache es sich zu einfach.
„Die bösen Kommentarschreiber fragen nicht nach den Gründen, sie wissen ja schon alles. Aber auch die schlauen Kolumnenschreiber tappen manchmal in die Falle, nur phänomenal zu betrachten – womöglich differenzierter und kontext-klüger als andere – dabei jedoch aus Bequemlichkeit oder aufgrund eines eigenen Wahrnehmungsfehler nicht zu schauen, wieso sich diese Leute eigentlich so kurios verhalten, wie man es wortreich feststellt. Wer nicht darüber nachdenkt, weshalb die anderen so dumm sind, der ist also selber in diesem Moment nicht ganz frei von Dummheit.“
Ein schöner, ein pädagogischer Ansatz. Aber leider total falsch, meint zumindest Matthias Oberth, Leiter der Online-Redaktion von Nürnberger Zeitung und Nürnberger Nachrichten.
„Ich werfe mir heute vor, dass ich es mit meinem Verhalten Menschen, die in Clausnitz Busse mit Flüchtlingen aufhalten und in Bautzen Flüchtlingsheime anzünden, viel zu leicht gemacht habe. Ich werfe mir vor, dass ich jenen, die dazu Beifall klatschen oder auch nur zu Hause zustimmend nicken, nicht genügend Paroli geboten habe. Allen, die auch auf nordbayern.de schreiben: ,Das wird man doch wohl noch sagen dürfen...’ , entgegne ich jetzt: ,Nein, darf man nicht!’ Wir haben keinerlei Verpflichtung, den Boden für geistige wie reale Brandstifter zu bereiten, geschweige denn, ihnen eine Plattform zu bieten“,
schreibt er. Und hat damit insoweit recht, als dass ihre eigene gesellschaftliche Bedeutung stets hochhaltende Journalisten durchaus aufpassen dürfen, dass wir nicht alle auf einer schiefen Ebene nach rechts rutschen, und das so langsam passiert wie das Erhitzen eines Kochtopfs mit Frosch drin. Problematisch ist jedoch seine Schlussfolgerung:
„Jene Menschen, die uns Zensur und einseitige Berichterstattung vorwerfen, sind mit Argumenten nicht erreichbar, sie sind zu keiner zielgerichteten Diskussion fähig und sie sind eine Gefahr für dieses Land, für diese Demokratie und für alles, was in den vergangenen 70 Jahren in (West-)Deutschland erreicht wurde.“
Denn natürlich gefährdet es die Demokratie ebenso, wenn Medien Menschen, die erwachsen und wahlberechtigt sind, gänzlich abschreiben, weil sie deren Meinungen unerträglich finden.
Die Lösung liegt wohl in der Mitte: Rausfinden, woher die Angst und der Hass kommen, und gleichzeitig klar kommunizieren, dass Gewalt und ihre verbalen Vorboten keine Lösung sind. Blöd nur, dass man so erstens stark nach Waldorfkindergärtner klingt und zweitens dabei Gefahr läuft, alles noch schlimmer zu machen. So schreibt es zumindest Peer Schader bei den Krautreportern, wo er die neuen „Akte X“-Folgen zum Anlass nimmt, Verschwörungstheoretikern auf den Grund zu gehen (unter solche fassen wir an dieser Stelle großzügig auch wohlgenährte Sachsen, die von der Angst geplagt werden, dass Kriegsflüchtlinge ihnen das Essen wegnehmen).
„[Der Wissenschaftler Walter] Quattrociocchi geht davon aus, dass [Verschwörungstheorien] aus dem Bedürfnis nach einer eindeutigen Antwort auf komplexe Sachverhalte entstehen und Unentschiedenheit vermeiden helfen. Das ist in der Wissenschaft kein neues Phänomen. Der ,Bestätigungsfehler’ (,confirmation bias’) beschreibt die Tendenz eines Individuums, sich Informationen so auszuwählen, dass sie den eigenen Erwartungen entsprechen.
Problematischer ist die Schlussfolgerung, die Quattrociocchi aus seiner bisherigen Forschung ableitet: nämlich, dass es oft nichts hilft, Verschwörungstheorien Fakten entgegenzusetzen, um sie zu entkräften. ,Das macht es nur noch schlimmer’, sagt er. Weil bei denen, die damit überzeugt werden sollen, das exakte Gegenteil erreicht werde. ,Je mehr Informationen eine Person erhält, die im Gegensatz zu einer Verschwörungstheorie steht, an die sie glaubt, desto stärker wird das [ursprüngliche] Nutzungsmuster. Aufklärungsversuche in einer ,Echokammer’ können nach hinten losgehen und die Überzeugung der Angesprochenen verstärken.’ Wenn die Leute einmal vermeintliche Beweise für ihre Theorie gefunden hätten, würden Widersprüche einfach ignoriert.“
Verdammte Axt. Wenn das stimmt, sollte Facebook sein großes Projekt der Gegenrede schnell einpacken.
