In Brüssel diskutieren zu diesem Zeitpunkt immer noch 19 Regierungschefs über die Zukunft Griechenlands in der Eurozone. Wahrscheinlich muss man heute Morgen jedem Korrespondenten dazu gratulieren, in dieser Situation nicht längst eingeschlafen zu sein. Journalisten sind selbst auf solchen historischen Konferenzen die wartende Klasse. Im Gegensatz zu den Akteuren in den diversen Verhandlungssälen werden sie nicht von der Anspannung des Handeln müssen wach gehalten. In früheren Zeiten waren allerdings die Möglichkeiten der Berichterstattung begrenzt. Livesendungen reduzierten sich auf auf die wenigen Minuten im Radio und Fernsehen. Zeitungen spielten als Livemedien überhaupt keine Rolle.
Das hat sich geändert. Seit Samstag wird aus Brüssel ununterbrochen berichtet. Journalisten sind zwar nicht bei den Verhandlungen dabei, werden aber von den dort beteiligten Delegationen fortlaufend informiert. Diese Informationen sind nicht objektiv, können es auch gar nicht sein. Sie reflektieren lediglich die Interessen der handelnden Akteure. Vor allem die in Brüssel wartenden Journalisten aus 19 Eurostaaten haben dabei die Funktion, ihre jeweilige nationale Öffentlichkeit über das zu informieren, was in Brüssel geschieht. Allerdings aus der Perspektive der Regierungen. Denen geht es nämlich nicht in erster Linie darum, eine gute Lösung für Griechenland und die Eurozone zu finden, sondern die späteren Entscheidungen vor der eigenen Öffentlichkeit legitimieren zu können. In der EU hat man dabei das Spezifikum, neunzehn nationale Öffentlichkeiten koordinieren zu müssen. Die Regierung in Athen muss die Kritiker der Sparpolitik genauso an Bord halten, wie die Kollegen in Helsinki die Gegner jedes weiteren Zugeständnisses an Griechenland. Das gilt jeweils für alle 19 Eurostaaten.
Erst wenn die Dramatik deutlich geworden ist, die ein Scheitern bedeutete, kann man später gegenüber den Kritikern in den eigenen Reihen deutlich machen, alles versucht zu haben. Dabei – und nur dabei - spielen Journalisten eine entscheidende Rolle. Das war am Sonntag zu erleben als der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einen sogenannten Plan für einen „Grexit auf Zeit“ in der Runde der Euro-Finanzminister vorstellte. Es folgte in den sozialen Netzwerken ein Shitstorm, der unter #ThisIsACoup firmierte und nach einem Blogeintrag von Krugman erst so richtig Fahrt aufnahm. Es galt als der Versuch eines Staatsstreichs, wenn man Griechenland gegen den ausdrücklichen Willen der griechischen Bevölkerung aus den Euro herauswerfen wolle. Die fehlende politische Legitimation für einen Grexit hatte aber erst das halsbrecherische Manöver von Alexis Tsipras erzwungen. Es ist zudem die Voraussetzung für die Unterstützung der Opposition in Athen für die eigene Regierung.
Nun war immer klar gewesen, dass ein Grexit nicht politisch beschlossen werden kann. Wenn Schäuble ihn durchsetzen wollte, hätte er lediglich abwarten – und jeden Vorschlag mit Bedauern als unzureichend zurückweisen müssen. Die offene Thematisierung erzeugte zwangsläufig politische Widerstände, vor allem unter anderen Eurostaaten wie Frankreich und Italien. Diese Position wäre nur durchzusetzen gewesen, wenn man es auf den offenen Bruch mit diesen beiden Gründungsmitgliedern der Eurozone hätte ankommen lassen. So wurde das entsprechend als Drohung mit einer historischen Wende der deutschen Europapolitik interpretiert. Nun kann man zwar Schäuble für eine Neuauflage des politisch ahnungslosen Spieltheoretikers Giannis Varoufakis halten, aber für diese historische Wende gibt es in der deutschen Politik keinen Konsens. Außer wenigen Außenseitern wird niemand in Deutschland einen Bruch mit den beiden Gründungsmitgliedern der EU riskieren. Der Grexit war als politische Option mit Schäubles sogenannten Plan mausetot. Die deutschen Journalisten in Brüssel transportierten damit eine Botschaft: Ein Grexit mag ökonomisch sinnvoll sein, wird aber einen wesentlich höheren politischen Preis kosten als er Nutzen brächte. Ein möglicher Kompromiss in Brüssel ist vor diesem Hintergrund zu bewerten. Jeder Bundestagsabgeordnete und die Kommentatoren in den Leitmedien werden ihn vor dem Hintergrund dieser vergangenen zwei Tage bewerten müssen. Erst die Dramatik dieser historischen Tage in Brüssel macht ihnen deutlich, was auf dem Spiel steht.
