Innovatives Zeitungssterben

Innovatives Zeitungssterben

Neu in NRW: die erste kostenpflichtig abonnierbare Papierzeitung ohne eigene Redaktion. Neuer Stoff im Haushaltsabgaben-Streit. Aber auch: eine deprimierende öffentlich-rechtliche Wohltat.

Es gibt sie noch unter der alten Adresse netzeitung.de. Postalisch ist die Netzeitung GmbH, wie man auf der Webseite ganz unten sieht, statt in Berlin nun in der Amsterdamer Straße in 50735 Köln zuhause, aber das ist rein virtuell und betrifft niemanden persönlich. Schließlich schlüpfte die Netzeitung, die Anfang dieses Jahrtausends zu den Pionieren im deutschen Internet zählte (und auch Geburtsstätte des Altpapiers war), gegen Ende ihres eigentlichen Bestehens in die Pionierrolle als "automatisiertes Newsportal". Das heißt, sie ist längst eine mitarbeiterfreie Redaktion, unter deren Adresse irgendwo anders erstellte Inhalte zirkulieren, damit die eventuelle Aufmerksamkeit von ein paar Restnutzern den Eigentümern womöglich ein paar Werbe-Pennies einbringt.

Nun folgt diesem Beispiel auch eine erste Papierzeitung. Klicken Sie schnell hierhin, wo die WAZ-Gruppe ihre Zeitung Westfälische Rundschau noch mit einem "in sechs Jahrzehnten erworbenen Ruf", mit "weit über 200 Redakteuren" und einem "dichten Netz von rund 30 Lokalredaktionen, Redaktionsbüros und Stadtteilredaktionen" bewirbt. Dieser Werbeauftritt wird sicher bald abgeschaltet, denn all diese assets sind bald dahin. Die WR (hier ihr freilich längst mit dem anderer WAZ-derwesten.de-Portale identischer Internetauftritt) wird bald die erste gedruckte und kostenpflichtig abonnierbare "Zeitung ohne Redakteure" (kress.de) sein, wie seit gestern durch die Medienmedien geistert.

Die WAZ-Pressemitteilung (PDF) unter der Überschrift "Umstrukturierungen bei der WAZ Mediengruppe", die mit dem unverschämten Satz "Die WAZ Mediengruppe stellt sich in ihrem nordrhein-westfälischen Kerngebiet zukunftssicher auf" beginnt, informiert dann in ihrer zweiten Hälfte darüber, dass die 120-köpfige Redaktion des Blattes komplett aufgelöst wird. Aus welchen teils ebenfalls zur WAZ, teils anderen Verlagen gehörenden Redaktionen die Inhalte des weiter erscheinenden Zeitungstitels übernommen werden sollen, informieren die eingerückten Absätze in der Mitte der Pressemitteilung.

Was meint die sonstige Presse dazu? "Die Zeitung stirbt, der Name bleibt", schreibt Pascal Beucker in der TAZ. Er geht auf das unter WR-Abonnenten vielleicht nicht ganz kleine Problem ein, dass die der SPD nahestehende Zeitung (bei der einst der einstige SPD-Politiker Wolfgang Clement arbeitete und die zu 13,1 Prozent der SPD-Medienholding DDVG gehört), "ab Februar von der konservativen Konkurrenz" gefüllt werden soll, bietet aber auch human touch: "Chefredakteur Malte Hinz soll geweint haben, berichten Teilnehmer der Mitarbeiterversammlung". Ein Porträtfoto Hinz' zeigen der hier im zweiten Absatz zum schnellen Klick empfohlene Link bzw. auch die TAZ hier, wo sie ihn 2009 als "Mann des Volkes" vorstellte.

"Die Betroffenen wurden in Hagen bei einer Mitarbeiterversammlung informiert. Ein Sozialplan sieht - gestaffelt nach Alter und Betriebszugehörigkeit - Abfindungen vor", informiert eher nüchtern der Kölner Stadtanzeiger (übrigens aus der Amsterdamer Straße, denn dem Verlag M. DuMont Schauberg gehört die eingangs erwähnte Netzeitung). Dort spielt natürlich die Unsicherheit hinein, was Ende dieses Monats bei der insolventen DuMont -Zeitung Frankfurter Rundschau verkündet werden muss. Mitarbeiterversammlung in Hagen, obwohl der Hauptsitz der WR eigentlich in Dortmund war bzw. noch ist?

