Der Mario Götze vom Lerchenberg

Der Mario Götze vom Lerchenberg

Allzeit-Rekord oder Quoten-Allzeitrekord? Eine zu kleine Superzahl sucht nach dem richtigen Begriff. Hat auch etwas zu tun mit: Manipulation beim ZDF: Deutschlands Beste zum Teil viel schlechter! Deshalb: Was Fernsehrat-Erlöser Ruprecht Polenz jetzt tun muss. Sowie: Paparazzo in the Air, Auslandskorrespondentinnen, Google-Löschungen.

Tag 2 nach dem deutschen Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft – und noch immer (Altpapier von gestern) ist das Programm auf den Startseiten und in den gedruckten Zeitungen dick: Die Berliner Zeitung etwa hat die Politik erneut ins zweite Buch geschoben und das erste gleich den Berichten über den Sieg der deutschen Mannschaft gewidmet. Weil damit der Sport okkupiert ist von einem Ereignis, ist der Ausgabe etwa nicht zu entnehmen, wer die 10. Etappe der Tour de France gewonnen hat.

Bei der ARD, die das Finale übertragen hatte, kann man ebenfalls Zahlen sortieren.

"Wenn schon Geschichte geschrieben wird, dann richtig: Deutschland hat sich am Sonntag den vierten WM-Stern erkämpft und auf den Quoten-Allzeitrekord aus dem Halbfinale noch einmal kräftig draufgepackt. 34,65 Mio Fans fieberten dem späten Mario-Götze-Tor entgegen – mehr Publikum hatte noch kein deutsches Fernsehereignis."

Tönt es aus dem Kress-Text von Rupert Sommer. Und ohne zu gouvernantenhaft klingen zu wollen: Man merkt diesem Text an, dass es nicht gut ist für die Sprache und das Denken, wenn man sich nur mit Quoten beschäftigt. Dann kommen Wörter raus, die sich selbst permanent davon überzeugen müssen, geglaubt werden zu wollen ("Quoten-Allzeitrekord"). Und sportreporterähnliche Binnenerzählungen wie diese im Kress-Text von Marc Bartl:

"Zum Vergleich beim Halbfinal-Sieg über Brasilien saßen noch 32,57 Mio Zuschauer vor den heimischen Fernsehgeräten. Nun ist mit der Kräfteschlacht gegen Argentinien diese Traumzahl bereits am Verblassen."

Dass dieses sinnlose Zahlengehuber samt Surrogatvokabular tatsächlich schon in die Sprache von ARD-Giganten und Leading Programmtweeter wie Volker Herres (Programmdirektor) eingewandert ist, kann man der ARD-Pressemitteilung entnehmen, wie sie auch Kress zitiert:

"'Diese Werte, die einen neuen Allzeit-Rekord bedeuten, werden in Zukunft kaum noch zu steigern sein', so Programmdirektor Volker Herres."

Hope so – denn das würde ja auch bedeuten, dass das völlig entkoppelte Quotengepose ein Ende haben könnte. An der Andeutung einer Erklärung versucht sich Markus Ehrenberg im Tagesspiegel, der für seinen Text etwa Bernd Gäbler befragt hat:

"'Bei so einem Ereignis wie dem Finale einer Fußball-Weltmeisterschaft zeigt das Fernsehen seine Kraft, aus einem Ereignis ein Erlebnis zu machen', sagte der Medienexperte Bernd Gäbler, ehemaliger Leiter des Grimme-Instituts am Montag. 'Es dient nicht nur der Zerstreuung der Menschen, sondern auch der Versammlung. Auf welchen Kanälen das Live-Bewegtbild dabei ausgespielt wird, ist letztlich egal.' Die 'reinen' TV-Quoten werden seiner Ansicht nach aber nie wieder so hoch sein."