Das ist keine Inszenierung mit einem vorher verabredeten Drehbuch. Die Dynamik solcher Prozesse kann man nicht planen. Es sind mit 19 Eurostaaten zu viele Akteure auf dem Verhandlungsplatz, um jede Wendung vorherzusehen. Daher kann ein Kompromiss immer scheitern, wenn etwa einem Mitspieler die innenpolitischen Kosten einer Einigung zu hoch erscheinen sollten. Deshalb ist die Dramatik durchaus authentisch, soweit Politiker wegen ihrer Handlungszwänge überhaupt authentisch sein können. Journalisten sind als Transporteure der gewünschten Botschaften unverzichtbar. Dafür muss man heute nur einen beliebigen Radio- oder Fernsehsender einschalten, der die Dramatik vermittelt. Gleichzeitig versuchen allerdings externe Beobachter über soziale Netzwerke wie Twitter auf diese Entwicklung Einfluss zu nehmen. Das ist fruchtlose Bemühung, weil sachliche Erwägungen in solchen Situationen keine Rolle mehr spielen. Die Erwartung, einen Minister in diesen Verhandlungen noch erreichen zu können oder gar zu einem Meinungswandel zu motivieren, ist naiv. Auch ein Paul Krugman wird sich nicht in letzter Minute von Schäuble zu einem Positionswechsel überreden lassen. Twitter ist als journalistisches Medium ein Resonanzverstärker, mehr nicht. Aber es kann bei den Beobachtern den Eindruck suggerieren, dabei zu sein. Ob sich so langfristige Überzeugungen verändern lassen, wird man sehen.
Was man daraus lernt? Der deutsche Finanzmister ist der bessere Spieltheoretiker als sein früherer Amtskollege aus Athen. Wolfgang Schäuble versteht nämlich etwas von der Praxis. Ob das Griechenland am Ende helfen wird? Das Drama der vergangenen Tage ist nur der Auftakt für die eigentlichen Verhandlungen zwischen der EU und Griechenland. Dann geht es um die Fußnoten bei hoch komplexen Inhalten, wo ohne die mediale Begleitmusik der vergangenen Tage der Handlungsspielraum auf allen Seiten größer wird. Nach aller Erfahrung wird die Medienkarawane dann schon längst weiter gezogen sein. Insoweit besteht wohl Hoffnung.
Altpapierkorb
+++ Das Wochenende war in den Medien natürlich von dem geprägt worden, was heute in Brüssel vorläufig entschieden worden ist. Spiegel und Focus machten mit Griechenland-Titeln auf. Allein die Bild am Sonntag vertraute nicht auf die Durchschlagskraft dieses Themas. Sie machte mit dem Wechsel des Fußballers Bastian Schweinsteiger von Bayern München zu Manchester United auf. Die Chefredakteurin Marion Horn diagnostiziert offensichtlich einen gewissen Überdruss bei ihrer Leserschaft bezüglich dieses Themas. Selbst historische Ereignisse können auf das Desinteresse des Publikums stoßen.