Fassen wir zusammen: Nichts sagen geht nicht. Fakten bemühen geht nicht. Einfach als dumm abtun geht nicht. Höchste Zeit, wirklich harte Geschütze aufzufahren. Etwa hinzufahren und sich auseinanderzusetzen. In Clausnitz scheinen sich zuletzt nicht einmal diejenigen, die mit Steuergeldern dafür bezahlt werden, diese Mühe gemacht zu haben, wie die örtliche Freie Presse berichtet.
„Auffällig ist dennoch, dass das Landratsamt Mittelsachsen seit einigen Monaten Einwohnerversammlungen eher meidet. Zu massiv waren dessen Vertreter in der Vergangenheit bei einigen Veranstaltungen zum Thema Asyl beschimpft worden. Als Kehrtwende in der Informationspolitik gilt ein Spätsommerabend in Nassau, an dem die Mitarbeiter des Landkreises ob der wütenden Stimmung im Saal kaum zu Wort kamen. Auch der dortige Bürgermeister hatte demonstrativ die deutsche Asylpolitik gescholten.“
Ignorieren ist keine Lösung. Immerhin das können wir wohl festhalten.
[+++] Diejenigen, über die tendenziell in diesem Zusammenhang eher wenig gesprochen wird, obwohl die permanent vor Ort sind, sind die Lokalzeitungen. In Thüringen hat die zu Funkes gehörende Mediengruppe gestern angekündigt, die Mantelredaktionen ihrer drei Tageszeitungen Thüringer Allgemeine, Ostthüringer Zeitung und Thüringische Landeszeitung zusammenzulegen. An Orten, wo zwei Titel zwei Lokalredaktionen halten, werden diese ebenfalls fusioniert. Überregionales kommt in Zukunft vom Funke-Desk aus Berlin.
Im Funke-PR-Sprech heißt das
„Zukunftsprogramm stärkt Lokalberichterstattung“.
Schließlich ermöglicht die Vereinigung der Lokalredaktionen „einen Ausbau der lokalen Berichterstattung (...). Zusätzlich werden die Lokalredaktionen um weitere Redakteurinnen und Redakteure aufgestockt.“
Um wie viel Personal es geht, wird aber nicht genannt. Die Erfahrung mit diesem Konzern legt nahe, dass es zwei Personen sind, und das auch nur, damit in der PM der Plural genutzt werden konnte (yes, I am bitter). Dafür verlieren Redakteure in den Mantelredaktionen ihren Job.
Thüringen, wir erinnern uns, ist das Bundesland, in dem der NSU jahrelang unerkannt vor sich hin wirken konnte. Jetzt geht dort wieder weiter Medienvielfalt und –power verloren. Deutsche Mediendienste (Meedia, kress.de) vermerken das nur noch, indem sie die Pressemitteilung nacherzählen.
Desinteresse, Apathie und scheinbare Unempfindlichkeit. Da sind sie wieder, und das ist ganz schön frustrierend.
+++ Die Dpa hatte gestern deutsche Chefredakteure ins Berliner Beta-Haus geladen. Via Twitter ließ sich verfolgen, wie getwittert, fotografiert und Undefinierbares serviert wurde. In chronologischer Reihenfolge hat das Meedia aufbereitet. +++
+++ Es gibt sie noch, die jungen Menschen, für die Journalist ein Traumberuf ist. Zum Beispiel Ammar, geflüchtet aus Syrien und nun Praktikant beim Münchner Merkur, wo er schreibt: „Dann habe ich mich entschieden, Reporter zu werden. Weil ich der Welt erklären will, was in Syrien passiert. Obwohl ich das schwierig finde. Muss man zu jemand gehören? Sich auf eine Seite schlagen? An dem Beruf gefällt mir, dass man viel Neues und wichtige Persönlichkeiten kennenlernt. Man kann durch die Welt streifen, über Menschen, Tiere und verschiedene Kulturen berichten. Das Wichtigste aber ist: Man muss ehrlich sein. Wenn man über das Leid der Menschen in Syrien berichtet oder über die Krise in Griechenland, muss man genau schauen, durch wen diese Probleme entstehen.“ +++
+++ Dass die AfD lieber tagt, ohne dass Andrea Röpke vor Ort ist, ist eine Meldung vom Wochenende. Nun trägt ndr.de nach, wie der DJV das findet, nämlich einen „eklatanten Angriff auf die Pressefreiheit“. +++
