Goldene Victoria

Goldene Victoria
Jede Menge "Lügenpresse"-Diskussionen: die "Skandalisierungsschraube" und "winzige, verdorbene Narrative". Auf dem deutschen Verlegergipfel wurde ein 1 kg schwerer Preis nun auch für Pressefreiheit vergeben (sowie einer an ein ganzes Volk). Was alle vom Pförtner bis zum Verleger einen sollte. Streit zum Umgang mit neuen Rechten in Talkshows. Außerdem: Aus Sternen werden Herzchen.

Angriffe auf die "Lügenpresse" treffen nicht mehr nur viele Journalisten, die unter schlechter werdenden wirtschaftlichen Bedingungen oft jahrelang ihr meist Bestes gaben, ins sprichwörtliche Mark. Manche treffen sie inzwischen auch "in einer unbelebten Ecke" Berlins (SZ) "von hinten in den Nacken" (TAZ). Solche physischen Angriffe waren gestern hier im Altpapier Thema; heute werden sie in Zeitungen weiter bilanziert.

In der FAZ spricht der Pressesprecher der Journalistengewerkschaft DJV, Hendrik Zörner, von "irrationalem Hass auf alle Medienvertreter"; im Tagesspiegel, dessen Redakteur Helmut Schümann der Nackenschlag galt, äußert sich der frisch gewählte Vorsitzende derselben Gewerkschaft.

In der binnenjournalistischen Diskussion, wie es dazu kommen konnte und was dagegen getan werden könnte, ist noch längst nicht alles von jedem gesagt, aber jetzt immerhin auch von Patricia Riekel, der Bunte-Chefredakteurin, etwas.

[Der Leser] "'hat Lust auf Skandale, gleichzeitig aber verachtet er die Presse für die entsprechende Berichterstattung – vielleicht, weil er sich selbst für sein Interesse verachtet', meint 'Bunte'-Chefin Patricia Riekel. Im harten Wettbewerb um Auflage, Aufmerksamkeit und Klicks dürften die Medien die Skandalisierungsschraube nicht überdrehen",

berichtet horizont.net von einer Diskussionsveranstaltung, bei der auch Giovanni di Lorenzo von der Zeit und Christian Krug vom Stern nicht mit Einschätzungen geizten. Vielleicht äußerte sich die Bunte-Chefredakteurin gar noch dialektischer (turi2.de). Auf dem täglich Laufenden befindliche Kenner ahnen jedenfalls: Da sind wir wieder beim Publishers' Summit des Zeitschriftenverlegerverbands VDZ, nun in der #Chefredakteursrunde.

Es ist für Online-Medienbeobachter keine der größten Herausforderungen, sich über Verlegerverbands-Veranstaltungen lustig zu machen, und es trifft auch selten die Falschen (falls Sie ein Zeitfenster offen haben, "alle Fotos der Publishers' Night 2015" zu überfliegen: hier; es sind keine 500). Vielleicht ist es eine größere Herausforderung, es nicht bei jeder Gelegenheit zu tun; schließlich laufen weite Teile des bezahlten Journalismus weiterhin über solche Verleger.

Natürlich ist eine Goldene Victoria (publishers-summit.vdz.de: "Gewicht: ca. 1 kg ... Die Ehren-Victoria wurde 2006 zum ersten Mal vergeben. Preisträger war Franz Beckenbauer"), die ihre Preisträger dann in die "Publishers Night-Hall of Fame" eingehen lässt, kein Preis, der im 21. Jahrhundert unmittelbar ans Herz rührt. Doch muss das keineswegs gegen die prämierten Persönlichkeiten sprechen.

Eine blutjunge Goldene Victoria, die 2015 erstmals verliehen wurde, gilt der Pressefreiheit. Sie erhielten die mexikanische Journalistin Ana Lilia Prez, die afghanische Journalistin Farida Nekzad und Peter Bandermann, seines Zeichens "schreibender und fotografierender Redakteur / Reporter für die gedruckte und digitale Zeitung Ruhr Nachrichten", der "trotz anhaltender Drohungen seit 15 Jahren ... über die rechtsextreme Szene in Dortmund" berichtet. Funkes derwesten.de berichtet von der "Gala vor 1000 geladenen Gästen":