Ein Witz am Rekord ist, dass die hochgerechnete Zahl der Menschen, die das Spiel gesehen haben, viel zu niedrig ausfällt, wie der dpa-Text in der Berliner bilanziert:

"Zusätzlich sahen viele Millionen den Sieg der DFB-Elf bei Public Viewings oder in Gaststätten und Biergärten. Sie werden bei der Messung der GfK-Fernsehforschung in Nürnberg nicht berücksichtigt, genauso wenig wie die in Deutschland lebenden Ausländer ohne EU-Staatsangehörigkeit. Die Zahl derer, die das WM-Finale gesehen haben, dürfte also noch um einiges höher liegen."

Ein anderer Witz am Rekord ist, dass er überhaupt nicht spezifisch ist für die ARD, die sich jetzt drin sonnt – das tritt gerade bei sportlichen Großereignissen durch die Wechselarithmetik mit dem ZDF hervor.

Das Herres-Äquivalent beim ZDF, Norbert Himmler, hat gerade andere Sorgen. Diesen Kontrast sieht Hans-Peter Siebenhaar im Handelsblatt:

"Die ARD taumelt vor Freude. Die Übertragung des Finales zwischen Weltmeister Deutschland und Argentinien lockte fast knapp 35 Millionen Zuschauer vor den Fernsehseher. Eine historische Bestmarke! Und das ZDF? Das Zweite taumelt hilflos. Der massive Zuschauerbetrug in der zweiteiligen Unterhaltungsshow 'Deutschlands Beste!' mit Johannes B. Kerner ist der größte Skandal der öffentlich-rechtlichen Anstalt seit Jahren."

Für die Aficionados der Medienkritik ist dann vielleicht der größte Witz: Dass einer der bekanntesten Kritiker des öffentlich-rechtlichen Systems wie Siebenhaar Opposition aufmacht, wo Zusammenhang herrscht. Denn dieses "Historische Bestmarken"-Denken (dazu für etwas, das nicht von der ARD erfunden wurde: Fußball) schürt doch genau die Angst, aus der eine Sendung wie "Deutschlands Beste" geboren wird: Dass irgendetwas die vermutete Zuschauerin vorm GfK-Messgerät so sehr verdrießen könnte, dass sie vom ZDF wegschaltet. Also tut man alles, um angenommene negative Gefühle zu vermeiden.

Und nu? Diskursiv tritt auch der andere öffentlich-rechtliche Großkritiker auf der Stelle: In Michael Hanfelds Beitrag in der FAZ heißt es etwa:

"Es begann mit einer passablen Idee: Mit einer repräsentativen Umfrage des Instituts Forsa sollte ermittelt werden, wer denn die bedeutendsten, bekanntesten, beliebtesten Deutschen seien."

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Passable Idee? Ist nicht, wie Stefan Niggemeier schon am Freitag schrieb, das "Schönfärben" schon angelegt in einer Sendung, die "Deutschlands Beste" heißt? Und wenn Hanfeld heute übertrieben ausführlich den peniblen Fragenkatalog zur Aufklärung auflistet – fällt er damit nicht hinter sein Urteil aus dem gestrigen Text zurück, das heute die Presseschau zum Thema von Harry Nutt in der Berliner beschließt? Dort hieß es:

"'Die Realität sieht leider anders aus. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kennt kein System funktionierender checks and balances. Viele Rundfunkräte, welche die Sender kontrollieren sollen, treten auf wie kleine Außenminister der Sender.'"

Heute dagegen steht in der FAZ:

"Gefragt ist nun er, und gefragt ist das zuständige Aufsichtsgremium des ZDF, der Fernsehrat. Dem will Himmler ein Konzept für 'Voting-Shows' vorlegen, das Transparenz schafft – hausintern und in der Öffentlichkeit. Und der Fernsehrat wird darauf bestehen, wie der Vorsitzende Ruprecht Polenz dieser Zeitung sagte. Der Ausschuss, der die Arbeit der ZDF-Programmdirektion begleitet, werde sich alsbald zu einer Sondersitzung treffen, sagte Polenz."

