Anspruchsvolle Jugend

Anspruchsvolle Jugend

Das wäre wirklich breaking: Geht von Boston ein Trend zur Zurückhaltung bei der News-Verbreitung aus? Außerdem: die ARD-ZDF-Probleme mit der Jugend, den eigenen Nebenkanälen und der Zusammenarbeit.

Zwei durchaus spannende Mediendebatten verlaufen gerade, die sich an einigen Punkten berühren: etwa, als gestern abend im vergleichsweise sehr gut ausgestattetem deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk Korrespondenten von amerikanischen Originalschauplätzen aus über sich überschlagende Ereignisse und bis zum Zerreißen gespannte Stimmung berichteten, und davon, dass in Boston eine Pressekonferenz bevorstünde, bei der wahrscheinlich eine Verhaftung verkündet werden könnte. Und das seien ja "keine Latrinenparolen", sagte Claus Kleber (hier bei min. 05:01), sondern Meldungen, "die sich Quellen in der Polizei und beim FBI gestützt haben".

Weil dann doch noch keine Verhaftung verkündet wurde, weil also der Durchbruch/ "breakthrough", von dem amerikanische Polizeivertreter schon am Mittwoch in global verbreiteten amerikanischen Original-Fernsehbeiträgen sprachen, weiterhin nur "möglicherweise" bevorsteht, und weil am Donnerstagmorgen andere, numerisch größere Katastrophen ebenfalls in den USA die Agenda anführen, stockt diese Mediendebatte gerade. Das, was daran spannend ist und bleiben wird: die wohl erstmals in größerem Ausmaß geforderte Zurückhaltung bei der Verbreitung von Echtzeit-News.

Der Tweet des The Atlantic-Reporters James Fellows,"most of what we're hearing now will turn out to be wrong", setzte das Signal dafür. Eine gute deutschsprachige Zusammenfassung und Einordnung steht bei freitag.de:

"Der Boston Globe korrigierte die Zahl der Verletzten am Montag in 24 Minuten von 46 auf 100 auf mindestens 90 auf 64, um am Ende des Tages bei etwa 130 zu landen. Und man kann den Globe guten Gewissens zu den wichtigen journalistischen Quellen zählen",

schreibt der Altpapier-Autor Klaus Raab. Folgerung:

"Warum das Rechercherohmaterial fortwährend veröffentlicht wird, liegt auf der Hand: weil es veröffentlicht werden kann, weil es gelesen wird und weil das Update-Dauerfeuer ökonomisch sinnvoll scheint. Nicht jede richtige, sondern jede Information bringt kurzfristig mehr Follower und Reichweite. ... .... 'Wir hatten eine Information zuerst, und morgen haben wir dann andere' ist wichtiger als 'Wir haben Informationen, die auch morgen noch stimmen'."

Es gebe aber bereits "Onlinemedien, die sich zurückhielten, obwohl sie damit Reichweite verschenkt haben dürften", meint Raab optimistisch. Es gibt aber auch "eine neue Dynamik des Netzes", die "die Öffentlichkeit ...vor ganz neue Herausforderungen" stellt, schreibt Dirk von Gehlen im gefaelltmir-Blog der SZ und verlinkt zu einer Facebook-Seite mit Fotos eines möglicherweise Verdächtigen, unter denen der vielfach gelike-te erste Kommentar lautet "Everyone is turning into Detective Conan now...".

Eine Subdebatte ist diejenige um die gestern hier erwähnten Foto-Selbstverpflichtung von sueddeutsche.de, also die Zurückhaltung bei besonders blutigen Bildern. Lob dafür gibt's bei bildblog.de, das auch drastische Gegenbeispiele nicht zeigt, sondern in Worten beschreibt. "Warum es richtig ist, blutige Bilder aus Boston zu zeigen", argumentiert etwa Peter Seiffert bei focus.de ("Blut darf auch kein Selbstzweck sein, sondern muss einen vorsichtigen Eindruck davon geben, wie es draußen auf der Straße wirklich aussieht."). Weitere Beiträge zu diesen Debatten, die zweifellos noch anschwellen werden, stehen bereits in Blogs wie socialmediawatchblog.de und Lampiongarten.

