Mitternachtsboulevard

Mitternachtsboulevard

Die erste Seite der "Bild"-Zeitung entspricht im ZDF einer Sendezeit von 23.15 Uhr. In der Frage des Rückzugs von der "Presseähnlichkeit" beraten die ARD-Intendanten. Und was ist eigentlich ACTA?

Hottest topic of the day, erklärt sich von selber, wenn man nur den Tagesspiegel aufmerksam liest:

"Von 'Stern' über 'FAZ' bis 'Bams' scheint es nur noch ein Thema zu geben."

"Man kommt derzeit nicht vorbei", hebt die SZ an. Und meint natürlich das öffentliche "Vergessen Rudi Assauers".

"Wohin man schaut, wohin man hört, überall ist die Demenz-Erkrankung des einstigen Schalke-Managers im Gespräch. Bild druckte vorab Kapitel aus seinem Erinnerungsbuch, der Stern brachte ein Exklusiv-Interview, bei Reinhold Beckmann in der ARD war Alzheimer plötzlich das Thema der Stunde und auch am Sonntagabend in der Insider-Show Sky 90, ein etwas gehobenerer Stammtisch des Bundesligafußballs, wurde Assauers gedacht."

Führt Hans Hoff weiter aus. Und annonciert, wie alle anderen, einen ZDF-Film aus der Reihe 37 Grad über Assauer und seine Erkrankung, der heute abend ausgestrahlt wird – einen Monat vor der ursprünglich geplanten Termin.

Für Hoff fungiert der Film als Ursprungserzählung:

"Ausgelöst hat das Interesse die Ankündigung eines Films der Reihe 37Grad, für den Stephanie Schmidt Assauer ein Jahr lang mit der Kamera begleitet hat."

Was nicht erklärt, warum schon eine Autobiografie vorliegt, aus der Springers heißes Blatt zitieren konnte. Wie auch immer. Wichtiger scheint doch die Betrachtung dieser Aufmerksamkeitsmassierung. AP-Autor Klaus Raab schreibt in der Berliner (warum auch immer nicht online):

"Dass es ihm vornehmlich darum gegangen sei, über eine Krankheit aufzuklären, wird sympathischerweise nicht erst behauptet: Assauer und sein Umfeld wollten vielmehr die Kontrolle behalten, indem sie die Geschichte lieber selbst über weniger ausgewählte Medien verbreiten ... Der Interpretation zu widerstehen, dass die Erkrankung auch für die Buch-Promotion ausgeschlachtet wird, fällt deshalb nicht ganz leicht."

Dass das öffentliche Eingeständnis der Krankheit nicht nur leicht fällt, kann man sich dagegen durchaus vorstellen. Ob diese Dimensionen aber mit einem wulffisierenden Werner-Hansch-Satz treffend beschrieben sind, den die FAZ (auf der ersten Feuilletonseite) zitiert, ist fraglich:

"Natürlich hat Hansch und der enge Freundeskreis um Assauer in den zwei Jahren seit der Diagnose der Krankheit gespürt, dass es eine 'Parallelöffentlichkeit' gibt, in der getuschelt wird und über den Zustand des Schalker Ex-Fußballkrösus Gerüchte in Umlauf gebracht wurden. 'Aber man muss sich klarmachen, dass das Bekanntwerden einer Krankheit in Beziehung zu einem Menschen wie Rudi Assauer bedeutet, dass hier eine Person beschädigt wird, dass die Aura eines Menschen kaputtgemacht wird.'"

Joachim Müller-Jung, ein Wissenschaftsredakteur, der hier bespricht, sieht in der Geschichte das "Symptom einer demographischen wie medizinischen Katastrophe, in die dieses Land und eigentlich jede alternde Gesellschaft derzeit nahezu ausweglos hineinschlittern."

Gefunden wird der Film dann gut mit Abstrichen. Müller-Jung in der FAZ:

"Bei Alzheimer jedoch, dieser zerstörerischen Krankheit des Geistes, geht es noch immer nur darum, bis zum bitteren Ende die Würde nicht zu verlieren. In dieser Hinsicht ist dieser Film zwar einfühlsam, aber gelegentlich eben rustikal."

Hoff kritisiert ähnlich, aber deutlicher in der SZ:

"Hätte man sich darauf beschränkt, das Material für sich sprechen zu lassen, ohne Musiksoße und Melodramaquark, wäre der Film Rudi Assauer ebenbürtig."

Während Raab auf Boulevardformat erkennt, dabei aber auf das beste im deutschen Fernsehen ("sehr nah, vielleicht manchem Zuschauer zu nah am Menschen").

Das wird hier so ausführlich diskutiert, weil darin zwei Aspekte stecken, die helfen können, dieses öffentliche-rechtliche Fernsehen zu verstehen.

Zum einen fragt man sich, wenn Müller-Jung und Hoff recht haben, wie wenig Selbstbewusstsein ein Sender haben muss, der selbst exklusiv-anrührendem Material nicht zutraut, ohne melodramatische Orchestrierung die Gefühle des Zuschauers zu erreichen.

Und zum anderen wundert man sich doch sehr, dass eine Geschichte, die zwei Tage in Folge als Aufmacher auf Springer heißem Blatt die Leute zum Kauf motivieren soll, im ZDF um 23.15 Uhr erzählen werden muss. Das würde uns echt mal interessieren, liebes ZDF.

