Was ist schon wahr?

Was ist schon wahr?

Nach dem FAZ-Leitartikel vom Samstag freut man sich, dass der Shitstorm erfunden wurde. Bettina Wulff will die Deutungshoheit über ihr Leben zurückgewinnen und wehrt sich gegen alte Gerüchte. Factchecking bedeutet nicht Wahrheit. Gertrud Höhler tut Dinge. Und deutsche Chinakorrespondenten schreiben der Kanzlerin

Zum 20. Jahrestag der ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen schrieb FAZ-Redakteur Jasper von Altenbockum am Samstag einen Leitartikel; im Vorspann der Online-Version hieß es:

"Der Terror brachte manchen Sozialromantiker zur Besinnung und machte den Weg für eine gesteuerte Einwanderungspolitik frei."

Wer nach dieser Hirnrissigkeit googelt, die im Internet Wellen schlug (siehe, nur zum Beispiel, FAZ-Blogger Don Alphonso), kommt auf eine Onlineversion, in der der besagte Satz, der etwa hier (pdf) dokumentiert ist, gar nicht steht. Seltsamerweise ohne Erklärung seitens der FAZ-Redaktion, was Tom Strohschneider im Neuen Deutschland kritisiert:

"Einen Kommentar oder eine Erläuterung zur redaktionellen Änderung findet man nicht. Es wäre die Gelegenheit gewesen, einen geistigen Brandsatz auszutreten."

Den Strohschneider wiederum so zusammenfasst:

"Was sagt Altenbockum hier anderes, als dass seiner Meinung nach erst ein rassistisches Pogrom kommen musste, um Multikulti-Spinner und linke Ausländerfreunde zu bremsen? Was anderes ist da geschrieben als dass der von Anwohnern beklatschte mörderische Hass eine sozusagen gesellschaftspolitisch nützliche Pointe hatte?"

Manchmal freut man sich dann doch, dass es so etwas wie Shitstorms gibt.

+++ Über Rostock zu einem Schwerpunkt der Medienberichterstattung des Tages: zu Bundespräsidialem. Während das neue Staatsoberhaupt Joachim Gauck anlässlich der Erinnerung an Lichtenhagen, in deren Rahmen er sprach, am Sonntagnachmittag als Onlineaufmacher herumgereicht wurde, beschäftigen sich diverse Medien am Sonntag auch noch einmal prominent mit Gaucks Vorgänger, Christian Wulff, dessen Rücktritt zu Jahresbeginn nicht ohne medialen Kontext lesbar ist.

Die Welt am Sonntag widmet Wulff zwei Seiten, eine Woche nach der Spiegel-Veröffentlichung über den "Bruch" zwischen Wulff und seinem ehemaligen Sprecher Olaf Glaeseker, der im Zuge der Wulff-Affäre zurückgetreten worden war (Spiegel 34/2012, S. 16 ff., noch nicht frei online; kommentiert auch von Michael Spreng u.a. bei Carta). Der Bruch der als Freundschaft beschriebenen Beziehung zwischen Wulff und Glaeseker ist auch in der WamS Thema; an dieser Stelle relevant ist aber definitionsgemäß das Mediale.

Interessant ist in diesem Sinn, was in der WamS nicht steht. Da steht zum Beispiel wenig über Bettina Wulff, abgesehen von einem dem Haupttext beigefügten Kasten, der mit der Beobachtung endet, über eines seien "sich alle einig: Man wird von der Dame noch hören. So oder so."

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Wie und wo, zum Beispiel, man von ihr hören wird, das steht im Spiegel: Sie "will die Deutungshoheit über ihr Leben zurückgewinnen, sowohl publizistisch als auch juristisch". Und zwar mit einem Buch, das im Riva-Verlag erscheinen soll. Nachzuschauen, was bei Riva sonst so erscheint, wie @peterbreuer bei Twitter vorschlug, ist natürlich, weil es dieses Ergebnis zeitigt, lustig – der Assoziationen wegen, die für Bettina Wulff den Verlust der besagten Deutungshoheit bedeuten. Andererseits verweist der kleine Spaß nicht auf Bettina Wulf herself, sondern vielmehr auf die mediale Verselbständigung eines bloßen Gerüchts. Der Spiegel, online geringfügig ausführlicher:

"Inzwischen haben sowohl die 'Berliner Zeitung' als auch der 'Stern' Unterlassungserklärungen in der Sache abgeben müssen. 'Wir haben eingesehen, dass nicht haltbar ist, was wir geschrieben haben', sagt 'Stern'-Chefredakteur Thomas Osterkorn. 'Das hätte nicht passieren dürfen.'"