[+++] Was in die angewachsene Debatte dann mit hinein gehört: die Frage, ob eigentlich jemand bemerkt, wenn einzelne Medien oder auch Twitterer sich zurückhalten?

"Was digital natives, also Menschen, die quasi mit Laptop, Smartphone und iPad geboren werden, betreiben, das nennt man in den USA ...: grazing, scanning, snacking und zapping - also grasen, rastern, knabbern und zappen. Informationsstückchen werden konsumiert, die gerade des Wegs kommen. Wenn sie nicht des Wegs kommen, auch gut."

Das schreibt heute Cathrin Kahlweit auf der SZ-Medienseite 37, und zwar in einer recht hymnischen Besprechung eines neuen österreichischen Bestseller-Buchs, "Wozu brauchen wir noch Journalisten?". Autor ist Armin Wolf, stellvertretender Fernsehen-Chefredakteur beim ORF und durch die bei 3sat gezeigten Nachrichtensendung "ZiB" auch im nördlicheren Deutschland bekannt.

Als Liebeserklärung an den Journalismus wie auch als Analyse, warum immer weniger Menschen Nachrichten gucken oder Zeitungen lesen (dafür wird u.a. das US-Blog newspaperdeathwatch.com als Beleg genannt) würden, gefällt das Buch Kalweit sehr gut. Ihre Besprechung steht derzeit nicht frei online, jedoch eine (allerdings weniger hymnische) des österrichischen Standard.

####LINKS####

[+++] Das Problem der Nachrichtenmenschen mit der jungen Generation, das treibt gerade in diesen Tagen auch ganz besonders die ARD um. Damit in die Niederungen des vergleichsweise gut ausgestatteten deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in denen gerade seit Anfang der Woche (Altpapier) über Formen von Digitalnischenkanäle-Fusionen der beiden Sendergruppen diskutiert wird.

"Über 50 Prozent der Zuschauer unter 40 schauen ... kaum die Sender beider Rundfunkanstalten" von ARD und ZDF, fasst digitalfernsehen.de eine frische Emnid-Umfrage zu ARD und ZDF zusammen. Was für eine Umfrage ist das? Eine, die das Bauerverlags-Blatt auf einen Blick in Auftrag gab und die daher eigentlich eher die älteren Zuschauer im Blick hat (die aber auch unzufrieden sind, weil wegen zu alter Zielgruppen ihre Lieblingssendungen eingestellt würden).

Dennoch, es passt zum Thema.

"Die Fakten sagen aus, dass die Publika von ARD und ZDF im Schnitt 60 Jahre alt sind, das der ARD-Dritten sogar 63 Jahre. Daran hat niemand Schuld denn die Sender selbst, die - anders als der ARD-Hörfunk - die jungen TV-Nutzer regelrecht vertrieben haben. Jetzt will die ARD mit einer Hauruckaktion die Vergangenheit vergessen machen und 'Jugendliche mit Anspruch' - ein Etikett des ARD-Vorsitzenden Lutz Marmor - für sich gewinnen",

berichtet der führende Einschaltquoten-Analyst der Qualitätspresse, Joachim Huber vom Tagesspiegel, über die gestrige ARD-Intendanten-Pressekonferenz. Von der inzwischen leicht modifizierten (kress.de, meedia.de) Ablehnung des Digitalpakt-Angebots durch das ZDF berichtet er ebenfalls. Warum das ZDF mit Recht ablehnt, bringt mit vielen Beispielen aus dem ARD-Digitalprogramm, das vom Ansehen ja kaum jemand kennt, Stefan Niggemeier auf den Punkt:

"Die ARD ist mit dem, was man euphe­mis­tisch eine Digital-'Strategie' nennen könnte, umfas­send geschei­tert. Sie ver­an­stal­tet zwei Sen­der mit irre­füh­ren­den Namen und unkla­rem Pro­fil, die nie­mand aus­ein­an­der­hal­ten kann und kei­ner guckt, sowie eine Nach­rich­ten­dau­er­schleife. Es gelingt ihr nicht, ein kla­res unter­scheid­ba­res Pro­fil für die bei­den Kanäle 'Eins­Plus' und 'Eins­fes­tival' zu ent­wi­ckeln, weil das Kon­zept in Wahr­heit darin besteht, dass das eine Pro­gramm vom SWR gemacht wird und das andere vom WDR."

