Kosmische Vollkommenheit

Kosmische Vollkommenheit

Ein wieder einmal historischer Tag für die Journalismusbranche in Deutschland: Die Welt führt eine Paywall ein, als mehr oder weniger erste überregionale Tageszeitung, nach diversen regionalen

Den lustigsten Artikel zum größten Medienbranchenereignis dieses Tages druckt die FAZ auf Seite 7 im dafür durchaus passenden Ressort "Deutschland und die Welt". Er trägt die Überschrift: "Heute heiraten ist rational." Es ist der 12.12.12, und es heißt im Text:

"Die Zwölf hat stets einen positiven Symbolwert – im Gegensatz etwa zur Dreizehn, die ja als '12 + 1' verstanden wird: als ungerade, um eins überschüssige Zahl. Auch ist die Zwölf nicht ambivalent wie etwa die Sieben oder die Elf, die sowohl glücks- als auch unheilbringend gedeutet werden können. Schon im alten Mesopotamien symbolisierte die Zwölf kosmische Vollkommenheit".

Was tut man also an einem zwölfreichen Tag wie diesem? Man wäre ja blöd, wenn man nur heiraten würde, wenn man auch eine Paywall einführen kann. Und so traut sich heute Die Welt aus dem Axel-Springer-Verlag (wie gestern auch im Altpapier vermeldet). Falls jemand glaubt, es sei Zufall, dass das neue Bezahlmodellsystem ausgerechnet heute startet, an einem Mittwoch mitten im Monat, kennt die Kollegen aus dem Springer-Verlag schlecht.

"Das Datum ist symbolisch gewählt",

behauptet zumindest – und es gibt wenig Grund, an der Aussage zu zweifeln, denn das Datum wird ja kaum ausgewürfelt worden sein – der Tagesspiegel. Warum schließlich an einem Montag anfangen oder an einem Monatsersten, nur weil man digitale Monatsabonnements verkaufen will, wenn man doch ein symbolisches – na ja, jedenfalls ein lustig klingendes – Datum voller kosmischer Vollkommenheit haben kann?

Es geht ja um nichts weniger als einen welthistorischen Einschnitt: "Als erstes großes deutsches Nachrichtenportal" setzt Welt Online "im Internet auf digitale Abo-Angebote", schreibt Welt-Chef Jan-Eric Peters. Von Konkurrenten wird die Formulierung, die – natürlich nur an dieser Stelle (ansonsten hätten wir da auch noch "Qualitätsjournalismus, "erstklassiger Journalismus", "vielfach ausgezeichnete journalistische Arbeit") – arg übertreibungsfrei daherkommt, aber gerne getoppt: So heißt es, wiederum beim Tagesspiegel, der Springer-Verlag wolle

"eine neue Epoche für die deutsche Zeitungsbranche einläuten. Er will die Kostenloskultur im Netz beenden und macht deshalb als erster deutscher Verlag mit Welt Online die Website einer überregionalen Tageszeitung kostenpflichtig".

Wie so oft, wenn Springer steil geht, bimmelt es auch in Konkurrenzmedien also nur so vor Epoche und Kampfbegriffen und Superlativ, und einerseits ist das nachvollziehbar, da die ein wenig vor sich hinkriselnde Branche in Fragen digitaler Innovationen sich gerne auf schlachterprobte Vorreiter verlassen will, teilweise wohl nicht ohne die Hoffnung, es möge bloß klappen mit dem neuen Modell und der Erfolg anschließend bitte abfärben, bevor man wieder weiterlästert.

Andererseits ist es ganz schön albern, da es die unterschiedlichsten Bezahlmodelle – auch bei Springer-Zeitungen wie Hamburger Abendblatt und Berliner Morgenpost – ja bereits zwölfweise gab und gibt. Bei newsroom.de steht seit geraumer Zeit eine Liste von "Tageszeitungen, die eine fast immer unterschiedlich geartete 'Paywall' haben und nicht alle Inhalte kostenlos anbieten", die von A wie Aller Zeitung bis W wie Wolfsburger Allgemeine Zeitung reicht. Und wer schon vor Jahren einen Artikel aus mancher anderen überregionalen Tageszeitung online lesen wollte, konnte das gegen Entgelt tun, Größenordnung 2,20 Euro für einen 50-Zeiler. Das funktionierte erstaunlicherweise nicht, aber ein Bezahlmodell war es halt doch.

