Vieles eskaliert zurzeit, aber so gleichmäßig, dass man es vielleicht weniger bemerkt.
"Das ist alles so unfassbar traurig. Wir kommen gar nicht hinterher, diese Karte zu aktualisieren",
twitterte, nur zum Beispiel, gestern Jörgen Camrath (?@uniwave). Die Deutschlandkarte, die in dem Tweet zu sehen ist, ist eine von mehreren Karten und Listen, die aktuelle Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verzeichnen bzw. aufführen. Der Brand auf dem Gelände einer ehemaligen Nervenklinik in Berlin-Wittenau, auf dem auch 100 Flüchtlinge leben, von dem die Berliner Morgenpost (deren "Instant Editor" Camrath ist) just berichtet und ein Foto getwittert hatte, fehlt darauf noch. Wobei auch am Donnerstag morgen, dem aktualisierten selben Artikel zufolge, die Brandursache noch unklar ist.
[+++] Auch unfassbar und nicht nur deshalb, weil zwei Fernsehmacher beim Ausüben ihres Berufs erschossen wurden, ein Medienthema ist ein aktuelles Top-Thema vieler vermischter Ressorts. Hier berichtet der US-amerikanische Sender WDBJ7 selbst vom Mord an seinen Mitarbeitern durch einen Ex-Mitarbeiter.
Da deutsche Medien viele Korrespondenten in den USA haben, gibt's auch viele eigene Berichte, die natürlich auf amerikanischen Medien basieren. Während etwa der N 24-Korrespondent aus Washington im unter dem welt.de-Bericht verlinkten Video noch spekulierte, "ob es jemand war, der einfach die Medien hasst", konnte für die TAZ Dorothea Hahn bereits erwähnen, "dass sich der Tatort in dem Bundesstaat mit der stärksten Schusswaffenlobby weltweit befindet".
Allen Berichten gemeinsam und in der Form auch noch nicht dagewesen, sind die Möglichkeiten der Berichterstatter, auch auf die Täterperspektive zuzugreifen:
"Bei der Tat scheinen persönliche Motive eine Rolle gespielt zu haben. Flanagan war unter dem Namen Bryce Williams früher selbst als Reporter für den Sender tätig. ... Der Gouverneur von Virginia ... bezeichnete den Einundvierzigjährigen als 'verärgerten Mitarbeiter'. Der Täter hat sein Verbrechen offenbar selbst aufgezeichnet. Auf dem unter dem Namen Williams geführten Twitter-Konto von Flanagan, einem Afroamerikaner, erschien nach der Tat ein Video aus dem Blickwinkel des Schützen. Aus anderen Twitter-Einträgen gingen mögliche Beweggründe hervor. So hieß es, Alison Parker habe 'rassistische Bemerkungen' von sich gegeben .... Das Twitter-Konto wurde kurz danach abgeschaltet",
berichtete Roland Lindner auf faz.net.
"Dass er als Schwarzer und Homosexueller 'Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Schikane bei der Arbeit' habe erleiden müssen", haben die SZ und frei online etwa welt.de keinem sog. sozialen Medium entnommen, sondern einem beim größeren US-amerikanischen TV-Sender ABC eingegangenem Fax (bzw. Berichten darüber) entnommen.
"Die Bilder wurden in beiden Netzwerken rasch entfernt", hieß es gestern bei fr-online.de (wo inzwischen ein DPA-Bericht steht). Wer sich das Video, das der Mörder selbst über seinen inzwischen gesperrten Account u.a. auf Twitter verbreitet hatte (wo es etwa mit dem Teaser im Hollywood-Sound "Most shocking thing I've ever seen" geteilt wurde), bequem in einem deutschen Nachrichtenportal anschauen wollte, wurde am Mittwochnachmittag fündig bei - der Berliner Morgenpost. Die Onlineredaktion, die auch die traurige, sinnvolle Deutschlandkarte mit aktuellen Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte erstellte, entblödete sich gestern, gleichzeitig nicht, das fürchterliche Video von Youtube einzubetten. Das gehört auch zum Bild. (Am Donnerstagmorgen scheint das Video ersetzt bzw. lässt sich nicht abspielen.)
