Die Harke auf der Balustrade

Die Harke auf der Balustrade

Im Rattenrennen um eine gestern wichtige Meldung gerät die Tageszeitung Die Harke in den Brennpunkt. Außerdem: die frischen Pressefreiheits-Charts. Die gespannt erwartete Maischberger-Talkshow ("Kulturkampf"!). Endlich wieder ein neues "Tatort"-Team!

Die Unschuldsvermutung ist ein mittelwichtiges Versatzstück in vielen der ohnehin zahlreichen Diskussionen. Wie in der vorvorletzten ARD-Talkshow (alles zur jüngsten ARD-Talkshow, der bei Sandra Maischberger, weiter unten) "live bei Jauch aus der Unschulds- geradewegs die Verdachtsvermutung" wurde, weil Günther Jauch in Anwesenheit des noch neuen Spiegel-Mannes Nikolaus Blome unbedingt kurz auch noch etwas aus einem Zeitungsartikel des nicht anwesenden Hans Leyendecker vorlesen zu müssen meinte, hatte Frank Lübberding in seiner faz.net-Kritik aufgeschrieben.

Ohne so eine Verdachts- bis Schuldvermutung kommt eine Unschuldsvermutung natürlich kaum vor. Aktuell wird oft die Unschuldsvermutung zitiert, die der SPD-Politiker Sebastian Edathy auf seiner Facebook-Seite für sich einfordert. Die "nun publik gewordenen Ermittlungen" gegen ihn müssten streng genommen einstweilen gar nicht weiter spezifiziert werden, so wie es die TAZ im Porträt des "Aufklärers und Nazigegners" tut (wobei sie auf der Titelseite aber doch vom "Verdacht auf Besitz von Kinderpornografie" schreibt, den dann auch ein Spiegel-Team als Verdacht bestätigte, und der überall sonst größer erwähnt wird; um ihn zurückzuweisen, auch von Edathy).

Die Lage ist komplex, etwa weil Edathy für die TAZ Ende Dezember diesen Text geschrieben hatte, der Interpretationen herausfordert, etwa weil, wie Sascha Lobo für Spiegel Online ohne Bezug zur Meldung, aber mit Bezug auf viele jüngere Dokumenten-Veröffentlichungen aufschrieb, sich "eine digitale Guerilla in staatlicher Mission formiert hat, die Gegner nach eigenem Gutdünken diskreditiert bis psychisch vernichtet". Da Edathy im NSU-Untersuchungsschuss die deutschen Geheimdienste scharf attackiert hatte, ist in Kommentaren unter vielen Meldungen von der "Rache der Dienste" die Rede. "Eher unwahrscheinlich", schreibt dazu der Tagesspiegel in seiner Zusammenfassung, "dass die Ermittlungsbehörden ernsthafte Hinweise hatten, liegt auf der Hand, sonst hätten sie keinen Durchsuchungsbeschluss für Edathys Wohnung und Büros bekommen". Solche Wahrscheinlichkeitsvermutungen abgeben zu müssen, ist vermutlich einfach ein Zeichen der Zeit und lässt sich niemandem vorwerfen.

Eher ein Medien-Thema: die Art des Publikwerdens. Viel Aufmerksamkeit erfuhr die Zeitung mit dem eigentlich sympathischen, weil so gar nicht Morgenpost-/Tage-Abendblatt-haften Namen Die Harke, die in Edathys niedersächsischem Wahlkreis erscheint und als erste von einer Hausdurchsuchung berichtete. Das Foto, das Sie neben dem Bericht hier zur Bildunterschrift "Blick durchs Fenster in die Rehburger Wohnung des ehemaligen SPD-Bundespolitikers Sebastian Edathy. Im Hintergrund ein Kriminalbeamter" sehen, hat handelsblatt.com im Bericht über den Harke-Bericht und das Foto lieber verpixelt, so wie sonst manchmal Gesichter verpixelt werden. Ob dieses Foto die grundgesetzlich geschützte Unverletzlichkeit der Wohnung und der Privatsphäre verletzt hat, muss und wird sicher geklärt werden.

