Wohl nicht 400 Antworten, aber zumindest 239 Seiten frisches Material von Christian Wulff liegt vor. Außerdem: Der Springer-Verlag wirft Meilensteine und will im Juni auch in werbefreie Briefkästen eine Bild-Zeitung stopfen lassen.
Es ist eine zuverlässige Faustregel im laufenden Jahr: Wann immer Christian Wulff in der medialen Wahrnehmung etwas zurückgefallen war, kam er tags drauf umso wuchtiger zurück.
Nach der schwachen Wulff-Meldungslage gestern müsste das also auch heute so sein. Neues Material liegt zumindest wieder genug vor: Die lang ersehnten Antworten auf die 400 Fragen sind auf einer Webseite der Anwaltskanzlei des Bundespräsidenten, pdf.redeker.de, in drei PDF-Dokumenten von 81, 75 und 83 Seiten online verfügbar. Zusammengerechnet sind es 239 Seiten, also "rund 240 Seiten", "rund 250 Seiten" (Berliner Zeitung/ AFP). Es ist allerdings bezeichnend, dass sich kein Investigativressort die Mühe gemacht zu haben scheint, die darin enthaltenen Fragen und Antworten zusammenzuzählen.
Beim schnellen Blick in die PDFs bereiten zumindest die teilweisen Schwärzungen von Journalisten-E-Mail-Adressen Freude (sodass weder Spammer noch Whistleblower daraus erkennen können, wie, nur zum Beispiel, die E-Mail-Adresse von tillack.hans-martin hinter dem @-Zeichen weitergeht und den Stern-Redakteur also werde mit Spam belästigen noch ihm durchs Übermitteln brisanter Infos einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können).
Doch insgesamt macht die Antworten-Veröffentlichung erstaunlich wenig Medienwirbel. Die Süddeutsche vermeldet sie lustlos auf Seite 6, die FAZ bringt sie in ihrem Artikel aus dem niedersächsischen Landtag (S. 4) unter. Die Welt immerhin informiert, dass Wulff doch "nicht ...alle Fragen und Antworten, die ihm gestellt wurden, ins Internet" stellen ließ: "Dazu gingen einigen Fragen wohl zu sehr ins schmuddelige Fach." Die TAZ bringt eine Bewertung der Auskünfte: "Neue Erkenntnisse bringt das aber nicht".
Und übt per Kommentar von Meinungsressort-Leiterin Ines Kappert grundsätzliche Transparenz-Kritik:
"Transparenzforderungen ohne Relevanzfilter sind Augenwischerei. Sie dienen dem Voyeur, nicht dem Aufklärer. Warum aber funktionieren sie trotzdem so gut? Damit wären wir bei der Pornografie. 400 Fragen im Netz, die keine Privatsphäre mehr akzeptieren, sowie gläserne Gebäude, die nur die weniger verdienenden ArbeitnehmerInnen dem allgemeinen, diffusen Blick aussetzen, und Pornografie haben nämlich manches gemeinsam. ..."
(Das mit dem Gebäude bezieht sich auf den gläsernen Deutsche Bahn-Tower auf Potsdamer Platz in Berlin). Zugleich nutzt Kappert die Gelegenheit, der DuMont-Presse wegen deren gestriger Bobbycar-Investigation ("Ein Bobbycar für den Sohnemann") einen mitzugeben:
"Demgegenüber macht die aktuelle Debatte über das im Wulff'schen Familienbesitz befindliche Spielzeugauto nur transparent, dass die Mainstreampresse einmal mehr ihre Kontrollfunktion willfährig dem Spektakel geopfert hat."
Diese Chance lassen sich auch andere, darunter selbst die Bild-Zeitung, nicht entgehen ("Es wird lächerlich!"). Aus diesem Anlass deutet der besonders harte Haudegen Nikolaus Blome sogar an, Wulff gegenüber nun doch Gnade vor Recht walten lassen zu wollen, "wenn die Parteien, auf die es ankommt, ihn unbedingt im Amt halten wollen".