Für Leute, die sich einen Dreck für medieninterne Vorgänge interessieren, klingt das so freilich ein wenig kryptisch. Die "Sache", das sind Spekulationen über Bettina Wulffs Vergangenheit. Wer sich nun für das Gerücht darüber interessiert, muss es googeln, aber nicht glauben – das Gerücht heißt ja nicht zufällig Gerücht. Aber man versteht die Wulff-Affäre, jedenfalls die ganze, nicht vollständig, wenn man einfach so tut, als habe es nie kursiert.

Es gab um den Jahreswechsel 2011/12 herum, genau genommen, zwei Gerüchte: zum einen das Gerücht, dass die Bild-Zeitung in Bettina Wulffs Vorleben herumrecherchiert. Und zum anderen das Gerücht, dass diese Recherchen etwas ergeben (haben) könnten. Falls da draußen gerade jemand nach Themen sucht, die einigermaßen aufwändig zu recherchieren sind und letztlich vielleicht nichts ergeben: Gerücht 1 gälte es schon nochmal zu überprüfen. Die taz machte am 2. Januar 2012 eine zwar leise, aber immerhin eine Andeutung:

"Spekulationen, Bild habe auch wegen Recherchen über das frühere Leben von Bettina Wulff den Groll des Bundespräsidenten auf sich gezogen, wollte der Springer-Verlag gestern nicht kommentieren. Intern heißt es, dies sei 'kein Thema mehr'."

Um den Jahreswechsel herum allerdings verhandelten Journalisten in ihren zahlreichen Kaffeeautomatgesprächen auch tatsächlich Gerücht 2. Als Günther Jauch in seiner Talkshow im vergangenen Dezember einen (online nicht mehr auffindbaren) Artikel der Berliner Zeitung zitierte, in dem es in veröffentlichte Worte gefasst worden war, galt es unter Journalisten als denkbar, dass Jauch damit die Schleusen für seine Verbreitung geöffnet hatte. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, wann jemand damit herauskäme. Und tatsächlich: Harald Schmidt machte Tage später einen entsprechenden Witz. Und Anfang Januar 2012 ging es selbst in einem "Tagesschau"-Kommentar um die Frage, ob Wulff mit seinem berühmten Anruf bei Kai Diekmann, dem Bild-Chefredakteur, "Berichterstattung über seine Frau, also Bettina Wulff und eine mögliche Vergangenheit" habe verhindern wollen.

Das bloße Gerücht war zu diesem Zeitpunkt allein durch seine riesige Verbreitung – beginnend im Juni 2010 bei einem Tippfehler einer hannoveranischen Zeitung, die in "First Lady" das "r" vergessen hatte, und bei diversen belegfreien und ziemlich hirnlosen Blogeinträgen – in den Status einer offensichtlich unausgesprochenen Wahrheit übergegangen. Heute (also gestern) beschreibt die WamS Bettina Wulff als ehemalige "Mitarbeiterin des in Hannover ansässigen Reifenherstellers Continental". Die vermeintlich unausgesprochene Wahrheit ist in den Status eines von niemandem auch nur andeutungsweise belegten Kleine-Jungs-Gerüchts übergegangen.

+++ So viel zum Zusammenhang von Stiller Post und Wirklichkeitsbetrachtung. Und damit noch zu einem bemerkenswerten Artikel über Fakten und Fiktionen. Allerdings mit anderem Fokus: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (derzeit nicht frei online) schreibt über das Buch "The Lifespan of a Fact". Kurzzusammenfassung: Essayist schreibt Text, sucht Bedeutung; Factchecker redigiert, korrigiert, fragt nach, will Fakten. Und am Ende dauert die Kompromissfindung der beiden sieben Jahre und wird ein Buch, das, so FAS-Redakteur Harald Staun, grundsätzliche Positionen anschaulich mache: die

"Fragwürdigkeit von Kategorien wie fiction und nonfiction (...), die vortäuschen, man könne oder müsse Reinheitsgebote für die Disziplinen der Weltbeschreibungen aufstellen, Journalismus und Literatur, Wahrheit und Lüge".