[+++]Man steckt halt nicht drin, und das gilt auch für die ARD-Intendanten, die sich mit den Verlegern im Streit um die App – also die Textlastigkeit von Internetangeboten aka die Vorherrschaft um die Zukunft im Netz oder was auch immer an apokalyptischen Szenarien da dranhängt – außergerichtlich einigen wollen. Dazu wird gerade in Erfurt beraten, 14 Uhr soll sich erklärt werden.

Monika Piel (WDR), Ulrich Wilhelm (BR) und Lutz Marmor (NDR) schienen für die ARD eine Lösung gefunden zu haben, den Christopher Keil in der SZ (Seite 15) beschreibt:

"Der hätte darin bestanden, ohne Salvatorische Klauseln festzuschreiben, also ohne Rechtsverbindlichkeit, dass sich die ARD als Fernsehsender eher an bildgestützte Online-Angebote hält, die Verleger eher an textbezogene."

Nun spricht Keil aus der schwierigen Position, Redakteur bei einer Zeitung zu sein, deren Verlag zu den Klägern gehört. Was man dem nächsten Satz schon ein wenig anhören kann:

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Der Assauer-Film im ZDF (TSP)##Tagesschau-App-Streit-Kompromiss-Debatte (TAZ)##Was sich hinter ACTA verbirgt (Netzpolitik)##Enttäuschende Premierennummer: Jewish Voice of Germany (KSTA)##]]

"Und während in den Verlagen intern vielleicht problematisiert wurde, ob so ein Kompromiss nicht ein wenig wirklichkeitsfremd klingt, weil das Konvergenzmedium Internet ja genau dadurch geprägt ist, dass alle Medien in ihm zusammenfinden und Konzerne wie Springer sehr auf bewegte Bilder im Internet setzen, während weiter deutlich wurde, dass der Kompromiss bestenfalls eine moralische Verpflichtung enthielte, appellierten in der ARD die Redakteure."

Deren Kenntnisse und Haltung sich wiederum, und da klingt es weiter unten etwas heikel, "allein auf eine Berichterstattung der taz aus der vergangenen Woche stützt."

Gemeint ist dieser Text, der auf Basis eines Entwurfs für die Einigung zwischen ARD/ZDF und den klagenden Verlegern den Verlauf der Kompromisslinie skizzierte – was es da nützen sollte, SZ-, FAZ- oder Welt-Artikel zu lesen, die diesen Entwurf nicht diskutieren, bleibt ein Geheimnis. Welches Interesse auch SZ-, FAZ- oder Welt-Artikel haben sollten, die Kompromisswilligkeit der ARD-Spitzen zu unterminieren.

Steffen Grimberg führt in der TAZ heute an, dass nicht nur die Redakteure die Rückkehr in die "Höhle" des Steinzeitfernsehens befürchten, sollte der Kompromiss so durchgehen.

"Vor allem aber fühlen sich die Gremienvertreter verarscht. Sie haben in Dreistufentests und langen Diskussionsrunden die neuen Angebote im Netz genehmigt und - von der Medienpolitik bestätigt – als vom öffentlich-rechtlichen Auftrag gedeckt bewertet. Dass nun die eignen Intendanten dahinter zurückfallen, hinterlässt einen schalen Beigeschmack... Die diskreten Verhandlungen seien ein erneutes Paradebeispiel für die Kommunikation in der ARD, die 'bei uns im Rundfunkrat ein Nachspiel haben wird'."


Altpapierkorb

+++ Als was gilt eigentlich Springers bild.de? Ist das schon presseähnlich – wenig Text, viel Bewegtbild? Und müssen die Texte noch kürzer werden, wenn Springer Rechte zur Online-Bundesliga-Übertragung ersteigern sollte? Roland Zorn nennt in der FAZ (Seite 31) den Verlag als einen möglichen neuen Bewerber für einen Teil der Rechte ab der Saison 2013/2014. "Der Bieterprozess kommt dieser Tage richtig in Gang. Bis Donnerstag müssen die Dokumente eingereicht sein, Mitte Februar entscheidet der Vorstand des Ligaverbandes, wer zur Rechtevergabe zugelassen wird." So wohlgemut liest sich der ganze Text, moderate Steigerungen für die DFL werden erwartet (von 460 auf 570 Millionen Euro) und sonst bleibt wohl alles, wie es ist. +++

+++ Das gilt angeblich auch für Urheberrecht und Netzfreiheit nach ACTA, dem nicht so beliebten EU-Abkommen, dass sich nichts ändern soll in Deutschland (deshalb legt man ja Gesetze auf, macht Abkommen damit sich nichts ändert). Aufklärung tut not, was sich mit ACTA eigentlich verbindet. +++ Auf Netzpolitik.org hat Kirsten Fiedler schon mal drei (statt der angekündigten 10) Mythen entzaubert. +++ Sehr informativ (aber auch nicht online) ist der Text von Marin Majica und Jonas Rest in der Berliner (Seite 26), der nicht nur auf den Erfolg der polnischen Demonstranten abhebt, die ihre Regierung erstmal vor dem Unterzeichnen bewahren konnten. +++ Die FAZ (Seite 31) berichtet ebenfalls. +++

+++ Steven Spielbergs neuestes US-Fernsehformat als Produzent bespricht die FAZ: "The River". +++ Die Dilemmata der Glücksspielwerbung (die Schleswig-Holstein als einziges Bundesland gestattet) versucht die SZ (Seite 15) zu erklären. +++ Im KSTA ist Tobias Kaufmann von der ersten Nummer von Rafael Seligmanns Zeitung "Jewish Voice from Germany" enttäuscht. +++ In der TAZ wird die Wiederaufnahme von Daniel Domscheit-Berg in den Chaos Computer Club vermeldet. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder gegen 9 Uhr.
 

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