Gar keine Rücktrittsforderung mehr? Gemach, so weit ist es noch lange nicht. Sogar eine Riesen-Rücktrittsforderung kommt neu rein. Die ganze erste Seite des FAZ-Feuilletons nimmt sie ein:
"Man braucht das Amt des Bundespräsidenten weder aufzuwerten noch aufzugeben. Es hat eine einzigartige Ressource: Ansehen. Aber Christian Wulff kann sie nur noch eingeschränkt nutzen. Deswegen sollte er zurücktreten",
argumentiert der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm. (Und dass der sich mit der Ressource auskennt, machen die Donaldisten des FAZ-Feuilletons per Bildunterschrift zum Grimm-Porträtfoto deutlich, sei er doch "einer der angesehensten Juristen der Welt").
[+++] Zurück zur Bild-Zeitung und ihrem Konzern. Dieser, die Axel Springer AG, verkündete ebenfalls gestern zweierlei: erstens eine erste Aktion zum in diesem Jahr anstehenden 100. Geburtstag ihres Namensgebers und Gründers Axel Springer:
"Als leidenschaftlicher Journalist, mutiger Unternehmer und visionärer Freiheitskämpfer begleitete Axel Springer die Entstehung unserer Demokratie – und prägt sie bis heute",
steht etwas drohend auf der freigeschalteten Webseite meilensteine.axelspringer.de, auf der ab kommenden Dienstag wöchentlich ein neuer "Meilenstein" aus Springers bewegten Leben geworfen werden soll. (Geworfen? Tja, "Wir feiern das Jubiläum, indem wir ab dem 24. Januar 2012 immer dienstags ein Schlaglicht auf das Wirken des engagierten Verlegers werfen..."). Interessenten können sich für einen E-Mail-Newsletter eintragen. Etwas unklar noch, ob es dafür Payback-Punkte oder so etwas gibt.
[listbox:title=Artikel des Tages[239 Seiten neuer Wulffstoff (redeker.de)##TAZ über Transparenz##kress.de über Gratis-Bild-Zeitung##Niggemeier über TAZ, Bild-Ztg., meedia##ORF-Rebellion-Update (SZ)##Tsp. zur "Mein Kampf"-Lage]]
Zumindest plant die Bild-Zeitung ebenfalls in diesem Jahr, ebenfalls Geburtstags-halber (und zwar ihres eigenen 60. wegen) die "größte Vertriebsaktion in der Geschichte von BILD", nämlich eine Gratisausgabe für "jeden Haushalt in Deutschland" am 23. Juni. "Eine ganzseitige Werbung in der 'Bild für alle'-Ausgabe kostet 4 Mio Euro, eine halbe Seite 2,2 Mio Euro", weiß kress.de; hier (PDF) erfahren Werbekunden die Details und auch, dass herkömmliche "Werbeverweigerer" (also Menschen mit "Keine Werbung bitte"-Aufklebern am Briefkasten) das Blatt ebenfalls zugestellt bekommen sollen.
"Mittlerweile mehren sich Aufrufe, Aufkleber mit Bild-Verbotsschildern zu entwerfen, um sie am Stichtag auf die Briefkästen zu pappen",
fügt meedia.de der Verlagsinfo insofern hinzu. In der Tat: Ein rechtssicher formulierter Briefkastenaufkleber à la "Bitte keine Anzeigenzeitungen und keine BILD!", der rechtzeitig einem dem sog. Qualitätsjournalismus zuzurechnenden Printmedium beiläge, wäre schon daher eine gute Sache, um die Werbeeinnahmen für Springer zu reduzieren. Ein Zeichen wäre er sowieso.
[+++] Damit wieder zu detaillierterer Kritik: Die Überschrift "Die Salami-Taktik der 'Bild'-Zeitung" ist für Niggemeier-Verhaltnisse sicher etwas kraftlos, aber immerhin treibt SPON so das von Kai Diekmann begonnene Spielchen voran, aus dem Wulff-Diskurs bekannte Begriffe ironisch weiterzuverwenden. Es geht um den Offenen Brief-Wechsel der TAZ mit dem Springer-Blatt (siehe Altpapier, inzwischen auch in der BLZ referiert). Letzteres habe seine "Informationspolitik hinter den Kulissen bisher verschwiegen", weiß Stefan Niggemeier:
"Nach Informationen von Spiegel Online soll ein 'Bild'-Sprecher das Transkript schon am 1. Januar, nach ausdrücklicher Rücksprache mit 'Bild'-Chef Diekmann, einem Journalisten der 'Süddeutschen Zeitung' ('SZ') am Telefon vorgelesen haben - unter der Maßgabe, das Gespräch nicht mitzuschneiden oder mitzustenografieren und nicht zu ausführlich zu zitieren. Auf dieser Grundlage habe die 'SZ' am nächsten Tag über den genauen Inhalt der Nachricht berichten können. Der 'SZ'-Redakteur hatte demnach den Artikel in der 'FAS' gelesen, in dem erstmals explizit, wenn auch eher versteckt, aus Wulffs Nachricht zitiert worden war, und daraufhin bei Springer nachgefragt. ..."