"Ja, ich war auf der Mitarbeiterversammlung der Westfälischen Rundschau in Hagen", sagt der bekannteste der WAZ-Geschäftsführer, Christian Nienhaus, im Kurzinterview aus seinem Auto heraus, das meedia.de mit ihm führte. "Die Westfälische Rundschau hat noch nie einen Cent Gewinn gemacht", sagt er ebenfalls.

Solche Argumente führt auch die FAZ in ihrem Bericht dazu an: "Den Vorwurf sozialer Kälte weist die WAZ indes zurück. 35 Jahre lang habe man den defizitären Titel gehalten, man habe einen 2009 geschlossenen Sozialplan bis 2014 verlängert, der Abfindungen von achtzehn bis maximal 23 Monatsgehältern vorsieht. Der jetzige Schritt habe damit zu tun, dass die Anzeigenmärkte dramatisch eingebrochen seien". Die Süddeutsche dahingegen erinnert an Anneliese Brost, die 2010 verstorbene Hierarchin eines der u.a. für ihre Zerstrittenheit bekannten Familienstämme im WAZ-Konzern. Anno 1946 hatte sie als Sekretärin bei der WR begonnen und wohl immer schützend ihre Hand über das Blatt gehalten. Außerdem zitiert die SZ noch einen denkwürdigen Nienhaus-Satz:

"Wir wissen natürlich, dass es weniger Pressevielfalt ist, als wir sie heute - auf unsere Kosten und mit Verlust - darstellen. Aber es ist mehr Pressevielfalt, als wenn man die Westfälische Rundschau einfach eingestellt hätte",

so der WAZ-Manager. Ob Pressevielfalt solcherart  messbar ist - unklar. Dass die WR künftig "nur noch ein Hohlkörper" sei, meint der Zeitungswissenschaftler Michael Haller im Tagesspiegel. Und dasgleiche formuliert am zupackendsten newsroom.de-Chefredakteur Bülend Ürük:

"Auf dem Altar der Banken hat die WAZ-Geschäftsführung beschlossen, die 'Westfälische Rundschau' zuzusperren. Anstatt diesen Akt des Niedergangs mit Würde zu beenden, hält der Verlag einen vermeintlichen Wettbewerb in Westfalen aufrecht und lässt die Zeitung weiter erscheinen - ohne eigenes Team, ohne eine Idee, als pures Flickwerk und angewiesen auf konkurrierende Unternehmen".

[+++] Damit zum Medien-Metathema des bisherigen Jahres: dem Widerstreit der Meinungen, der vermeldeten und der gerade nicht vermeldeten Informationen rund um die neue Haushaltsabgabe und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

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Während Stefan Niggemeier es der historisch ja nicht unverdienstvollen Persönlichkeit Vera Lengsfeld nicht erspart, ihren weniger diskutablen Handelsblatt-Beitrag zum Thema öffentlich durchzulesen, während die TAZ Neueinsteigern in diesen Diskurs heute ein übersichtliches Was-bisher-geschah bietet und bevor morgen abend der dort genannte Handelsblatt-Redakteur sowie Niggemeier-bekannte Buchautor Hans-Peter Siebenhaar in ebenfalls derselben Sache in Maybrit Illners Talkshow performen wird ... hier noch der Hinweis, dass das ZDF Desinformation in eigener Sache ebenfalls beherrscht.

Das sowieso schwache "heute-journal" gestern (mit Christian Sievers und Wolf-Dieter Poschmann als Lance Armstrong-Experte) enthielt zum Stillen des wiederholt erwähnten "Informationsbedarfs" diesen Beitrag. In der Rahmenhandlung tritt ein wissbegieriger Göttinger Student mit der Frage auf, was denn die Studenten im Studentenheim jetzt so bezahlen müssen. Nach einem bunten Allerlei mit Aussageschnipseln von ZDF-Intendant Thomas Bellut und der gelehrten Widerlegung der ganz kurz angerissenen Ansicht, die Haushaltsabgabe sei eine Steuer, durch das Ex-ZDF-Verwaltungsratmitglied Dieter Grimm, wird der Student per off-Kommentar mit folgender Auskunft beschieden:

"Die Apartments gelten laut Gesetz als separate Wohneinheiten. Es bleibt somit bei 17,98 Euro im Monat, wie zuvor bei der Gebühr" -

und schaut dabei für die ZDF-Kamera auf einem Laptop ZDF-Fernsehen. Dass Laptops als, wie Rundfunkrechtler sagten (und sonst niemand sagt) "neuartige Rundfunkempfangsgeräte" bislang weniger Rundfunkgebühr kosteten und dass gerade das insbesondere für Studenten in Studentenheimen, wenn sie keine Fernsehgeräte besitzen, ein ziemlich valides Argument gegen die aktuelle Haushaltsabgabe ist, das kommt in dem ZDF-Beitrag nicht vor.
 