Harke-Redakteur Stefan Reckleben hat inzwischen erklärt wie es zustande kam: dass er von der Durchsuchung per "Tipp aus der Bevölkerung" erfahren und zum Fotografieren Edathys Wohnung nicht betreten habe, sondern auf eine Balustrade gestiegen und lediglich durch das Fenster fotografiert habe. Reckleben berichtet das, angefasst (häufig schaut die größere Welt sicher nicht bei der Harke vorbei), etwa hier im NDR Niedersachsen-Videointerview.

Dort sagt er auch: "Meine Quelle sitzt in der Landes-SPD". "Das geht aus Kreisen der Landes-SPD hervor, die Montagabend in Loccum tagte. Es gelte zwar die Unschuldsvermutung, hieß es. Aber falls sich das Ganze bewahrheite, 'dann mit Schwung drauf''", heißt es schwungvoll im Vorspann seines Harke-Artikels. Dass die Bundes-SPD in Berlin wiederum bereits gestern vormittag offenbar mit Bezug allein auf Die Harke schon vom "Verdacht auf Kinderpornografie" sprach, steht etwa hier bei stern.de. Dass eine "Quelle aus der SPD-Fraktion" dem ARD-Hauptstadtstudio gar eine Durchsuchung von Edathys Berliner Abgeordnetenbüro kund tat, sich dabei aber offenbar irrte, sodass das Hauptstadtstudio seine Meldung dann korrigieren musste, steht etwa hier beim Hamburger Abendblatt. Dass es in der SPD verdammt viele Quellen gibt, wäre natürlich auch bloß Vermutung.

Bloß, dass die Sachlage kompliziert ist, lässt sich zurzeit sagen. Und vermuten, dass dann, wenn mehr bekannt und überprüft ist, vieles nicht mehr so brennend interessieren wird, weil nach dem Echtzeit-Rattenrennen vieler Medien die Luft raus sein dürfte. Gut traf die Lage gestern Anne Roth (@annalist) per Tweet:

"Vielleicht könnten die Edathy-Artikel der Presse in Pads geschrieben werden? Dann könnten wir beim Schreiben in Echtzeit zugucken"

Gut treffen aber auch der heutige SZ-Kommentar, der der Harke ihres Fotos wegen "publizistischen Voyeurismus" und einen Verstoß "gegen eine rechtsstaatliche Grundregel" vorwirft, und mal wieder eine Heribert-Prantl-Metapher:

"Der Hinweis auf die Unschuldsvermutung erscheint da wie ein Versuch, ein Schaufenster mit einem Taschentuch abzudunkeln."

[+++] Man kann der deutschen Presse, den deutschen Medien vieles vorwerfen, wie wir auch an dieser Stelle gerne tun. In der frischen Rangliste der Pressefreiheit, die die Reporter ohne Grenzen gerade veröffentlichten, ist Deutschland dennoch gemeinsam mit Tschechien einer der Aufsteiger des Jahres. Beide haben drei Plätze gut gemacht und belegen die Ränge 14 und 13. Im siebenseitigen Landesbericht (PDF) bündeln die ROG fünf bekannten Kritikpunkte zwischen "Überwachung durch Geheimdienste" und "Neonazis, Islamisten und Kriminelle drohen Reportern". Das erste konkret benannte Problem darin ist übrigens der niedersächsische Verfassungsschutz.

Eine knappe Interpretation der globale Liste bietet die FAZ-Medienseite:

"2014 steht sie im Zeichen der Geheimdienst-Affären. Die Vereinigten Staaten rutschten um dreizehn Plätze auf den 46. Rang ab. Die staatliche Verfolgung investigativer Journalisten und ihrer Hinweisgeber aus den Sicherheitsbehörden habe dort ein 'nie gekanntes Ausmaß erreicht', mahnt der Bericht".