"Nach Informationen von ... soll..." klingt nun auch nicht gerade nach einem wirklichen Knüller. Aber zumindest zeigt Niggemeier, dass er sein Bild-Zeitungs-kritisches Ethos auch beim Spiegel bewahrt hat.
Und im eigenen Blog, in dem er Stefan Winterbauer den "Blinde unter den Einäugigen beim Braanchendienst [sic] 'Meedia'" nennen kann und keine SEO-Gaga-Links setzen muss, wie sie bei SPON leider üblich sind, geht es noch expliziter weiter.
Altpapierkorb
+++ Der große Hanfeld des Tages: "Um elf sitzt Gottschalk in der Konferenz. Die erste Lage. Die Redakteure tragen ihre Themen vor. Sie decken den Moderator reichlich ein. Lothar Matthäus könnte etwas hergeben, der wegen eines Immobiliengeschäfts Ärger mit der Justiz hat. Wenn nicht mit Gottschalk – mit wem sonst würde Matthäus im Fernsehen reden ... Beim 'Tatort' am Sonntag, ist einem Redakteur aufgefallen, gab es einen witzigen Anschlussfehler..." Michael Hanfeld hat Thomas Gottschalk beim Proben für die kommende Woche startende ARD-Werberahmenshow einen Tag lang begleitet. Und zertrümmert bereits jegliche Hoffnung auf irgendeinen frischen Ansatz darin (FAZ, S. 35). Später im Verlauf des Textes und der beschriebenen Konferenz "meldet sich Carsten Wiese, der verantwortliche Redakteur des WDR, ein Talkshowmann der ersten Stunde, der schon Alfred Biolek und später Sandra Maischberger betreut hat. 'Relevanz und Haltung' mahnt er an, als es zu lustig zu werden droht..." +++
+++ Stimmen zum gestrigen Blackout in weiten Teilen des US-Internet (siehe Altpapier): Den "schlimmsten, wuchtigsten, eklatantesten" Machtkampf, "seit es vernetzte Computer gibt", erkennt Bernd Graff im Süddeutsche-Feuilleton und erhofft am Ende "ein Veto des Präsidenten" Barack Obama. "Denn sonst würde die Welt ärmer mit jeder Stunde." +++ Bloß "ein Ringelreihen der Selbstvergewisserung" sieht indes Frédéric Valin (TAZ) in derselben Protestwelle. Die benötige "langfristig ...ein wenig mehr Substanz: Man bräuchte eine echte Alternative zum jetzigen Urheberrecht." +++ "Netzpolitik wird zum zentralen Bestandteil wirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Und Google tritt dabei als nahezu staatlicher Akteur auf. Es sagt einiges über den Zustand einer digitalen (aber auch einer analogen) Gesellschaft aus, wenn ein Wirtschaftsunternehmen dabei zum zentralen Mahner für Meinungsäußerung und Freiheit wird", kommentiert Dirk von Gehlen bei sueddeutsche.de (und vergewisserte sich sozusagen bei einem älteren Google-/ China-Kommentar des Kollegen Andrian Kreye). +++ An einem Tag ohne Wikipedia einmal wieder in einer echten Enzyklopädie zu blättern war "so ähnlich wie Vinyl zu hören", zitiert Sebastian Moll (BLZ) amerikanische Stimmen. +++ Dass die Webseite der deutschen Piraten gestern erst gegen 11.35 Uhr solidarisch geschwärzt wurde, sei ein Verdienst der FAZ, schreibt dieselbe einer Medienseiten-Glosse ("... Um 11.30 Uhr wehte am Sopa-Protest-Tag noch immer die Piratenflagge stolz auf blau-weißem Grund. Warum die Homepage noch nicht schwarz sei, ob man möglicherweise gar von dem Protest abrücke, fragte diese Zeitung nach. Nein, natürlich nicht. 'Technische Probleme seit gestern' wurden als Grund genannt. ... ... Fünf Minuten später war auch die Internetseite piratenpartei.de aktualisiert - und schwarz"). +++