Und dass eine der ARD-Anstalten einfache einen ihrer gescheiterten Zusatzsender ganz aufgeben könnte, sei undenkbar, weil ARD-Anstalten ja ohnehin nichts aufgeben könnten, was einmal eingeführt wurde, schreibt der eigentlich ja eher Öffentlich-Rechtlichen-freundliche Niggemeier äußerst deutlich.

Dass die ARD allen vorhergegangenen Diskussiönchen zum Trotz tatsächlich kaum die Aufgabe einer ihrer vielen Talkshows wirklich in Betracht ziehen zu wollen scheint, entnahm die TAZ der PK. Tatsächlich sei es wohl so, dass die ARD den für die Rundfunkpolitik zuständigen Bundesländern bis Ende April ein "Digitalkonzept" vorlegen müssen, sich aber eben wegen interner Streitigkeiten auf keines einigen konnten und daher nun "den schwarzen Peter dem ZDF ... zuschieben" wollten, interpretiert Ulrike Simon in der BLZ die Lage und Marmors Ausführungen.

Vor dem Hintergrund interessant, was tagesschau.de, also ein Angebot nicht nur der ARD, sondern des von Marmor als Intendant geleiteten NDR in der sehr eigenen Sache derselben Veranstaltung schreibt. Zunächst wird der Chef zitiert:

"'Jugend ist wichtig, Geld kriegen wir nicht zusätzlich, wir müssen etwas tun, so schnell wie möglich', betont der NDR-Intendant und ARD-Vorsitzende. 'Woher können wir Geld schöpfen? Durch Kooperationen, ein für die ARD sehr nahe liegender Gedanke.'"

Doch das ZDF zögere, wird anschließend wortreich berichtet. Ausblick:

"Nun also liegen neue Konzepte auf dem Tisch. Über das der ARD möchte Marmor noch einmal mit Bellut sprechen. Außerdem muss auch die Politik über die Zukunft der Digitalkanäle entscheiden. Die Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, hat sich heute auch zu Wort gemeldet - sie hält eine weitere Abstimmung von ARD und ZDF über die Digitalkanäle für unverzichtbar."

Falls es wirklich pressieren sollte, täte es aber wohl auch einfach eine Abstimmung der Ministerpräsidenten selbst.
 


Altpapierkorb

+++ Das hat ARD und ZDF gerade noch gefehlt: dass jemand das "öffentlich" in "öffentlich-rechtlicher Rundfunk" als "Open" im Sinne von "Open data" versteht und als "Aufruf zur Mitarbeit", in der alle, die daran "konstruktiv mitarbeiten" möchten (und sozusagen digitale Jugend mit Anspruch sind), "sich als Mitarbeiter/in eintragen" können, ein Etherpad erstellt. Lorenz Matzat (datenjournalist.de) hat's getan. +++

+++ Während Marina Weisband "den Typus des 'genuinen Twitterati'" darstellt, verzichteten twitternde SPD-Politiker auf jede persönliche Note, hat der Tagesspiegel festgestellt. Immerhin, einem quantitativen Überblick des hamburger-wahlbeobachter.de sei schon im Januar "jeder zweite Bundestagsabgeordnete" am Twittern gewesen (bzw. sogar eine knappe Mehrheit der MdBs, nämlich 311 von insgesamt 620). +++

+++ Die These, dass bereits Facebook ein "Alte-Leute-Medium" sei, jetzt auch bei Carta. Die Jugend wiche u.a. auf Twitter aus... +++ Die, dass das "Vice" zumindest in seiner in den USA bei HBO verbreiteten Form "der Politjournalismus der Zukunft" sein könnte, untersucht Marlaim Lau in der Zeit (S. 6): "'Vice' ist mittlerweile längst ein riesiger Medien-Krake mit vielen Tentakeln, die bis nach Deutschland reichen. Aus 35 Büros in 18 Ländern, von Rio de Janeiro bis zum Prenzlauer Berg betreibt 'Vice' seit Jahren schon ein Magazin mit einer Auflage von 1,2 Millionen, ein Plattenlabel, ein Modelabel, eine Agentur – das alles generiert jährlich 200 Millionen Dollar...". +++

