Medien haben die Aufgabe, die Welt darüber zu unterrichten, was auf ihr passiert. Heute ist dafür ein guter Tag. Man kann wirklich nicht sagen, es sei nichts passiert. Wahlen in Deutschland und Schweden, die erneute Hinrichtung einer Geisel durch ISIS und eine Demonstration in Berlin gegen Antisemitismus. Von der Ukraine gar nicht zu reden. Wobei im letzteren Fall, wenn nicht soviel darüber geredet wird, von einem guten Tag auszugehen ist. Es ist ein Indikator für Entdramatisierung. Zwar wurde noch nie in der Geschichte der Menschheit soviel berichtet wie heute, aber gleichzeitig sind die Medien als Institutionen in die Krise geraten. Der Spiegel sucht die Balance zwischen online und print. Die FAZ einen neuen Herausgeber als Nachfolger Frank Schirrmachers. Beim Stern und dem Focus hat man zwar neue Chefredakteure, aber trotzdem keine Ahnung, wie die Zukunft aussieht. Wie auch? Schließlich gilt es zuerst zu klären, in welcher Welt man lebt bevor man wissen kann, wie Medienunternehmen als Institutionen funktionieren können. Im Kapitalismus ist es die Suche nach dem Geschäftsmodell, um Wissen und Informationen zu verwertbaren Gütern zu machen.
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Ein gutes Beispiel für diese Schwierigkeit ist Carta. Dort unterlag Mit-Herausgeber Wolfgang Michal im Machtkampf um die zukünftige Ausrichtung seinen Kollegen im Förderverein. Der Arbeitsvertrag der verdienstvollen Redakteurin Vera Bunse wurde nicht verlängert. Der Förderverein wolle in Zukunft stärker auf die redaktionelle Linie Einfluss nehmen, so hieß es. Nun ist dieses Ansinnen eines Fördervereins im deutschen Verbandswesen ungewöhnlich zu nennen. In der Regel unterstützt er materiell und ideell das Anliegen eines Verbandes. Diese wird ansonsten mit guten Gründen von der operativen Verantwortung für den Verein getrennt. Warum das hier plötzlich anders sein soll, ist nicht klar. Aber Michal hat dazu einen Brief an die Autoren des Blogs angekündigt, um den Hintergrund dieses Vorganges aus seiner Sicht zu erläutern. Aber der Konflikt bei Carta berührt ein grundsätzliches Problem, wie in deren Stellungnahme deutlich wurde:
„Hinter den Kulissen gab es Uneinigkeiten zu Organisation und Selbstverständnis. Carta als ein Netzwerk der Autoren, des Vereins, des Beirats, der Herausgeber, des miteinbezogenen Publikums und der Redaktion oder Carta als kommerzielles Verlagsprojekt? Wir, die Herausgeber und der Vorstand des Carta e.V., sehen Carta als nichtkommerzielles Gemeinschaftsprojekt, das vom Verein und seiner Philosophie getragen wird.“
Während man bei den Flaggschiffen der deutschen Medienbranche das Gefühl nicht los wird, zu „nichtkommerziellen Gemeinschaftsprojekten“ degradiert zu werden, wird bei Carta in die umgekehrte Richtung gedacht? Nämlich wie unter den Bedingungen der digitalen Revolution ein kommerzielles Verlagsprojekt möglich sein könnte? Dass ein solches Ansinnen einen Förderverein überfordern könnte, wäre nicht überraschend. Es überforderte bisher auch alle Verlage, trotz deren aus historischer Erfahrung gespeister Philosophie, dass ohne dieses Internet die Verwertbarkeit von Information und Wissen kein Problem gewesen war. Sie verdienten früher Geld wie Heu, wobei im Gegensatz zum deutschen Verlagswesen die deutsche Landwirtschaft nach 1945 notorisch in der Krise steckte. Was man in dieser Lage machen muss? Die FAZ versucht es klassisch: Im Dialog mit den Lesern am kommenden Montag in Frankfurt am Main.