Stauns Text handelt im Subtext – aber das kann auch eine eigenwillige Lesart sein – auch ein klein wenig von der "Der Sturm", dem Krimi des u.a. SZ-Redakteurs Thomas Steinfeld, in dem ein Journalist umgebracht wird, der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ähneln soll. Bemerkenswert ist die Einordnung der "jüngsten Täuschungsskandale des deutschen Journalismus"; genannt wird etwa das Porträt des Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, dessen Kochkünste Heribert Prantl in der SZ beschrieb, als habe er neben ihm in der Küche gestanden (was nicht der Fall war, wie seinerzeit die FAZ freundlicherweise aufklärte):

"Ein erfundenes Zitat, ein ausgedachter Besuch – das reicht, um den Ruf ordentlich zu ruinieren."

Man kann das – auch das mag aber u.U. eine eigenwillige Lesart sein – vielleicht als Aufforderung verstehen, einen Fehler irgendwann dann auch wieder zu verzeihen. Als Basistext für die nächsten Journalismus-Großkonferenz-Diskussionen sei der Text aber vor allem wegen der Dekonstruktion des Glaubens an die "Fakten" empfohlen:

"Was (...) selbst die beste Faktencheck-Abteilung nicht kontrollieren kann, das sind die Manipulationen, die in jedem journalistischen Text schon als Prämisse eingebaut sind: die Enge jeder Perspektive, die Subjektivität jeder Begegnung, das Rollenspiel aller Beteiligten, die Skripte der Statements und die Selbstverständlichkeiten der Genres. Es kann in einer Welt voller Lügen und Inszenierungen nicht nur darum gehen, die Wahrheit zu erzählen."


ALTPAPIERKORB

+++ Auch ein Thema: Gertrud Höhler. Sie war zum einen bei "Günter Jauch" zu Gast, dessen Redaktion sich anlässlich der Promotion für ihr Buch über das "System Merkel" um Parteiproporz bei der Gästeauswahl nicht weiter scherte und als einzigen Nicht-CDU-Mann einen konservativen Kulturkritiker einlud; Jauch-Kritiken stehen, Stand 7:54 Uhr, online bei der Berliner Zeitung, der Welt und der FAZ +++ Desweiteren zu bemerken: die Auseinandersetzung zwischen Höhler und "Kulturzeit", nachzulesen im Blog der Sendung oder bei Meedia; und die daran anknüpfende und kaum dogmatisch beantwortbare Frage, ob man Interviewpartnern vorab Fragen zukommen lassen sollte, und wenn ja, alle in ihrer genauen Formulierung oder nur die groben Themen (siehe hierzu den Kommentar von Höhlers PR-Beraterin Claudia Cornelsen unter dem Blog, 24.8., 16:31 Uhr) +++ Die Höhler-Geschichte, inkl. Zusammenfassung dessen, was bis dahin medial geschah, steht auch im Freitag +++ Dazu noch Merkel-Biograf Gerd Langguth im Spiegel: Wenn Höhler Kanzler Helmut Kohls Beraterin gewesen wäre, wie es überall heiße, dann müsste irgendjemand wissen, wie sie ihn wann wobei beraten habe +++

[+++] Mit dem Astronaten Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond betreten hatte und der am Wochenende gestorben ist, ist – die vielen und zum Teil emotionalen Nachrufe auf einen Mann der Technik zeigen es – eigentlich einer der größten Fernsehentertainer der Geschichte gestorben. 500 Millionen Menschen schauten ihm bei der Mondlandung zu, damals ein knappes Siebtel der Weltbevölkerung. Das wäre heute etwa eine Milliarde. Rechnet man nun noch die geringere Verbreitung von Empfangsgeräten mit ein, schlug Neil Armstrong schon mal vorab jedes Männerfußball-WM-Finale. Ein kleiner Schritt für Neil Armstrong war ein großer für das Fernsehen +++ Frank Schirrmacher nutzt den Armstrong-Nachruf im FAZ-Feuilletonaufmacher für einen Blick auf die Welt aus der FAZ-Feuilletonperspektive: "In einem Augenblick, wo alle sich einig sind, dass es die Technologie ist, die das Antlitz der Erde und uns selbst verwandelt hat, durchlöchern sie (gemeint sind "Peter Thiel, (...) ein Heros der Wall Street und des Silicon Valley" und "David Graeber, "Mitbegründer der Anti-Wall-Street Bewegung 'Occupy'"; AP) "das Selbstbewusstsein der technokratischen Intelligenz mit ihren Fragen: Wieso ist die Zukunft zu Ende? Warum gibt es seit vierzig Jahren fast keinen wirklichen technologischen Fortschritt mehr, der die Versprechungen einlöst, die uns gemacht wurden?" +++