+++ Neues von den ORF-Rebellion in Österreich (siehe Altpapier). Gestern "wurde auf den Gängen kolportiert, die SPÖ suche bereits nach einem neuen Job für ihren Shootingstar" - den nur designierten "Bürochef" Niko Pelinka. "Der sei wohl kaum noch zu halten" (Süddeutsche). Dass die Österreicher aber noch immer Schmäh besitzen, beweist Cathrin Kahlweits Artikel auch: ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz erkennt im Aufstand seiner Untergebenen inzwischen ein eigenes Verdienst und habe ausrichten lassen: "Er selbst habe im ORF eine positive Veränderung hin zu journalistischer Freiheit, interner Diskursfähigkeit und Konfliktkultur herbeigeführt. 'Dazu stehe ich und darauf bin ich auch stolz. Damit muss ich jetzt auch umgehen...'"+++ Siehe auch BLZ. +++
+++ "'Mein Kampf' ist also nicht verboten, auch wenn Neonazis das immer wieder behaupten, um die Bundesrepublik als undemokratischen Zensurstaat zu brandmarken. Tatsächlich kann man das Buch antiquarisch kaufen. Von den etwa zehn Millionen Exemplaren, die bis 1945 erschienen, sind noch etliche im Umlauf", z.B. bei Ebay. "Das Einzige, was fehlt, ist das, was nahezu alle Fachleute seit vielen Jahren fordern: eine sorgfältig edierte und mit einem umfassenden Kommentar versehene wissenschaftliche Neuausgabe", für die es zeitlich jedoch eng wird wegen ablaufender Urheberrechtsfrist. Das alles und mehr steht in einem fundierten Tagesspiegel-Kommentar Ernst Pipers zur in den letzten Tagen diskutierten "Mein Kampf"-Frage. +++
+++ "Knipsgebühr" versus "Panoramafreiheit": Die TAZ berichtet vom Rechtsstreit von Fotografen der Agentur Ostkreuz mit der siegreichen Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. +++
+++ ARD & Co: Im gerade veröffentlichen KEF-Bericht (siehe Altpapier) entdeckte heise.de ein recht brisantes Detail: "Die öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter ARD, ZDF und Arte sind offenbar entschlossen, vom kommenden Jahr ab keine Einspeisegebühren mehr für die Verbreitung ihrer Programme in den Kabelnetzen zu entrichten." +++ "Vier Intendanten und drei deutsche Verlagschefs" diskutierten gestern in Berlin den Streit um die "Tagesschau"-App (Süddeutsche). +++ Anders als 1995, als es "wie Bauerntheater für verwirrte Groschenromanleserinnen" anmutete, gehe es zwar "immer noch um die Liebe, ...immer noch um das Gefälle zwischen einer adeligen und einer bodenständigen Familie. Aber inzwischen kann man den Geschichten gelegentlich Anspruch und Produktionsqualität nicht mehr absprechen": Anlässlich der "an diesem Freitag in der Düsseldorfer Diskothek 'Nachtresidenz'" anstehenden Feier zur 4000. Folge der öffentlich-rechtlichen Werberahmen-Soap "Verbotene Liebe" zieht Hans Hoff in der Süddeutschen eine merkwürdig freundliche Bilanz. +++
+++ Nur als Überschriften-Reizwort fungiert Christian Wulff beim Tagesspiegel-Bericht über das Projekt Tweetscapes, das "deutsche Twitternachrichten in Klänge und Bilder umwandelt - live und in Echtzeit", also "eine Art Live-Presseschau" darstelle. +++
+++ Ausland: In Frankreich wurde erstens wie erwartet die DSK-Ehefrau Anne Sinclair zur Chefin der französischen Huffington Post-Ausgabe gekürt, an der sich auch die Le-Monde-Gruppe beteiligt (Süddeutsche). +++ Außerdem wurde die "umstrittene Fusion der Auslandssender" Radio France Internationale und France 24 gerichtlich zumindest aufgeschoben (FAZ). +++ Und den Dokumentarfilm "Tahrir 2011" von Tamer Ezzat, Ayten Amin und Amr Salama heute spät im WDR-Fernsehen empfiehlt die TAZ. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.