Vielleicht sind wir auch nur zu pingelig. Und Ruprecht Polenz in Wahrheit die Rettung, der Erlöser, der Mario Götze des Lerchenbergs. Kinder und angetrunkene Männer werden eines Tages seinen Namen skandieren: "Ruuuuu-precht Po-lenz/ Ruuuuu-precht Po-lenz/Ruuuuu-precht Po-lenz/Du bist – der beste – Mann!"

Um es professioneller zu sagen: Fernsehratschef Ruprecht Polenz wird nicht nur in den Branchenrankings an Bedeutung gewinnen. Ein Mann, auf den man jetzt achten muss. Ruppi, the First Aid Kid. Der Super-Fixer.

"Ruprecht Polenz, Vorsitzender des ZDF-Fernsehrats, kündigte am Montag an, das Gremium werde sich mit dem Fall befassen – der zuständige Programmausschuss bereits in einer 'zeitnahen Sondersitzung'. Der Vorfall sei sehr abträglich für die Glaubwürdigkeit des ZDF." (SZ)

"Der Fernsehrat werde den Umständen der Manipulation umfassend nachgehen. In der Gremiensitzung am 19. September will der Rat eine Empfehlung abgeben, 'wie so etwas künftig verhindert werden kann'... Ruprecht Polenz, der Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates, schrieb in einem Brief an alle Mitglieder des Gremiums, 'dieser Vorfall sei sehr abträglich für die Glaubwürdigkeit des Senders. Es geht nicht nur darum, dass gegenüber den dafür Verantwortlichen die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Es muss auch verlässlich sichergestellt werden, dass sich solche Vorgänge in Zukunft nicht wiederholen können. Hier ist auch der Fernsehrat gefordert', wurde der CDU-Politiker am Montag in einer ZDF-Mitteilung zitiert." (TSP)

Und schließlich in der FAZ:

"Man dürfe, sagte Polenz dieser Zeitung, nicht bei der Empörung stehenbleiben, sondern müsse genau hinschauen, damit sich so etwas eben nicht abermals ereigne."

Dass Ruprecht Polenz mit den Mechanismen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Sphäre vertraut ist, daran herrscht kein Zweifel, das hat schon die Lanz-Petentin Maren Müller bestätigt (in einem Interview, das ich mit ihr geführt habe). Da ging es um die Idee, eine öffentlich-rechtliche Qualitätskontrolle außerhalb des ZDF zu installieren, worauf "der Herr Polenz vom ZDF-Fernsehrat gesagt hat: Das brauchen wir nicht. Wir haben doch ein Beschwerdemanagement, mit dem wir 13 Beschwerden bearbeitet haben im letzten Jahr. 13!"


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+++ Das Recht auf Google-Löschungen hat jetzt auch TAZ-Links erreicht. Meike Laaff macht sich deshalb grundsätzliche Gedanken: "Das Vergessen ist aber auch deshalb kompliziert, weil es ganz große Fragen aufwirft: Gehört die Information über eine Person wirklich dieser Person? Darf sie darüber entscheiden, was damit geschieht – auch wenn es um Steuerhinterziehung oder politisches Engagement geht? Ab wann genau wird eine schützenswerte Privatperson eine Person des öffentlichen Interesses?" Stoff für lange Winterabende. Hübsch auch die Einblicke in die Praxis: "So sitzen bei Google, diesem Konzern, der sonst so vieles automatisiert löst, nun Mitarbeiter und prüfen jeden Antrag auf Vergessenwerden einzeln, ein Job, den Google nie haben wollte." +++ Ein lesenswerter NZZ-Text über einen Schweizer Journalisten, der sein Geld mit Luftaufnahmen von Prominentenanwesen verdient, wogegen manchmal geklagt wird. Ronny Nicolussi portraitiert Nikolaus M. Wächter differenziert: "Erst als Wächter vor sechs Jahren Opfer einer Entlassungswelle beim 'Blick' wurde, besann er sich seiner frühen Versuche mit dem Modellflugzeug... Natürlich sei das Geschäft mit den Promi-Villen nicht seine 'ehrenhafteste Aufgabe', findet er. Viel lieber dokumentiere er aus der Luft beispielsweise die Zersiedlung einer Landschaft oder Umweltentwicklungen. Um dies tun zu können, hilft jedoch auch das Zubrot, das er vor allem dank Boulevardmedien verdient." Hat das nicht vielleicht doch was mit einander zu tun? +++