"Peter Bandermann machte in seinen Dankesworten deutlich, dass er den Preis auch stellvertretend für all jene Journalisten entgegennehme, die 'auch als Blogger in über 130 Staaten dieser Erde mit jedem gedruckten oder online veröffentlichten Wort die für uns so selbstverständliche Pressefreiheit erst noch etablieren müssen - und dabei mit jedem Buchstaben ihr Leben riskieren.' Und er versprach: 'Vom Pförtner bis zum Verleger gilt: Von Extremisten lassen wir uns nicht einschüchtern.' Minutenlanger Beifall folgte, als er auch seiner Frau Claudia und seiner 17-jährigen Tochter Hannah dankte. Die habe ihm, nach den Angriffen von Neonazis auf Asylbewerber, Flüchtlingsunterstützer und Polizisten am Frühstückstisch gesagt: 'Papa, Ihr dürft eure Laptops jetzt nicht zuklappen.'"

[+++] Wer beim Verleger-Gipfel auch keineswegs fehlte, obwohl sie ja überall in der Weltgeschichte unterwegs ist: die Bundeskanzlerin. Ihre Rede vom Montag fasst der Tagesspiegel so nett zusammen, wie es von Verlegern verlegte Tageszeitungen eben tun müssen ("Wenn sie auf Nachrichtenportalen surfe und zwischendurch kein kleines Video sehen könne, dann sei sie schon enttäuscht, sagte die Bundeskanzlerin ... . Ein Glück für die CDU-Chefin, dass Nachrichtenseiten ihr digitales Angebot stetig ausbauen").

Interessanter ist die Interpretation derselben Rede durch netzpolitik.org:

"Die Kernmessage war: Datenschutz ist schlecht fürs Geschäft, Pressefreiheit ist wichtig und beim Urheberrecht wird alles besser, weil Günther Oettinger sich drum kümmert."

Das Schöne an netzpolitik.org ist ja aber, dass das Blog bei aller kritischen Haltung, wenn's passt, durchaus auch mal etwas Lob für die Bundesregierung ausschüttet, und dass es, wenn kritisch, dann zugleich genau argumentiert. Zum Beispiel in der Merkelreden-Analyse:

"Ein Punkt ist uns nach den Landesverrats-Ermittlungen gegen uns aufgefallen:

'Das gilt natürlich auch für die Pressefreiheit. Sie fehlt aber in vielen Staaten bzw. steht in vielen Staaten nur auf dem Papier, sodass von unabhängigem Journalismus keine Rede sein kann. Das fängt damit an, dass Recherchen nur unter staatlicher Beobachtung möglich sind oder Interviewpartner und Informationsquellen Einschüchterungen ausgesetzt sind.'

In Zeiten, wo Deutschland keinen vernünftigen Whistleblower-Schutz hat, dieser durch Datenhehlerei noch weiter ausgehöhlt wird und der Quellenschutz durch Vorratsdatenspeicherung gefährdet ist, könnte man natürlich auch mal zuhause aufräumen. Gegen unsere Quellen bei der Landesverrats-Geschichte wird übrigens immer noch gefahndet. Genau das schafft eine mögliche Situation, wo 'Informationsquellen Einschüchterungen ausgesetzt sind'."

Am Ende des Artikels weist Markus Beckedahl dann noch auf die Geschäftsbeziehungen der Lebensgefährtin des von Merkel ausführlich gelobten EU-Kommissars Günther Oettinger mit Hubert Burda, dem von der Kanzlerin ebenfalls direkt angesprochenen VDZ-Präsidenten, hin. Aller Respekt für einzelne Preisverleihungen bei den preisverleihungsreichen Verlegersausen (als "Europäer des Jahres" zeichnete Oettinger übrigens in diesem Jahr "Portugal und seine Bevölkerung" aus, und zwar natürlich per Goldener Victoria) darf den analystischen Blick nicht trüben.

[+++] Zurück zur hochtourig laufenden "Lügenpresse"-Debatte. Die offene Überschrift "Hat Deutschland eine 'Lügenpresse'?", die dw.com für seine Umschau wählte, kann irritieren. Und dass dann weit oben Norbert Bolz mit der Aussage "Wir leben weit entfernt von einer Meinungsfreiheit" zitiert wird, und zwar mit Bezug auf den "viele Medien" prägenden "linksintellektuellen Diskurs", zumal. Andererseits, weiter unten im selben Artikel wird auch Lutz Hachmeister zitiert mit

"Es ist auf jeden Fall zu einfach, den Vorwurf der Lügenpresse in die rechtspopulistische Ecke abzutun."