Altpapierkorb

+++ Auch das ein Zeitungsmedienseiten-Thema: ein Fernsehfilm als "in seiner konsequenten Erzählhaltung eine seltsam deprimierende Wohltat" (Spiegel Online) und in zwei unterschiedlichen Sendefassungen - einer leicht gekürzten für 20.15 Uhr, einer "ungeschnittenen" für 0.20 Uhr. Der Grund: Eigentlich für eine TV-Produktion unnötig, bloß wegen der geplanten Veröffentlichung auf DVD wurde der Film der nur für Kino- und eben DVD-Veröffentlichungen zuständigen FSK vorgelegt und von dieser erst ab 16 Jahren freigegeben. Das heißt, im Fernsehen darf er in dieser Fassung erst nach 22.00 Uhr gesendet werden. "Operation Zucker" lautet der Titel. Siehe auch Tsp. (zum Film: "Es ist ein Film der starken Frauen..."; zu den Fassungen). +++ Die Süddeutsche auf Basis von Aussagen der Produzentin Gabriela Sperl, die FAZ im Gespräch mit der BR-Fernsehchefin Bettina Reitz befassen sich auch mit dem Film. +++ Also alle einer Meinung? Nein: "Die FSK-taugliche Version ist ein schmerzhafter Schnitt ins Herz des Films", meint Klaudia Wick in der BLZ. +++

+++ Die Ex-Privatfernseh-Nanny Katharina Saalfrank jetzt öffentlich-rechtlich: "Der Südwestrundfunk will es besser machen als RTL. Gelungen ist das Vorhaben nicht, obwohl die Ausgangslage gut war.Gelungen ist das Vorhaben nicht, obwohl die Ausgangslage gut war", kritisiert die FAZ die Sendung. +++ "Allergrößten Wert auf journalistisch saubere Arbeit gelegt" sah dagegen der Tagesspiegel. +++

+++ Mutmaßliche Schleichwerbe-Updates zu den im Prinzip vor allem öffentlich-rechtlichen Brüdern Thommy und Christoph Gottschalk gibt's auch. Auch sie kommen vom Handelsblatt. +++

+++ Außerdem geht's in der SZ um den freien Hörfunkjournalisten Peter Zudeick, der mit 66 Jahren vom Sender (HR) musste, obwohl er seinen satirischen Wochenrückblick (hier bei wdr.de als Podcast) gern weitermachen würde. +++

+++ Wer Gelegenheit und den Wunsch hat, über einen Text mit überraschendem, weil so selten zu lesendem Inhalt länger nachzudenken: "Aufmerksamkeit ist moralfrei, Amoralität nützt ihr, weil sowohl der Fehltritt als auch die Erregung darüber zum Hinschauen verführen. Aufmerksamkeit  fühlt nichts, sie lässt sich von Katastrophen füttern. Redaktionen legen üblicherweise die Zahl der Toten fest, die sie für aufmerksamkeitsträchtig halten; daran kann sich der Volontär, der Nachtschicht hat, orientieren", schreibt Hans-Jürgen Arlt, bekannt u.a. als Bild-Zeitungs-Kritiker, über Medienökonomie auf Carta. +++

+++ Wer nicht so lange über einen Text nachdenken möchte, dem bietet der Tsp. dann noch gedruckte Talkshow-Comedy von Oliver Welke, selbst ja multiple Fernseh-Celebrity, und Dietmar Wischmeyer: "... Reinhold Beckmann liegt auf dem Boden vor seinem Schreibtisch und spielt auf einer nicht angeschlossenen E-Gitarre „Smoke on the Water“. Es geht ihm super. Draußen vor der Tür hustet jemand. Da sitzen seit einer halben Stunde seine dreiundzwanzig Mitarbeiter und warten auf den Beginn der Konferenz..." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.



 

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