[+++] Damit nach Heidenau, und zwar mit einem ebenfalls via Facebook (und Twitter) geteilten Stefan-Niggemeier-Fundstück, das unbedingt ins Deutsche Fernsehmuseum gehört, weil es sensationell aufschlussreich zeigt, wie Bertelsmanns RTL dazu beiträgt, die Welt schlechter zu machen. In diesem Fall, indem es ein "Teichferkel"-Gewinnspiel, Angela Merkel am genannten Ort sowie das Top-Thema Pizza in weniger als anderthalb Minuten verband.
Zeitungsreportagen, in denen Reporter beschreiben, wie ihnen "Lügenpresse!" entgegengerufen wird, sind ein schon ganz gut bekanntes Subgenre. Sie gibt's auch heute aus Heidenau. Die Zeitungskommentare werden so heftig (FR: "Das Pack braucht entschlossenere Gegner", SZ: "Hätte die NPD sicher nicht gedacht, dass Demokraten aus Angst vor ihr Einfälle haben, auf die sie bisher nicht einmal selbst gekommen ist"), dass sie fast Sascha-Lobo-Verve gewinnen.
"Genau jetzt findet in Deutschland ein Defining Moment statt, eine der Situationen, die eine Generation prägen können", lautet diese Woche das Lobo-tl;dr (mit spreeblick.com-Bezug). Im Text heißt's u.a.:
"In gewisser Weise ist der Fluch der sozialen Medien, dass Hasskommentare für manche Leute als Anlass und Antrieb für Gewalttaten funktionieren. Hier spielt Facebook eine unselige Rolle."
Indes hat Bundesjustiz- und auch -verbraucherschutzminister Heiko Maas nun einen Brief "an die Europazentrale des sozialen Netzwerks in Dublin und an Facebook Germany geschrieben" und "die Verantwortlichen zu einem Gespräch in sein Ministerium" gebeten, "'um Möglichkeiten zu erörtern, die Effektivität und Transparenz ihrer Gemeinschaftsstandards zu verbessern'" (Tagesspiegel-Exklusivnews). Ob es bei Facebook in Europa Verantwortliche gibt, könnte spannend werden.
"Paradoxerweise führt die 'Webisierung' des Sozialen durch massenhaft gesammelte Profile zu antisozialen Ergebnissen ...",
und
"Die Manager bei den Anbietern sozialer Netzwerke spielen eine entscheidende Rolle bei der Festlegung, was zulässig ist und was nicht",
steht in nicht gleichem, aber ähnlichem Zusammenhang in einem lesenswerten Artikel über "Die Opt-out-Kultur der sozialen Netzwerke" bei netzpiloten.de (und bei irights.info sowie in einem Buch).
Aus diesen Netzwerken springt natürlich der "Das wird man wohl noch sagen dürfen #mundaufmachen"-Kommentar ins Auge, mit dem Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf nicht nur darauf aufmerksam machen, dass ihre Sommerpause vorbei ist, sondern auch den Hassern gegenübertreten. Ihr Kommentar tut gut, weil er deutlich in den Worten ("Keine Fernsehquote, kein Shitstorm kann jemals so schlimm sein wie der Applaus von Leuten, die auch dann laut klatschen, wenn ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer versinkt"), aber nicht von Illusionen geprägt ist. Hier geht's zum Video auf Youtube, hier zum Beitrag des Fachverlags für Youtubevideo-Textbeschreibung, DuMont Schauberg.