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[+++] Zurück zu den Vorwürfen: Wie war die Maischberger-Talkshow "Homosexualität auf dem Lehrplan: Droht die 'moralische Umerziehung'?", die durch "Guerilla-Marketing" (Wolfgang Michal, Altpapier gestern) starke Vorabaufmerksamkeit erfahren hatte? Zu den Diskussionen im Vorfeld (Altpapier vom Montag) ließe sich vielleicht hinzufügen, dass es auch in schwulen Blogs, ähm, darf man das schreiben?: heterodoxe Meinungen jenseits der strengen Dogmatik gab, etwa bei gaywest ("der Titel der Sendung ist das Aufrichtigste, was man in letzter Zeit in der Homo-Debatte vernommen hat", zumindest, wenn es nicht "drauf hinausläuft, sich eine kuschelige rosarote Scheinwelt zu basteln, in der es nicht mehr als sinnvoll erachtet wird, zu argumentieren, sondern zu marginalisieren ..."). Oder dass es schon eine Talkshow gab, in der fünf Herren bei Maybrit Illner ziemlich einträchtig der Meinung waren, draußen im Land gebe es noch allerhand Homophobie, während es bloß drinnen im Studio gerade keine gab, weshalb die Show weit überdurchschnittlich langweilig verlief.

Langweilig scheint's bei Maischberger nicht zugegangen zu sein: "Man kann heute von Konservativen etwas über Liberalität lernen. Allein deswegen lohnte sich schon das Aufbleiben", schreibt der eingangs erwähnte Frank Lübberding (faz.net), der auch die Inszenierung lobt, die bei Talkshows genregemäß meist keine große Rolle spielt: "So saß Hartmut Steeb" - Unterstützer der Petition "Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens" - "neben einem schwulen CDU-Politiker und einem Mann in Frauenkleidern. Es war als Erwachsenenbildung gemäß des von ihm abgelehnten Bildungsplans zu verstehen".

Der Begriff "Kulturkampf", den Lübberding auch in der historischen Dimension umreißt, fällt ebenfalls bei tagesspiegel.de, wo Barbara Sichtermann allerdings befürchtet: "Wenn Maischbergers Gäste in etwa repräsentativ waren für die Gesellschaft, wird der Kulturkampf Hera Linds Optimismus enttäuschen und uns noch länger quälen", und bei welt.de, wo Daniele Raffaele Gambone "einen erfreulich inhaltsreichen Schlagabtausch" lobt. Die Show "bildete ... wohl auch eine immer noch existierende gesellschaftliche Realität ab, doch genauso gut wie mit Hartmut Steeb könnte man auch mit einer Wand diskutieren", meint Stefan Kuzmany bei Spiegel Online und erwähnt ferner, dass "dann noch Sandra Maischberger beim Hantieren mit einem Styropor-Penis zu betrachten" war. Allerdings hat SPON daraus noch keine Fotogalerie zum Durchklicken gestaltet.

Stefan Niggemeier schließlich ist eher auf 360 als auf 180 und, was durchaus eine Nachricht ist, "möchte bitte aus der ARD austreten".
 


Altpapierkorb

+++ . Endlich wieder ein neues "Tatort"-Team! ""Der RBB bestätigte nun per Twitter eine Tagesspiegel-Exklusivmeldung" (Tagesspiegel): Becker und Waschke übernehmen Berlin. Meret natürlich, nicht Boris. "Meret Becker spielt ab 2015 die Hauptkommissarin Nina Rothe, eine waschechte Berlinerin mit Herz und Verstand. Sie lebt mit ihrem Mann und den zwei Söhnen im Wedding. Mark Waschke übernimmt die Rolle ihres Kollegen Hauptkommissar Robert Karow, eines Singles und ehemaligen Jurastudenten aus Pankow. Und es gibt einen dritten Hauptdarsteller: 'Das ist Berlin. Wir rücken die Konflikte unserer Stadt, die sich täglich verändert, in den Mittelpunkt unserer Geschichten', sagt Filmchefin Cooky Ziesche über das neu entwickelte Konzept" (RBB). +++

+++ Was heute nicht auf der SZ-Medienseite steht: dass dieselbe gestern auf einen sogenannten ZDF-Publikumsrat "hereingefallen" (TAZ) ist. Siehe Altpapierkorb gestern (unten). Noch mal ausführlich aufgeschrieben hat's dwdl.de. Wie es sich mit Programmbeschwerden gegen Lanz tatsächlich verhält, steht als EPD-Meldung etwa in der BLZ. +++