+++ Mit der Zwölfer- aber nicht genug der Symbolik, es gibt nämlich auch noch Bezahlmauer-Zitate. Und alles, was in diesem deutsch-deutschen Land mit Mauer zu tun hat, verweist gemeinhin auf Springer-Geschichte Axel Cäsars einsamen Kampf gegen den Kommunismus auch noch auf etwas anderes. Wir erinnern uns:

"Das Wort Mauer hat einen besonderen Klang im Hause Springer",

wie Claudia Tieschky in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Vermutlich wird man sich eines Tages in einem Verlagsrückblick anlässlich der ersten 100 Jahre Axel-Springer-Verlag auf die Deutung verstehen, dass das Unternehmen – "eine Pointe der bundesdeutschen Geschichte" – den Kapitalismus mit der Errichtung einer Mauer gerettet hat. Wie in keinem anderen Verlag versteht man sich dort schließlich darauf, die eigene Geschichte in einen kosmischen Gesamtzusammenhang zu stellen, auf dass ein wenig Glanz abfalle. Für heute allerdings bleibt in Sachen Mauer-Zitat die erst einmal nüchterne Feststellung, dass Romanus Otte, Digital-Chef der Welt-Gruppe, in verschiedenen Medien je unterschiedlich wörtlich zitiert wird – und nicht mit jedem dieser drei Sätze kommt er zwangsläufig ins Lehrbuch Geschichte.

SZ: "Es geht uns überhaupt nicht darum, eine Mauer zu errichten."

Tagesspiegel: "Es geht uns nicht darum, eine unüberwindbare Mauer um unsere Inhalte hochzuziehen, sondern wir wollen zahlungsbereiten Nutzern ein faires Angebot bieten".

taz.de: "Wir haben nicht die Absicht, eine Mauer zu errichten".

Otte übrigens, dies für die Chronisten, trug laut SZ einen hellen karierten Anzug, als er diese Worte – welche auch immer – sagte.

+++ Völlig andere Frage: Warum sagt Otte das (was auch immer er sagte)? Weil an den neuen Bezahlmodellen besonders auffällt, dass man sich ums Bezahlen auch drücken kann, wenn man es darauf anlegt. "Artikel, auf die von Suchmaschinen, Sozialen Netzwerken oder anderen Seiten verlinkt wird, bleiben kostenlos", heißt es via dpa etwa bei berliner-zeitung.de / fr-online.de. DWDL rät analysiert: "Will man einen Artikel kostenfrei lesen, genügt es also, dessen Überschrift bei Google einzugeben, um an ihn heranzukommen."

Was ist das also für eine Paywall bei der Welt? Es handelt sich um eine sogenannte metered paywall, "was bedeutet, dass eine bestimmte Anzahl von Artikel kostenfrei zu lesen ist, bevor ein Obolus verlangt wird", wie die FAZ anlässlich der Einführung einer metered paywall bei der Washington Post dieser Tage schrieb. "Damit folgt die 'Post' dem Vorbild der 'New York Times'", hieß es dort – und jene weltberühmte New York Times ist es auch, die nun Pate steht für den Feldversuch der Welt, jedenfalls wird sie herbeizitiert. Bei fr-online wird als Vorbild ebenso die NYT genannt, auf die sich der Springer-Verlag auch selbst beruft, wie beim Tagesspiegel und in der SZ. Letztere ordnet das Welt-Bezahlmodell, das auch taz.de via Agentur detailliert und die gedruckte taz weniger detailliert vorstellt, am umfassendsten ein: Es

"bringt für im Internet veröffentlichte Texte erstmals Vertriebserlöse wie im klassischen Kioskgeschäft. Aber die Währung für die Anzeigenpreise, die Reichweite, sinkt damit. Es ist ein Risikogeschäft. International hat sich die New York Times schon vor eineinhalb Jahren dazu entschieden und einen rasanten Rückgang im Anzeigengeschäft kassiert. Trotzdem wechselt im Moment praktisch die gesamte Schweizer Presse von NZZ bis Blick im Internet zum Abo-Modell. Es könnte sein, dass Deutschlands Qualitätsmedien bald ebenfalls konvertieren."