"Schämt Euch ein Leben lang für diesen Sommer oder Ihr landet im Nachmittagsprogramm bei RTL",
lautet die ungefähr einzige Pointe. Das passt natürlich zum oben verlinkten Niggemeier-Post; schließlich ist RTLs Mittagsprogramm auch eine Strafe. Es passt gewissermaßen auch, und das gehört ebenfalls zum Bild, wenngleich von einer anderen Seite, zum Bericht des als Medienjournalist keineswegs unumstrittenen, jetzigen Wien-Korrespondenten, Hans-Peter Siebenhaar aus Pristina im Kosovo. Da geht es darum, wie etwa RTL 2 und "Die Geissens" das Bild von dem Deutschland prägen, in das viele Kosovaren streben (handelsblatt.com, wofür ich auch schreibe).
[+++] Im Medienressort im engeren Sinne sorgen die Spannung auf die nächste "hart aber fair"-Ausgabe schürenden Schlagzeilenfüchse vom WDR für Entertainment (Altpapierkorb gestern, vorgestern).
Der Plan, dem zufolge die aus der ARD-Mediathek, aber natürlich nicht dem Internet gelöschte Sendung (bild.de: "Zensur-Skandal") zwar gerade nicht "wiederholt" (berliner-zeitung.de), aber als Remake "in der Originalbesetzung vom März" (Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite unter der Überschrift "Hart aber peinlich") neu aufgeführt werden soll, zieht seine Kreise. Der Hashtag "#genderaberlustig" hat sich noch nicht durchgesetzt, aber die Spezialisten amüsieren sich.
Willi Winkler hat sich das Giftschrank-Stück angesehen und glossiert auf der SZ-Medienseite drauf los, als sei er ein ganz alter FAZ-Feuilletonist ("... und die Schauspielerin Sophia Thomalla romyschneiderte sich an den geschmeichelten Kubicki heran. Erstaunlicherweise fehlte Alice Schwarzer, es wurde also ein lustiger Stammtischabend. Wer die Sendung verpasst hatte, hatte nichts verpasst, abgesehen vielleicht von der ausdrucksvollen Nasenwurzelfaltenmimik von Sophia Thomalla"). Unter der Überschrift "Hart, aber noch mal" antizipiert Margarete Stokowski für die TAZ schon mal die Kritik zum Remake:
"Es wird sich also in der neuen Sendung vermutlich hauptsächlich darum drehen, wie weit die feministische Killerdiktatur in Deutschland schon fortgeschritten ist. Gar nichts darf man mehr sagen, blabla, man darf auch nicht mehr flirten, blabla, man darf ja wohl überhaupt gar nichts mehr. Dabei wird man ja wohl noch feststellen dürfen, dass Hunde halt an Bäume pinkeln."
"Wie ein vorzeitig abgebrochenes Fußballspiel", scherzt Funke-WAZs Jürgen Overkott bei kress.de. Christian Meier von Springers Welt kommt am Ende aufs "absurde Theater".
Und während also alle alle Witze über die Innovation des Talkshowausgaben-Remake machten, hat der WDR seine eigene Stellungnahme vom Montag noch mal dahingehend aktualisiert, dass das Casting für kommenden Montag genregemäß noch nicht abgeschlossen sei:
"Es liegt daher in der Natur der Sache, dass eine finale Gästerunde für eine Sendung, die in den kommenden Wochen laufen soll, noch nicht feststehen kann. Es ist üblich, dass die Redaktion in der Vorbereitung einer 'hart aber fair'-Sendung mit vielen möglichen Diskussionspartnern spricht. Darunter sind für die erneute Sendung über Gleichstellung auch Personen, die in der Sendung 'Nieder mit den Ampelmännchen' vom 2.3.2015 zu Wort gekommen sind. Die Redaktion fragt aber darüber hinaus zu dem Thema auch andere mögliche Gäste an. Aus den Anfragen lässt sich aber keinesfalls die finale Konstellation der Talkrunde ableiten."