+++ Was Carta mit dem Relaunch am kommenden Mittwoch beabsichtigt, außer der Informationsflut noch eine Tröpfcheninfusion zu verpassen, ist nicht klar. Wie diese Informationsflut aussieht, lässt sich auf Twitter unter dem Hashtag #indyref nachvollziehen. Am Donnerstag müssen (dürfen und können geht auch) die Schotten über ihre Unabhängigkeit entscheiden. So findet man dort etwa diesen Artikel Peter MacLeods in der Canberra Times. Canberra ist die Hauptstadt Australiens und so nah wie nie. Aber wer ist Peter MacLeod? Ein Auswanderer aus Schottland. Er schreibt dort über das Referendum in seiner Heimat. Wo das früher nur für Australien relevant war, hat heute jeder weltweit die Möglichkeit zur Partizipation. Gleichzeitig ist aber unsicher, ob überhaupt jemand außerhalb Australiens (und der Leser des Altpapiers) diesen Artikel überhaupt wahrgenommen hat. In den kommenden Tagen wird die Berichterstattung über Schottland exponentiell zunehmen. Aber wie #indyref zeigt, ist diese schon heute nach der Philosophie gestaltet, den auch der Förderverein von Carta vertritt. Die meisten Tweets kommen von Menschen, die ihre Medienaktivitäten als „nichtkommerzielles Gemeinschaftsprojekt“ verstehen. Nur beziehen sie sich zumeist auf die Medien, die auf ein Geschäftsmodell angewiesen sind, um funktionieren zu können. Gleichzeitig aber, und das wird in diesem Artikel deutlich, haben sie eine publizistische Aufgabe. Diese nennt sich Meinungsbildung. MacLeod hat dazu eine interessante Sichtweise:
„Yet, despite Scotland's strengths, there is a fear campaign being waged by the British government, the media and, of course, other Scottish politicians who don't want to cut the apron strings from the Mother Country. The onslaught of scare campaigns would make Dick Cheney blush. Unfortunately the lack of belief that Scotland could prosper does not just exist in the big newsrooms in London. Of the 37 newspapers in Scotland, only one supports independence. This is despite the fact that recent polls put both the "Yes" and "No" sides neck and neck. This is a direct result of a culture Scotland has only started to grow out of recently.“
Es ist faszinierend. Zwar braucht jeder immer noch die Medien ohne Geschäftsmodell, um sinnvoll über #indyref reden zu können. Aber gleichzeitig sind diese Medien nicht in der Lage, das zu machen, was ihnen immer vorgeworfen wird: Die Meinungsbildung zu manipulieren. Die Medien können umgekehrt auch keine Putin-Trolle für den Dissens zu Teilen des Publikums verantwortlich machen. Der Ausgang des Referendums ist somit völlig offen, obwohl die britischen Medien (und auch die Deutschen) die schottische Unabhängigkeit als einen Sturz ins Ungewisse betrachten und sie deshalb ablehnen. Das ist ein konservativer Reflex. Einen Grund formuliert Iain Macwhirter vom Herald Scotland, der am kommenden Donnerstag für die Unabhängigkeit stimmen wird:
„The UK media descended on Scotland as if upon a foreign country and demonstrated its ignorance of a mature debate that has been going on in Scotland, not just for the past three years but the past three decades.“
Zum Thema im Tagesspiegel auch ein Interview mit der schottischen Schriftstellerin A.L. Kennedy und Die Presse aus Österreich. Unter #indyref versuchen das die Medien-Amateure unter den schottischen Nationalisten durch Begeisterungsfähigkeit und Engagement wettzumachen. Man wird sehen, was am Ende herauskommen wird.
+++ Wie schwierig es ist, den Geist der Digitalisierung wieder in die Flasche zu bekommen, ist jeden Tag an ISIS zu erleben. Jeder musste gestern und heute darüber berichten, weil die Ermordung des britischen Entwicklungshelfers David Haines eine Nachricht ist. Zugleich fürchtet man die Propaganda der Angst als Medienstrategie der Islamisten. Die Verbannung des Videos von der Enthauptung aus den sozialen Netzwerken soll nicht nur die Würde des Toten und seiner Angehörigen schützen. Es ist gleichzeitig der Versuch, der Attraktivität von ISIS unter westlichen Sympathisanten etwas entgegenzusetzen. Was dabei zumeist vergessen wird: Gewalt ist in der heutigen westlichen Kultur eines der attraktivsten Formate der Unterhaltungsindustrie. ISIS nimmt so in seiner Medienstrategie ein Motiv auf, das aus dem westlichen Kulturkreis stammt. Insofern erinnern diese Versuche der Selbstbeschränkung an den Jugendschutz in früheren Pornographie-Debatten. Das spricht nicht gegen diese Sensibilität im Umgang mit solchen Verbrechen. Es ist nur ein Plädoyer zugunsten westlicher Selbstkritik.