+++ Nun ist nur Die Welt nicht die New York Times, das kann man wohl festhalten, ohne jemandem zu nahe zu treten, und zwar schon deshalb nicht, weil die New York Times als englischsprachige Zeitung von weltweiter Bekanntheit international von größerem Interesse ist als jede deutschsprachige es sein kann. Christian Meier von Meedia weist zudem darauf hin, dass die Welt "auf dem deutschen Markt eine andere Position" hat als die New York Times in ihrem ohnehin größeren Markt, "sie ist nur die viertgrößte Newsmacht in Verlagshand".

Dass das Experiment also im Verlagssinn glückt, ist nicht ausgemacht. Das weiß man auch beim Springer-Verlag, wo von "Skepsis" und "Versuch" die Rede ist, und man kann wohl, wie auch hier und da angedeutet wird, davon ausgehen, dass ein Plan B ebenso in der Schublade liegt wie ein Plan C.

Geschafft hat es der Springer-Verlag immerhin schon jetzt, mit einem großen Auftritt vor Journalisten am Montag die Konkurrenz dazu zu kriegen, wohlwollend und teilweise im besten Pressemitteilungsdeutsch über die Abonnement-Details der Welt-Paywall zu berichten. Nur die FAZ verliert kein Wort darüber – liegt's am früheren Redaktionsschluss? –, stärkt aber den Springer-Kollegen immerhin anderweitig den Rücken und gibt ihnen an diesem 12.12.12 aufmunternde Zahlenmystik mit:

"Die Zahl Zwölf hat so viele wohltuende Eigenschaften, dass denen, die sich heute trauen, eigentlich nichts passieren kann."


ALTPAPIERKORB

+++ Grundsätzlich wird ein Paywall-Vorhaben von ernstzunehmender Seite derzeit kaum noch kritisiert – selbst die taz benutzt ja mittlerweile im Leitartikel das Wort "Gratiskultur". Einige Lebenslügen von Verlagen und digitaler Avantgarde zählt das onlinejournalismusblog auf +++

+++ Die Meldungen rund um den Suhrkamp-Verlag (siehe u.a. Berliner Zeitung oder Seite 3 und Streiflicht der SZ) gehören nicht zwangsläufig ins Medienressort, aber einen Anknüpfungspunkt gibt es da doch: Es gibt diverse Google-Treffer auf ältere Suhrkamp-Geschichten, wenn man den Namen Hans Barlachs, des Minderheitsgesellschafters, zusammen mit dem Josef Depenbrocks googelt. "Was macht eigentlich...?" +++

+++ Die FAZ widmet ihren Medienseitenaufmacher der Sachsensumpf-Affäre: Die zwei betroffenen Journalisten sind von den Vorwürfen der üblen Nachrede und Verleumdung freigesprochen worden. "Zugleich appellierte der Richter an Journalisten, Eingriffe in Persönlichkeitsrechte genau abzuwägen. 'Wer sich dem investigativen Journalismus verschrieben hat, trägt das gleiche Risiko wie Berufskraftfahrer und Ärzte, er steht immer mit einem Bein im Gefängnis'" +++

+++ Ein weiteres Urteil, diesmal des Bundesgerichtshofs, um das es im Fall "IM Christoph" geht: "Wenn die Stasi-Unterlagenbehörde jemanden als Inoffiziellen Mitarbeiter bezeichnet, dann darf die Presse darüber auch berichten" – so fasst die SZ zusammen +++

+++ Die ARD ist beleidigt: Der Spiegel hat sie grundsätzlich kritisiert, und jetzt darf man ja auch mal sagen, dass nicht jedes Detail schlecht ist (siehe etwa Meedia) +++

+++ Die taz-Kriegsreporterin entdeckt ihr Herz für Maria Furtwängler +++ Und daneben führt die taz ihre kleine GEZ-Serie fort +++

+++ "Ruhrgebietskitsch" (Tagesspiegel) mit Axel Prahl (ARD, 20.15 Uhr), besprochen von TSP, SZ und FAZ +++ Letztere bespricht auch "Der Mann, der über Autos sprang" (SWR) +++ Der Tagesspiegel interviewt – noch ein "Tatort"-Schauspieler an diesem Tag – Til Schweiger +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Donnerstag.

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