Diese Aussage bezieht sich damit auf "Eliteverflechtungen zwischen Journalismus, Politik und Industrie" (von denen dieses Altpapier ja auch einen Widerschein gibt).

Falls jemand nicht sofort weiß, was dieses dw.com ist: Es ist die Deutsche Welle, also der steuerfinanzierte deutsche Auslandsrundfunk (Slogan: "Made for minds"), bei dem man deutschsprachige elektronische Presse gar nicht unbedingt erwartet.

Was den schwierigen Umgang mit rechts und die Frage, wie weit es zum Diskurs eingeladen werden soll, betrifft, so hat der ehemalige stellvertretende Regierungssprecher und Politologe Klaus Vater einen langen, zwar mit ein paar wenig weiterführenden Assoziationen um Robert Lewandowski und ältere Kinofilme angereicherten, aber insgesamt lesenswerten Beitrag für carta.info verfasst. Es geht um Björn Höcke von der AfD, einen der "neuen Rechten, die in Fernsehtalkshows sitzen". Vater hat sich, schreibt er, die Maischberger-Show "über sexuelle Vielfalt", in der Höcke u.a. saß, gleich mehrmals angesehen, andere aber auch. Er folgert:

"Höckes alberne Wortspiele kommen eben in manchen vergeblich sinnsuchenden Herzen an. Es sind winzige, verdorbene Narrative, die Höcke wie Zuckerstücke auf der flachen Hand hält, um sie zu verfüttern. In fast allen Nachrichtensendungen findet man Höcke, mal mit Wort, mal im Bild, mal mit Wort und Bild. Die als Lügenpresse diffamierten Medien kümmern sich ganz schön um die, die mit dem Lügenvorwurf operieren."

Höckes jüngsten Fernsehauftritt, den er schildert, ist ein Interview, das Dunja Hayali fürs ZDF mit ihm führte. Vater findet:

"Für das ZDF-Morgenmagazin befragte sie im Anschluss an eine AfD-Protestdemonstration in Erfurt Björn Höcke, um zu scheitern. Das Hayali-Höcke-Gespräch wurde zum Lehrstück darüber, wie eine versierte Journalistin an Höcke mal abprallt, mal über seine Narrative für dumm verkauft werden soll. Alles selbstverständlich in netter Form."

Wobei es sich um dasselbe Interview handelt, an dem Hans Hoff am Wochenende (dwdl.de) lobte,

"wie klar Hayali agiert und wie wenig sie sich in den Vordergrund spielt. Sie konterkariert ihre Wissbegierde nicht durch Profilierungsposen. Sie inszeniert sich nicht. Sie flüchtet auch nicht in die Ironie, sie macht ihre Gesprächspartner nicht lächerlicher als die sich selber präsentieren. ... Sie läuft nicht in die Falle, die Höcke mit seiner Rhetorik auftut."

Was nun stimmt, ob Hayali in Höckes Falle gelaufen ist oder gerade nicht, liegt wahrscheinlich großenteils in den Augen der Betrachter, in denen vielleicht sogar Höckes Lächerlichkeit unterschiedlich erscheint.

Genau das aber, was Dunja Hayali tut - mit neuen Rechten reden, auch wenn der Ausgang ungewiss ist - und was dann Vaters und Hoffs Texte anstellen - möglichst konkret das Ergebnis schildern und über den Erfolg streiten -, könnte der beste Weg sein, mit "Lügenpresse"-Vorwürfen umzugehen. Wenn über etwas gestritten wird, bedeutet es schließlich gar nicht unbedingt, dass eine der beiden Seiten unrecht hat, aber ganz bestimmt Meinungsvielfalt.


Altpapierkorb

+++ Noch ist Twitter das relativ sympathischste sog. soz. Netzwerk - aber vielleicht nicht mehr lange. Warum aus dem Stern, den Twitternutzer als Button fürs Favorisieren kennen, ein Herzchen wurde, das verdammt ans doofe Facebook erinnert bzw. arg ans auf der Einnahmeseite viiiel erfolgreichere Facebook, beschreibt u.a. der Standard. +++