+++ Grundsätzlicher beschäftigte sich am Sonntag Harald Staun auf der Medienseite der FAS mit dem Thema. Er zitiert unter anderem den Ökonomen Heiner Flassbeck, der schon seit 15 Jahren in Büchern, Interviews und seinem Blog auf die Funktionsdefizite der Eurozone aufmerksam macht. Flassbeck hatte über Gespräche mit Journalisten berichtet, wo sie deren ökonomische Ahnungslosigkeit eingestanden hätten. Für Staun ist das ein Ausdruck für die Beschränktheit der deutschen Debatte über das Thema. Dabei formuliert er einen interessanten Satz, was der deutschen Debatte fehle. Man finde „alles über Text und und Geist der Verträge von Maastricht – nur nichts über die Frage, ob man sie nicht doch noch einmal neu verhandeln müsse.“ Er blendet politisch alles aus, was ansonsten diskutiert wird. Gerade die Kritik am Status Quo in Europa ist zu einer wichtigen Kraft geworden. Ob der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland. Sie alle wollen die europäischen Verträge in der Erwartung neu verhandeln, dass diese Verhandlungen scheitern werden. Flassbecks Problem ist somit nicht die Borniertheit von Journalisten, sondern die fehlende politische Kraft, die seinen Positionen Durchschlagskraft verleihen könnten.
+++ Dazu passt auch diese Kontroverse zwischen dem Kanzleramtsminister Peter Altmaier und dem Bild-Journalisten Julian Reichelt auf Twitter. Die Annahme, Reichelt fehle es an Hintergrundwissen, ist mutig. Er weiß, was er tut.
+++ Heute wird das Interview mit der Bundeskanzlerin von Florain Mundt alias LeFloid ausgestrahlt. Es war am Freitag produziert worden und zeigt, welche Parallelwelten existieren. Die Bundeskanzlerin findet zwischen zwei historischen EU-Gipfeln für den Nachwuchsstar am deutschen Unterhaltungshimmel Zeit. Welche Fragen zu erwarten sind? Die Süddeutsche Zeitung gibt Auskunft. Auch wenn die Zeitung ihren Bericht nach der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie geschrieben haben sollte. Folgende Frage beschreibt den Geisteszustand in Teilen unserer Jugend: „Können Sie die Krise in Griechenland allgemeinverständlich erklären?“ Es ist die Frage eines Fünfjährigen an seine Eltern. Auf die Idee, dass es diese Erklärung nicht gibt, kommt der Fragesteller nicht. Somit auch nicht auf das Politische in der Interpretation der Kanzlerin. Ihre Antwort muss zwangsläufig umstritten sein. Es ist der Verlust politischen Denkens, der hier zum Ausdruck kommt.
+++ Wie Twitter das Nachrichtengeschäft verändert, beschrieb schon am Samstag ebenfalls in der Süddeutschen unter anderem dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger: „Aber Twitter verändert inzwischen nicht nur das Tempo, sondern auch das Denken.“
+++ Freitagnacht war der Welt ein Versehen passiert. Sie meldete den Tod von Helmut Kohl. Nach 102 Sekunden löschte sie zwar die Mitteilung. Sie war aber schon nicht mehr zurückzunehmen und sprichwörtlich in der Welt. 102 Sekunden reichten, um die Kollegen auf den Plan zu rufen. Dazu etwa DWDL über die Nachrichtenagentur dts, die diese Mitteilung weiter verbreitet hatte. Deren Chefredakteur Michael Höfele rechtfertigt sein Handeln so: „Da wir als kleine Nachrichtenagentur auf 'Breaking News' spezialisiert sind, konnte die Angelegenheit nicht einfach nicht beachtet werden", schreibt der Chefredakteur und betont, man habe versucht, Kohls Büro zu erreichen - dort sei allerdings schlicht niemand ans Telefon gegangen. Aus diesem Grund habe sich der Nachtredakteur für die bereits erwähnte Formulierung entschieden, die "vollständig der Wahrheit entspricht". Wie man in 102 Sekunden solche Meldungen nachprüfen will, ist zwar ein Rätsel. Aber ein Anruf mitten in der Nacht im Büro des früheren Bundeskanzlers hat bekanntlich Aussichten auf Erfolg. Nur ist die These vom vorbereiteten Nachruf, der laut den stellvertretenden Welt-Chefredakteur Oliver Michalsky für die Panne verantwortlich sein soll, nicht plausibel. Seit wann werden Eilmeldungen vorbereitet? Und woher weiß man schon vorher, dass Kohl in der Nacht sterben wird?
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.