+++ Sascha Erni schreibt via Carta "angry" über den ignoranten und falschen Umgang mit Krankheiten im Medienberichten: "Bleibt die Sache mit dem Leiden. Wie in 'BND-Doppelspion leidet unter Asperger-Syndrom'. Es tut mir schrecklich leid (ha!), das ist Niveau 'ist an den Rollstuhl gefesselt'. Wirklich, wirklich dumm. Ich zumindest leide häufiger an auf falschen Fakten basierenden Interpretationen und fehlender Flexibilität, als an meinem Zustand. Mit diesem lebe ich. Und das seit bald 40 Jahren nicht schlecht, danke der Nachfrage." +++

+++ In der TAZ macht sich Lou Zucker Gedanken über weibliche Auslandsreporterinnen und schließt mit: "ProQuote zufolge sind in den Auslandsbüros beim Print nicht einmal 30 Prozent der Korrespondent*innen weiblich. 'Ich glaube, dass das nicht an der Gefahr liegt', sagt ProQuote-Vorsitzende Annette Bruhns, 'sondern dass dieselben Mechanismen wirksam sind, die Frauen eher nicht Ressortleiterinnen werden lassen.' Die Hürden für Frauen im Journalismus, sie liegen nicht in Afghanistan oder der Ukraine, sondern in Deutschland." +++

+++ Horst Krause hört im Brandenburger Polizeiruf als Krause auf, nicht aber in den eigenen Spin Offs, schreibt die FAZ. Und zitiert RBB-Verantwortung mit einem Satz, der bei Angela Merkel in die Schule gegangen ist: "'Uns liegt ebenso wie unseren Zuschauern die Figur Horst Krause am Herzen, deshalb soll es dort weitergehen. Der Schauspieler Horst Krause bereichert das Fernsehen des RBB mit seiner Kunst und seinen Ideen seit der Gründung des Senders', sagte Programmdirektorin Claudia Nothelle." +++ Ausführlicher: Der Märkische-Allgemeine-Text von Lars Grote, in dem der Schauspieler das Ende seines Polizeiruf-Engagements ausgeplaudert hat: "'Die Drehbuchschreiber und die Redaktion können mit der Filmfigur Horst Krause im Polizeiruf offensichtlich nicht mehr so viel anfangen', sagt er. 'Sie ist mehr und mehr zur Nebenfigur geworden. Ich muss davon ausgehen, dass man mir keinen großen Wurf mehr zutraut – die Rolle wird immer kleiner. Aber eine Figur wie Krause braucht Fantasie und Fleisch. Sie sollte nicht so deutlich zurückgebildet werden. Ich drehe noch zwei Polizeirufe, dann höre ich auf. Das haben der Sender und ich einvernehmlich entschieden.'" +++

+++ Und wer noch mehr Sportberichterstattung will: Ein älteres, aber interessantes Interview mit dem SRF-Sportchef über die Bedingungen, unten denen eine Fifa-WM journalistische Arbeit zulässt: "Wir haben beim Deutschen Fernsehen Trainingsbilder ihrer Nationalmannschaft bestellt. Da mussten wir erfahren, dass ARD/ZDF die Sequenzen nicht selber drehen dürfen, sondern die Bilder vom Deutschen Fussballverband geliefert bekommen. Ein weiterer Schritt ... Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis gewisse Verbände und Klubs auch die Interviews nach den Spielen selber produzieren." (via NZZ-RAS-Blog)+++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder.

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