+++ Schlechte Nachrichten aus China hat heute die FAZ: „Dass westliche Zeitungen die Propagandaorgane der herrschenden Kommunistischen Partei immer noch als ,Staatsmedien’ bezeichneten, sei überholt, sagt China-Beobachter Bill Bishop, der für seine tägliche Presseschau Massen chinesischer Zeitungen auswertet: ,Es sind Parteimedien.’ Bishop sieht eine Zäsur: ,Die KP steht wieder im Vordergrund wie seit vielen Jahren nicht mehr. Das verheißt nichts Gutes. Journalisten sind nichts anderes als ,Nachrichtenarbeiter‘ im Dienst des Propagandaministeriums.’“ Außerdem steht auf der Seite eine Besprechung der neuen Sky-Serie „Versailles“. +++
+++ An dieser Stelle begrüßen wir eine neue Kategorie. Sie heißt „Just sad“ (allerdings nur, weil dieses CMS das Einbetten des augenverdrehenden Emojis nicht erlaubt). Stargast heute: Meedia und diese Meldung unter dem Titel „Es riecht nach PR-Stunt: deutsche Anwälte zeigen Mark Zuckerberg wegen Volksverhetzung an“. Kleiner Tipp für die Zukunft: Wenn etwas so stark nach PR riecht, dass man es in der Überschrift vermerken möchte, kann man auch gleich was noch Verrückteres wagen und gar nicht berichten. Oder zumindest keinen Artikel bauen, der zu über 50 Prozent aus der Pressemitteilung besteht. Andere (u.a. sueddeutsche.de) haben die Meldung natürlich auch aufgenommen, aber darauf verzichtet, sich durch PR-Beschuldigungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. +++
+++ Eine gute Nachricht für Journalistinnen: Das mit der Lügenpresse scheint nur Männer zu betreffen. Oder warum sonst sollte bei den Südwestdeutschen Medientagen zum Thema keine Frau am Programm beteiligt sein? (via @daniel_bouhs) +++
+++ In Österreich kann sich nun jeder Fotograf nennen, und das verändert den Markt, meldet Der Standard. +++
+++ Bei der Medienwoche berichtet Nick Lüthi, wie das Schweizer Parlament einmal seine Website erneuerte und sich dabei null dafür interessierte, damit 10.000 Links ins Nirvana zu schicken. +++
+++ „Man könnte auch sagen, dass der Serien-Boom es schwieriger macht angesichts der Konkurrenz“, erzählt Hana Geißendörfer im Kress.de-Interview, wo sie nach einem Jahr als „Lindenstraßen“-Produzentin Bilanz ziehen darf. +++
+++ Was man nicht sagen kann, ist, dass in deutschen Fernsehfilmen immer neue Schauspieler gefördert würden. „Eine Auswertung der zwanzig bei den Zuschauern erfolgreichsten Filme 2015 abseits etablierter Reihen wie ,Tatort’ und ,Polizeiruf 110’ ist zumindest kein Zeugnis großen Wagemuts. Mehrfachnennungen bei Jan Josef Liefers, Heiner Lauterbach, Nadja Uhl, Anja Kling, Hinnerk Schönemann, Julia Koschitz (...) präsentieren erfahrenes TV-Personal, das meist bei den sogenannten großen Agenturen unter Vertrag steht“, schreibt Jörg Seewald im Tagesspiegel. Der letzte Halbsatz ist schon ein Hinweis auf die Ursache dieser Misere. +++
+++ Über den gestern hier ganz unten im Korb schon angedeuteten Sky-Aufritt von Rudi Völler („Dass es Elfmeter hätte geben müssen! Mein Gott, was haben Sie denn mit Roger Schmidt! Was wollen Sie eigentlich mit dem Roger Schmidt?“) berichtet ebenfalls der Tagesspiegel. +++
+++ Solange immer noch neue, gedruckte Zeitungen gegründet werden, kann Print nicht tot sein. Ist vielleicht einer der Gründe, warum in Großbritannien gestern mit „The New Daily“ eine neue, gedruckte Tageszeitung auf den Markt kam. Spiegel Online berichtet. Die Online-Journalistin in mir murmelt dazu „whatever you need to tell yourself“ und denkt an Xtra. +++
+++ Die Serienbesprechung der heutigen SZ-Medienseite kommt von Anne Philippi und betrifft den neuen Netflix-Zugang „Love“ und dessen Produzenten Judd Apatow. +++
+++ Eine überraschende Nachricht zum Schluss: Sat 1 gibt es noch. Es will ab April die in Berlin gedrehte, fünfte Staffel von „Homeland“ zeigen, vermeldet DWDL. +++
Neues Altpapier gibt es morgen wieder.