+++ Das Wochenend-TAZ-Interview mit dem Geschäftsführer des ARD/ ZDF-Jugendkanals steht inzwischen frei online. Florian Hager will, sagt er, mit Facebooks Löschpraxis spielen. "Nackte Brüste fallen dafür als Lockmittel weg. Die sind bei Facebook und YouTube nicht erlaubt", lautet die vorletzte Frage. "Ja." - "Dann unterwerfen Sie sich diesen Mechanismen?" - "Eben nicht. Weil wir nicht nur auf einer Plattform aktiv sind. Wir werden Videos breit streuen. Werden sie gelöscht, kann man dann seinen eigenen Player ins Spiel bringen und sie dort weiterhin verbreiten. Mit diesem Mechanismus kann man also auch spielen " +++

+++ "Vor einiger Zeit tauchte im Newsfeed indischer Facebook-Nutzer eine Nachricht auf: 'Willst du, dass es in Indien freie Basis-Internetdienste gibt?', hieß es darin suggestiv. Die Frage verwies auf Facebooks umstrittenes Projekt Internet.org: 'Die Mission von Internet.org ist es, jeden auf der Welt mit dem Internet zu verbinden. Zeige deine Unterstützung für ein freies Internet in Indien.' Der Nutzer konnte entweder 'Nicht jetzt' oder 'Ja, ich bin dabei' anklicken. Wenn ein Nutzer dem angepriesenen Vorhaben zustimmte, wurde sein Votum direkt an den lokalen Abgeordneten weitergeleitet ..." Da beschreibt Adrian Lobe auf der FAZ-Medienseite, wie Internetkonzerne Nutzer zu Lobbyisten machen. +++ Ebd. kritisiert Ursula Scheer den Medienwächter-Freispruch für "Germany’s Next Topmodel": "Damit allerdings macht sich die Kommission exakt die perfide Argumentation zu eigen, auf die Heidi Klums Show baut und die da lautet: Unterwerfe dich unter das System, auch wenn es dich krank macht und demütigt, denn es gelten allein die Regeln, die innerhalb dieses Systems herrschen ...." +++

+++ "'Sie sind die Diebe des Internets', kritisierte der Manager. Denn sie hätten den 'Gesellschaftsvertrag aufgekündigt', dass unabhängiger Journalismus Werbeeinnahmen brauche", zitiert der Standard das Springer-Vorstandsmitglied Andreas Wiele wiederum vom Verlegergipfel mit scharfer Kritik am Werbeblocker-Nutzern. +++

+++ Einer der Gründer der Plattform eversport.tv, die "in Skandinavien ... die italienische Fußballliga Serie A, in den USA den Schwimm-Weltcup aus Hongkong, in Deutschland die US-Meisterschaften im Surfen oder das Radrennen Tour of Taihu Lake in China" zeigt, "stammt aus Halle in Westfalen" und wird mit seiner Plattform, an der sich nun auch ProSiebenSat.1 beteiligt hat, heute auf der SZ-Medienseite vorgestellt:  "'Das Fernsehen stirbt. Es stirbt langsam, aber es stirbt', sagt Carl Kirchhoff." +++

+++  "Der Digitalisierungsgrad der deutschen Bevölkerung ist 2015 im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen" (EPD/ evangelisch.de). +++

+++ Das nächste neue Sonntags-Kommissarskrimi-Gespann wird ein deutsch-polnisches und am 20. Dezember außer in der ARD auch im polnischen Fernsehen zu sehen sein (Tagesspiegel). +++

+++ In der Münchener SZ geht's noch um die neue, von Angelika Jahr herausgebrachte Zeitschrift "Hamburg History Live!" ("Das neue Printprodukt passt in den fast endlosen Bestand der Special-Interest-Zeitschriften, der Insider des Kanufahrens und Modelleisenbahnbaus genauso mitnimmt wie Kitesurfer, Hundebesitzer oder Briefmarkensammler. ..."), über die auch das Hamburger Abendblatt kürzlich berichtete. +++ Während die TAZ über das Stadtmagazin "München ist Dreck" berichtet ("Dreck ist für mich ein Synonym für Subkultur", sagt  Veronica Burnuthian, eine der Blattmacherinnen) und leicht enttäuscht ist: "Die Lust am subkulturellen Treiben wird zur Selbstbehauptungsgeste." +++

+++  Und "Filmproduzent Nico Hofmann hat keine moralischen Bedenken mehr" lautet die Bildunterschrift des Standard zum Beitrag über neue Äußerungen des UFA-Produzenten zum harten, schweren Ringen um seine Hitler-Fernsehserie. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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