+++ Viel China auf den Medienseiten: Deutsche Korrespondenten, darunter die der berichtenden Zeitungen, haben der Kanzlerin, die dieser Tage nach China reist, einen Brief geschrieben, bitten um ihren Einsatz für die Pressefreiheit und beklagen konkret "behördliche Willkür, Einschüchterungsmaßnahmen und die Benutzung der Visum-Vergabe als Druckmittel" (Tagesspiegel); siehe auch Kölner Stadt-Anzeiger / Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau aus dem DuMont-Verlag +++ Dazu schreibt die Süddeutsche über eine mögliche chinesische Medieninszenierung bei Olympia 2012: Der bekannte Hürdenläufer Liu Xiang, der im Vorlauf verletzt ausgeschieden war, verletzte sich womöglich nicht sehr überraschend, bevor er heldenhaft auf einem Bein ins Ziel humpelte. Der Fernsehreporter, der die Szenen "mit tränenerstickter Stimme und viel Pathos" (SZ) kommentierte, "erklärte in der vergangenen Woche auf einem CCTV-Forum zur Olympia-Berichterstattung, er habe von Lius hohem Verletzungsrisiko an der Achillessehne gewusst und deshalb vier verschiedene Skripts vorbereitet. Chinesische Medien zitierten Yang mit den Worten: 'Mein Vorgesetzter bat mich, diesen heldenhaften Athleten zu preisen, was auch immer bei dem Rennen rauskommt, und ich war damit vollkommen einverstanden'" +++

+++ Das Hamburger Abendblatt berichtet über einen Wechsel bei der SZ-Medienseite: Christopher Keil wechsle ins Ressort Investigation, die Medienressortleitung übernehme eine Frau +++ Die Funkkorrespondenz berichtet, "dass der WDR einen Redakteur zu Unrecht abmahnte und diese Abmahnung aus der Personalakte wieder entfernen muss (...). Außerdem muss die Rundfunkanstalt dem Redakteur Rechtsschutz für dessen zivilrechtliche Auseinandersetzung mit einem freien Mitarbeiter gewähren"; soweit das Kölner Landesarbeitsgericht +++ Der Facebook-Aussteigertext im Tagesspiegel ist ein schöner Text, der womöglich aber ein wenig mehr über die Autorin verrät als über Facebook +++ Ebenfalls im Tagesspiegel: Was wurde aus der Initiative ProQuote? Sonja Pohlmann schreibt: "ProQuote blickt derweil nach München und fragt mit Blick auf 'Brigittes' neuen Mann: 'Wann kommt die weibliche Chefredakteurin beim 'Playboy‘?'" +++ Mathias Opdenhövel u.a. folgen mit dem "Sportschau -" auf den "Waldis Club" (Welt online) +++

+++ Und Rezensionen: Die FAZ bespricht "Im Land der Piraten – Terror vor Somalias Küste" von Ashwin Raman (ARD, 22.45 Uhr): "Dieses Panoptikum des Niegesehenen bannt einen nicht nur, weil die Bilder und Gestalten so beklemmend sind. Es ist auch deshalb sehenswert, weil Raman, der kühne Rechercheur, ein achtbarer Geschichtenerzähler ist" +++ Die taz bespricht die neue Staffel von "Switch Reloaded" (ProSieben, 22.15 Uhr), genau wie Spiegel Online +++ Die taz schreibt auch über das Fußballmagazin Transparent +++ Die SZ bespricht die HBO-Serie "Treme" über das Leben in New Orleans nach dem Hurricane (Sky, dienstags, 21 Uhr) +++ Ebd. geht es um eine Ausstellung über Kunst im Teletext (ARD-Teletext ab Seite 770 oder hier) +++

Das Altpapier wird dann wieder am Dienstag weggebracht.

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