+++ "Die Übereinkunft war bislang nicht öffentlich. Abzuwägen war, ob es gerechtfertigt ist, das Dokument in seinem Wortlaut bekannt zu machen. Wir dokumentieren die Übereinkunft, weil sich die Öffentlichkeit damit selbst ein Bild davon machen kann, welchen Preis deutsche Nachrichtendienste zahlen müssen, wenn sie Hilfe von ihren amerikanischen Kollegen wollen. Wir dokumentieren sie, weil die Übereinkunft die Gefahr birgt, dass Grundrechte deutscher Staatsbürger verletzt wurden und das Risiko besteht, dass dieser Zustand noch immer nicht beseitigt ist ...": Jetzt ist auch zeit.de unter die Ausspähungs-Dokumente-Veröffentlicher gegangen, und das nicht ohne im eigentlichen Artikel an die kurzzeitig des Landesverrats verdächtigten Kollegen von netzpolitik.org zu denken ("Wie wichtig XKeyscore für das BfV mittlerweile ist, lässt sich noch an einer anderen Stelle ablesen: Vor Kurzem veröffentlichte die Webseite Netzpolitik.org vertrauliche Haushaltsunterlagen aus dem Jahr 2013, aus denen hervorgeht, dass im BfV 75 neue Stellen geschaffen werden sollen, um die 'Massendatenauswertung von Internetinhalten' zu bewältigen ... Die Vermutung liegt nahe, dass diese Einheit mit dem Ziel geschaffen wurde, die neue Überwachungssoftware einzusetzen.") +++
+++ Bertelsmanns Gruner + Jahr macht die Welt ein bisschen besser und "wird in dieser Woche 2.000 Decken in die Erstaufnahmeeinrichtungen in vier Hamburger Stadtteilen ... bringen", und zwar "anstelle von Geschenken für die Gäste" seiner 50-Jahre-Feierlichkeit. Hier geht's zur von Frank Thomsen verantworteten Pressemitteilung. +++ "Ein gutes, weil konkretes Zeichen der Hilfsbereitschaft" (meedia.de). +++ "Die neue Vorstandsvorsitzende Julia Jäkel sprach so fröhlich und aufgeräumt von der Zukunft, wie man das in unserer von Melancholie verhangenen Branche schon lange nicht mehr gehört hatte" (Gabor Steingart in seinem Morgen-Newsletter). +++
+++ Der beste Witz des Tages steht am Anfang von Ralf Wiegands Besprechung des heutigen Uli Hoeneß-Films im ZDF (bzw. beider Filme, also auch des kommende Woche von Sat.1 gesendeten): "Wer fehlt, ist Yanis Varoufakis. Er hätte sicher auch noch etwas beitragen können zum Vorhaben des ZDF, Uli Hoeneß zu erklären, um fassbar zu machen, wie dieser so moralische Mann fast seine Existenz verzockt hätte, neben seinem Ruf. Und auf einen Erklär-Bär mehr wäre es nicht angekommen. 46 Interviews haben die Macher des Fernsehfilms 'Uli Hoeneß – Der Patriarch' ohnehin geführt ..." Dass diese Macher teils in der SZ selbst sitzen ("Buch: Juan Moreno, SZ-Redakteurin Annette Ramelsberger, Johanna Behre") steht ebenfalls drin. +++ "Dem Zuschauer zerbricht mitunter der Richterstab – was kann Fernsehen mehr leisten? Aber das ist noch nicht alles in dieser Woche der Hoeneßiade auf dem Bildschirm. Das Beste kommt noch ..." (Nikolaus von Festenberg im Tagesspiegel). +++
+++ "Noch härter" könnte der nächste Kampf um Bundesliga-Fernsehrechte werden, und zwar unter anderem, weil RTL mitbieten könnte, meint dwdl.de. +++
+++ Dass die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler "bei einem Besuch der Medienambulanz des LWL-Universitätsklinikums Bochum" ankündigte, "das Thema Mediensucht stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken" zu wollen, steht hier nebenan (wo auch die Preisträger des Robert-Geisendörfer-Preises genannt werden).+++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.