+++ Über die Methodik der in Kürze erscheinenden, gestern hier erwähnten neuen Hans-Jürgen Arlt-/ Wolfgang Storz-Studie zum Thema Armuts-Reichtums-Berichte gibt Rudolf Walther in der TAZ Auskunft: "Sie nennen ihr Vorgehen 'diskursive Öffnung' und kombinieren dabei die Systemtheorie von Niklas Luhmann mit der 'demokratischen Sensibilität' der kritischen Theorie von Jürgen Habermas." +++

+++ "Klassische Medien wie das Fernsehen reduzieren das Thema auf einen Geschlechterkampf und Stereotypen. In den Zeitungen und besonders im Netz und in Blogbeiträgen wird die Diskussion dagegen viel differenzierter geführt", sagte die "Aufschrei"-Aktivistin Anna-Katharina Meßmer nach der Maischberger-Talkshow vom Dienstagabend dem Kölner Stadtanzeiger. Der freut sich natürlich, nicht zu den im negativen Sinne klassischen Medien gerechnet zu werden. +++

+++ "Merkwürdig. Deutschland liegt gravitätisch in der Mitte Europas. Es hat Probleme, sich seinen romanischen und balkanischen Nachbarn im Süden zu vermitteln. Es hapert mit dem Intimpartner in Paris, mit London läuft es auch nicht so recht, Moskau entrückt in seinen slawophilen Dunst. Und ausgerechnet in dem Moment, in dem Warschau Berlin die Stange hält, platzte im deutschen Fernsehen die alte Bombe der Gedankenlosigkeit", schreibt Adam Krzeminski im SZ-Feuilleton (S. 11). Anlass ist eigentlich ein Treffen zweier älterer Herren "in der fast vollen Aula des germanistischen Instituts in Warschau", von Helmuth Caspar von Moltke und Andrzej Pileck. Aber mit der "Bombe" ist der TDF-Teamworx-Dreiteiler "UMUV" gemeint. +++ Rückzug nach Westen überschreibt dann die SZ-Medienseite ihre Meldung vom Ausstieg des Hamburger Gruner+Jahr-Verlags in Polen. Käufer der Luxus-/ Lifestyle-Zeitschriften sowie "eines Buchverlags" ist ein anderer deutscher Verlag, Burda. +++

+++ Eine Medienschau in arabischsprachigen Medien hält Joseph Croitoru auf der FAZ-Medienseite ab: "Dass aber aus Sicht der arabischen Medien Syrien zum Anziehungspunkt für Dschihadisten aus aller Welt geworden ist, steht fest. Die erhöhte Medienaktivität der Gotteskrieger, die auf eine Islamisierung der Kriegsrhetorik abzielt, scheint ihre Wirkung innerhalb des Rebellenlagers jedenfalls nicht verfehlt zu haben..." +++

+++ Der neue Disney-Channel, der ab Januar 2014 den Senderplatz von "Das Vierte" übernimmt, wolle "mittelfristig... in der Primetime auf Höhe der Dritten Programme liegen", sagte Senderchef Lars Wagner dem Tsp.. +++ Matthias Wagner indes ist Sprecher der Technischen Kommission der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung und gab dem Hamburger Abendblatt Auskunft über die bevorstehende Zusammenfassung von "traditioneller Fernsehquote" und der "Online-Quote" der Mediatheken. +++ Außerdem hat Dieter Moor seinen Vornamen geändert (SZ).

+++ Und "wenn sich der Bushido-stern" (hier im Video von Dominik Wichmann und Investigativteam-Leiter Oliver Schröm vorgestellt) "nicht gut verkauft, dann müssen sich Journalisten wirklich Sorgen machen ...", meint meedia.de. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

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