+++ Warum Selbstkritik wichtig ist? Sie ermöglicht das Denken. So fordert der Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, Hendrik Brandt, eine offene Debatte der angesprochenen Weltprobleme „im Sinne offener und wirklich ehrlicher Abwägung aller Optionen einer im Weltmaßstab ungeheuer reichen Gesellschaft“. Ulrich Jörges hat in seiner Trauerrede für Peter Scholl-Latour in seiner ihm eigenen Art den Journalismus zu einer „Charakterfrage“ erklärt. „Abschreiben und Fremddenkenlassen“ seien die aktuellen Deformationen des Berufs, so Jörges. Als Beispiel dient ihm die Berichterstattung über den Konflikt um die Ukraine, wo „das Internet und die sozialen Netzwerke“ zu „Schaubuden professioneller Desinformation und Manipulation geworden“ seien. Wobei Scholl-Latour diesen Vorwurf den klassischen Medien machte, was die Unabhängigkeit seines Denkens hinreichend dokumentiert. Ob Scholl-Latour das Internet ausgedruckt hat, wissen wir nicht. Aber die von Jörges erwähnten Kollegen vor den Bildschirmen müssen bekanntlich sogar die Ablösung durch Roboter befürchten. Die fassen das zusammen, was alle denken, sogar wenn niemand mehr denkt. Shoshana Zuboff hat auf dem „Sanssouci Media Colloquium“ zum Kampf um die Demokratie im Informationskapitalismus aufgerufen. In der FAZ ist zu lesen:
„Das Potsdamer Kolloquium, das jedes Jahr einen erlesenen Kreis von Medienvertretern, Unternehmern und Politikern zum Gedankenaustausch nach Schloss Sanssouci lädt, hatte Big Data zum Thema der diesjährigen Diskussion gewählt.“
Es wäre wohl ein Denkfehler, diesem „erlesenen Kreis“ die Verantwortung für die Demokratie zu überlassen. Aber sie können ja einen Förderverein gründen. Die Rede von Frau Zuboff ist heute der Aufmacher im FAZ-Feuilleton. Sie lohnt sich auch für das Fußvolk.
Altpapierkorb
+++ Der Spiegel über den gescheiterten Versuch der Springer-Verlags, unter anderem den defizitären Cicero vom Schweizer Ringier-Verlag zu übernehmen. +++
+++ Im Tagesspiegel berichtet Hans Monath von dem Versuch der EU zwischen Journalismus und Propaganda zu unterscheiden. Kaum zu glauben: Aber seit wann ist es die Aufgabe des Staates, solche Entscheidungen zu treffen? Es dokumentiert den Medienwandel, allerdings in die Vergangenheit. Es ist der erste Schritt zur Zensur. +++
+++ Auf Matthias von Blumencron in der FAZ zum Thema Digital und Print antwortete Lorenz Matzat im Datenjournalist. +++
+++ Zeitgemäße Propaganda sieht übrigens so aus. +++
+++ In der taz ist etwas zum Sendetermin von Downton Abbey im ZDF zu lesen. Für Singles oder Paare ohne Kinder ein guter Termin, aber jenseits dessen: Die Serie verkörpert das Großbritannien der guten alten Zeit. Unter Umständen nur bis kommenden Donnerstag. Aber der Einsatz von George Clooney könnte auch als Symbol gewertet werden: Selbst die Vettern vom anderen Ufer des Atlantik können das Vereingte Königreich nicht mehr retten. +++
+++ In der Süddeutschen beschäftigt man sich mit der eingangs erwähnten Demonstration gegen den Antisemitismus gestern in Berlin. Schon die These vom Schweigen ist falsch. Es wurde noch nie soviel über den Antisemitismus berichtet, wie in der Debatte über die Demonstrationen gegen den Krieg im Gaza-Streifen. Nur führt die Erwartung, den schon immer vorhandenen Antisemitismus zum Schweigen bringen zu können, in die Irre. Es artikuliert sich heute nur öffentlich, was früher der Privatsphäre vorbehalten blieb. Das kann man bedauern, ist aber ein Bestandteil der digitalen Revolution. +++
+++ Umso erstaunlicher ist die Entwicklung beim Deutschlandradio. Sie schaffen ein Format ab, wo schon vor der Digitalisierung jeder mitreden konnte, aber gerade die Moderation eine gute Möglichkeit ist, dieses Mitreden sinnvoll zu gestalten. Nämlich als Dialog und nicht als Monologe unter Gleichgesinnten. +++
+++ Zum Schluß ein Hinweis von Dirk von Gehlen auf die "Sache mit den Inhalten". Es käme auf den Kontext an. Den herzustellen, die Aufgabe des Journalismus. Ob das im heutigen Altpapier gelungen ist, müssen die Leser beurteilen. +++
Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder.