Hooligans gegen Helmut Schmidt

Hooligans gegen Helmut Schmidt

Ein Angriff auf die Rundfunkfreiheit, eine unterirdische Sendung im Dritten Programm des HR und ein Welt-Autor, der von einem Rapper und dessen Fans bedroht wird. Außerdem: Ist der Stern jetzt doch bereit, seine eigene Gründungsgeschichte so zu erzählen, wie sie war? Darf ein integrer Journalist eine Intervieweinladung von RT deutsch annehmen?

Zum Einstieg bedanken wir uns heute erst einmal beim Senat der Freien und Hansestadt Hamburg für die verhältnismäßig klaren Worte, die er in dieser Woche zum Thema Rundfunkfreiheit gesprochen hat:

„Grundsätzlich ist die Tätigkeit eines verdeckten Ermittlers im Rahmen seiner Legende auch bei einem Radiosender nicht ausgeschlossen.“

Dieses Statement ist Teil einer Antwort (PDF hier) auf eine Anfrage der Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider (Die Linke), auf die unter anderem das Neue Deutschland und Spiegel Online eingehen. Hintergrund der Äußerung ist der Einsatz einer geheimdienstartig arbeitenden verdeckten LKA-Ermittlerin beim Radiosender Freies Sender Kombinat (FSK) in der Zeit zwischen 2003 und 2006. Sogar sechs Jahre lang hat die Staasdienerin unter dem nom de guerre Iris Schneider im Kulturzentrum Rote Flora spioniert - „auch unter Einsatz ihres Körpers“ (FAZ). Beziehungsweise: „Es ist eine Geschichte wie aus einem Thriller“ (SZ.de).

Der Fall geht seit Anfang des Monats durch die Medien (hier eine Presseschau). Weil nun der Senat den Einsatz zuzugeben hat, zieht die Berichterstattung noch einmal an. Im Mittelpunkt steht allerdings die Agententätigkeit in der Roten Flora - so erklärt sich der Hashtag #floragate -, weniger Iris Schneiders Wirken als Redakteurin und Moderatorin fürs linke Bürgerradio und der damit verbundene „polizeiliche Eingriff in die verfassungsrechtlich zu schützende Medienfreiheit" (Verdi-Medien-Fachbereichsleiter Martin Dieckmann u.a. laut SZ.de).

„Die Zugangsstruktur eines offenen journalistischen Mediums mit Bürgerfunk-Funktion ist hier mit schlimmen Folgen für einen allgemeineren gesellschaftlichen Umgang instrumentalisiert worden. Mit dem ‚Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen‘ und ‚re[h]v[v]o[l]lte radio‘ sind zwei Sendungen gezielt aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung observiert worden“,

schreiben die Betroffenen in dem ihnen eigenen Jargon.

Die Gewichtung in der Debatte könnte sich dank der hemdsärmeligen Auslegung des Grundgesetzes durch den Senat, die in dem eingangs erwähnten Zitat zum Ausdruck kommt, nun vielleicht ändern. Es dürfte sich jedenfalls der eine oder andere Jurist finden lassen, der vom Redaktionsgeheimnis und Informatenschutz eine höhere Meinung hat als die Hamburger Stadtregierung.

[+++] Der Freitag blickt im Medientagebuch seiner neuen Ausgabe zurück auf die „Toleranzwoche“ der ARD, deren Beiträge „mit einer Ausnahme“ –  gemeint ist „Das Ende der Geduld“ (siehe Altpapier) - „erstaunlich gut“ gewesen seien. Das ist generell ein kühnes Urteil, denn: Wer kann wirklich von sich sagen, alle Beiträge gesehen zu haben? Ich habe nur einen Beitrag gesehen, und der ist mit „erstaunlich schlecht“ noch wohlwollend umschrieben: die HR-Sendung „horizonte“ zum Thema „Der Tanz um die Toleranz" vom vergangenen Sonnabend. Die Sendung hatte vorab Ärger auf sich aufgezogen wegen ihres Ankündigungstextes und wegen der Einladung Matthias Matusseks als Studiogast (siehe u.a. Altpapier und FR), und nun kursiert sie durch diverse Timelines. Wobei auffällig ist, dass insgesamt zu viel über den Ankündigungstext diskutiert wird und zu wenig über die Sendung.

####LINKS#### Was Matussek sagt, kann man an dieser Stelle vernachlässigen. Aus medienkritischer Sicht relevant sind vor allem die Anmoderation (inclusive Gestik, Mimik und Tonfall), die Diskussionsführung, die Einspieler. Jeder, der irgendwas mit Medienkritik macht, sollte zumindest die ersten Minuten dieser „horizonte“-Ausgabe gesehen haben. Sollte zum Beispiel gesehen haben, wie der Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard zum Ausdruck bringt, dass ihm der „Tanz um die Toleranz“ „auf den Geist geht“. Es folgt ein Auftakt-Einspieler, in dem bildlich Beispiele für „unsere“ Toleranz aneindergereiht werden - gegenüber schwulen Fußballspielern, Börsenzockern und dem unerlaubt rauchenden Helmut Schmidt (nein, ich habe mir diese Zusammenstellung nicht ausgedacht). Dann fragen die Autoren: „Doch wie lange geht das gut? Was brodelt unter der Oberfläche? Geht der Schuss nach hinten los?“ - und zeigen dazu „Wir wollen keine Salafistenschweine“ brüllende HoGeSa-Demonstranten. 

Kürzer gesagt: Es ist „einer der bemerkenswertesten Einspielfilme, der in den letzten Jahren in einer Talkshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen gewesen sein dürfte“, schreiben die Kollegen von publikative.org. Und die müssen es wissen, denn sie arbeiten selbst für die Öffentlich-Rechtlichen. Unbedingt auch das Protokoll des HR-Live-Chats lesen (den Hinweis verdanke ich @lazulina), in dem sich Schmidt-Degenhard und ein weiterer Redakteur um Kopf und Kragen reden (Kostprobe hier). 

[+++] Vor ca. zwei Wochen war an dieser Stelle die Rede vom „schwer totzukriegenden Mythos, Henri Nannen habe den Stern ‚erfunden‘“. Vielleicht ist er doch totzukriegen, zumindest gibt es Indizien dafür in einem Beitrag Thomas Schulers für die Berliner Zeitung. Er hat beim Gruner + Jahr nachgefragt, wie man dort Tim Tolsdorffs verdienstvolle Studie „Von der Stern-Schnuppe zum Fix-Stern. Zwei deutsche Illustrierte und ihre gemeinsame Geschichte vor und nach 1945“ einschätzt (siehe auch mein vor einem Monat im Freitag erschienener Artikel und zum Beispiel dieses Altpapier). Tolsdorff weist hier nach, dass das Grundkonzept von Nannens Stern von einer Film- und Kulturillustrierten stammt, die zwischen September 1938 und September 1939 erschien und ebenfalls Stern hieß. G+J-Chefin Julia Jäkel sagt nun:

„Es gibt nun wirklich überhaupt keinen Grund, diese Erkenntnisse unter den Teppich zu kehren. Als Historikerin wäre mir das sowieso unvorstellbar (...) Wir romantisieren und verklären nicht, sondern haben ein Interesse an der Wahrheit.“

[+++] Büßt ein Journalist seine Integrität ein, wenn er sich von RT deutsch (siehe u.a. Altpapier von Montag) interviewen lässt? Olaf Sundermeyer hat wegen einer entsprechenden Anfrage an ihn bei Kollegen nachgefragt - „Die Resonanz ist recht eindeutig: ‚Yes‘ (BBC); ‚ja, oder du nutzt die Gelegenheit, denen zu sagen, was du von ihnen hältst‘ (Netzwerk Recherche); ‚ja‘ (rbb); ‚schwierig‘ NDR) [...]“ -, dann aber trotzdem zugesagt. In der FAZ berichtet er nun über seine Erfahrungen - und versichert uns, dass er „keiner zweiten Einladung von RT deutsch“ mehr nachkommen werde.
   
Um den neuen Sender geht es auch im Aufmachertext der SZ-Medienseite:

„RT Deutsch schweigt. Die deutsche Ausgabe des Kreml-Senders Russia Today, die sich im Internet laut und aggressiv präsentiert, wird auf einmal ganz still, wenn sie selbst Anfragen von Journalisten erhält. Ja, ein Redaktionsbesuch sei prinzipiell möglich, schreibt Chefredakteur Ivan Rodionov zunächst per Mail. Doch dann kommt es nicht dazu. Der Chef taucht ab, meldet sich nicht mehr.“


Altpapierkorb

+++ „Gegen 22:40 Uhr wird das erste Mal meine Adresse mit mehreren Bildern meines Wohnhauses veröffentlicht. Nicht von Fler. Sondern von einem Fan.“ Der Welt-Autor Frédéric Schwilden beschreibt, wie ein Rapper und dessen Anhänger ihn wegen einer missliebigen Glosse bedrohen.

+++ „Was Google wirklich weiß“ (und wie man in Bezug auf persönliche Daten verhindern kann, dass der Konzern sein Wissen mehrt), weiß die FAZ.

+++ Tobias Schwarz, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Netzpolitik von Bündnis 90/Die Grünen Berlin, tut bei politik-digital.de seine Begeisterung kund über das Koalitionsvertrags-Kapitel zur Netzpolitik, das seine Parteifreunde in Thüringen gemeinsam mit der SPD und der Linke gezimmert haben. Es lese sich „wie ein Wunschzettel der netzpolitischen Szene“. Am Ende merkt Schwarz aber an, dass es sich „nur um einen Koalitionsvertrag handelt, der erst auch einmal so umgesetzt werden muss, wie er verabredet wurde“.

+++ Apropos #r2g: So sieht die taz-typische taz-Titelseite heute aus. +++ Die taz-Medienseite nimmt ein Gerichtsverfahren auf den Philippinen in den Blick: „Fünf Jahre nach dem größten Massenmord an Journalisten stockt der Prozess.“

+++ Wer griff am Donnerstag in Hamburg „zum Megaphönchen“? Thomas Rabe war‘s, der Bertelsobermann und G+J-Aufsichtsrat, der sich im Rahmen einer Tagung des Kontrollgremiums mit Protesten der Mitarbeiter konfrontiert sah. Siehe Fotostory bei meedia.de.

+++ Bei tagesschau.de denkt man über eine neue Strategie in Sachen Nutzerkommentare nach. Siehe einen Bericht in eigener Sache sowie einen Remix bei meedia.de.

+++ Thomas Frickel, der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, macht in der Funkkorrespondenz einen Vorschlag: „Die Idee eines zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen Informationsangebots darf nicht immer nur wie ‚ARD‘ und ‚ZDF‘ buchstabiert werden. Denkbar sind auch unabhängig und direkt – also ohne schwerfällige zwischengeschaltete ‚Sender‘-Apparate – produzierte öffentlich-rechtlich kontrollierte Inhalte von hoher kultureller Qualität und weitreichendem gesellschaftlichen Nutzen, die der Öffentlichkeit direkt im Internet zugänglich gemacht werden. Daraus könnte sogar so etwas wie ein öffentlich-rechtliches Konkurrenzsystem entstehen, das die bestehenden ‚Anstalten‘ aus ihrer Selbstgefälligkeit reißt, einen ‚Markt‘ für qualitativ hochwertige Produkte schafft und unserem Land einen nie da gewesenen Kreativitätsschub bringt. Zehn Prozent der Haushaltsabgabe sollten für frei produzierte öffentlich-rechtlich beaufsichtigte Internet-Projekte bereitgestellt werden (...)“

 +++ „Fragile Mitte - Feindselige Zustände“, eine neue Rechtsextremismus-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (PDF hier), mag die Lektüre wert sein. Spiegel Online und SZ.de wecken mit bemerkenswert trivialen Headlines („AfD-Anhänger tendieren zu Rassismus und Homophobie“ bzw. „AfD-Anhänger neigen zu Rassismus“) allerdings keine Neugierde.

+++ Die gröbste - indirekte - Beleidigung, die Stefan Niggemeier jemals über sich gelesen haben dürfte, findet sich in einem neuen „Lexikon“-Beitrag Peter Turis: „Meedia-Co-Chefredakteur Stefan Winterbauer (müht sich) im Niggemeierschen Gestus des Besserwissenden.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

weitere Blogs

Warum Weihnachten hinter einer Mauer liegt und was sie überwinden kann.
In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.