+++ Was auf der SZ-Medienseite steht, ist aber auch ganz interessant. In Österreich streiten die Zeitschrift Falter und der Fotograf Manfred Klimek darüber, ob ein in privatem Modus mit 5000 Facebook-Freunden geteilter Text öffentlich zitabel ist oder nicht. +++ Und im Interview äußert sich der nach Hamburg umziehende Neon- und Nido-Chefredakteur Oliver Stolle. Frage: "Herr Stolle, Sie wandern gerne, Sie fahren gerne Ski, was wollen Sie denn in Hamburg?" - Stolle: "Ich segle ja auch gerne..." +++ Und "aus der für die Medienpolitik der Länder federführenden Staatskanzlei Rheinland-Pfalz heißt es: ' ... es soll keine Netzinfrastruktur geschaffen werden, die derart kontrolliert werden kann.'", weshalb eine niedersächsische Pornofilter-Initiative (netzpolitik.org) scheitern dürfte. +++

+++ Die prekäre Lage der Liberation, gern als "französisches TAZ-Vorbild" bezeichnet, ist ein breites Thema, etwa im Tagesspiegel und bei Tobias Schwarz/ Carta. +++

+++ Von einer Diskussion in der Hamburger Handelskammer, in der Vertreter der Onlinewerbeabteilungen Axel Springer und Gruner+Jahr auf den Adblock Plus-Geschäftsführer trafen, berichtet meedia.de. +++

+++ Von einer unfreiwilligen Springer-Scientology-Kooperation das Bildblog. +++

+++ Sieh an, das Generalsekretariat der ARD ist noch aktiv. Der Tagesspiegel zitiert dessen Vertreter Michael Kühn mit einer interessanten These ("Das klassische Fernsehen wird seine Rolle als Leitmedium behalten ... Ein Grund seien dabei die selbst produzierten Inhalte, mit denen nicht zuletzt die deutsche Lebenswirklichkeit abgebildet werde") von einer Berlinale-Diskussion.  +++ "Bis 2020, da sind sich die Experten sicher, wird unser Fernsehen ein anderes geworden sein", schreibt Michael Hanfeld nicht auf der FAZ-Medien-, sondern der Serien-Seite. Es geht um Netflix. "Die Zuschauer können das alles in Ruhe auf sich zukommen lassen. Sie bekommen das Programm, das sie wollen, zu jeder Zeit, in jeder Weise. Nur in einem Punkt haben sie keine Wahl: Die Zwangsabogebühr von zurzeit 17,98 Euro muss jeder entrichten". +++ Die Diskussion um eine mögliche kleine Senkung dieser Summe "geht weiter, auch deswegen, weil immer mehr Betroffene die Hand aufhalten" (wiederum Tagesspiegel). +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite geht es um Gamification der Industrie sowie um das kanadische Vice und auch den hiesigen Ableger: "Mehr als neunzig feste Mitarbeiter sitzen in der Berliner Redaktion. Noch 2011 waren es zwanzig ... 'Junge Menschen haben ein starkes Interesse am Weltgeschehen, was aber von traditionellen Medien oft nicht anerkannt wird', sagt der Herausgeber der deutschen Ausgabe, Benjamin Ruth. 'Wir dagegen haben die Agenda junger Leute immer ernst genommen.'", berichtet Hernán D. Caro. +++

+++ In der TAZ geht's um die im Libanon leider nützliche App, die standardisiert "Ich bin noch am Leben! #Lebanon #LatestBombing" twittert. +++ Und die Kriegsreporterin lobt den "ewigen Totalrumnörgler Hans Hoff", weil der "aus seinem Grummelloch ans Tageslicht gekommen" ist "so unerwartet, weitsichtig und klug gegen die sexistischen Kackscheißprogramme 'Germanys Next Top Model' und 'Bachelor'" wetterte, dass "es eine Freude ist". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

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