Was passiert 2012 in der Medienbranche? Hier steht es. Teil III der legendären Altpapier-Vorschau bringt unter anderem neue Digitalsender wie Eins Netz und Eins Nutz, die neue "Freibeuter"-Partei und eine bärenstarke Medieninstitute-Interessengemeinschaft.
Von Christian Bartels, Matthias Dell, René Martens und Klaus Raab
Juli
+++ Im Europameisterschaft-Finale am 1. Juli in Kiew kommt es zur erhofften Traumpaarung: Spanien gegen Deutschland in der Ukraine, Anstoß um 20.45 Uhr. Kommentator Bela Rethy lockert seine Reportage mit dem Vorlesen aus einem Russland-Reiseführer (DuMont) und von eigens ausgedruckten Wikipedia-Einträgen auf. Russland sei schönes Land, die kasachische Hauptstadt heiße Astana, Europameisterschaft auf Polnisch dagegen "Mistrzostwa Europy w Pilze Noznej". Bis zum Ende der ersten Halbzeit erzählt der sympathische Multilinguale, was ein Gemüseverkäufer in Kiew über das Spiel in der Zeitung gelesen habe; dass es etwa eines der wichtigsten Spiele des ganzen Turniers sei. In der zweiten Hälfte konzentriert sich Rethy stärker aufs Spiel und liest fehlerfrei die Ballbesitz- und die Zweikampfstatistiken der ersten Halbzeit vor.
+++ Mitten in die parlamentarische Sommerpause platzt die Nachricht, dass Ulf Poschardt von der FDP zur CDU wechselt. Auch bei den Christdemokraten soll er als Generalsekretär fungieren. Der wegen seines Scharfsinns international gefürchtete Intellektuelle kommentierte die Arbeitsplatzveränderung mit den knappen Worten: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu." In der zur Madsack-Gruppe gehörenden Ostseezeitung berichtet der Brüsseler Büroleiter Bernd Hilder exklusiv, CDU-Parteichefin Angela Merkel habe während ihres Urlaubs auf einem Flohmarkt in Mecklenburg-Vorpommern das von Poschardt in seinem früheren Leben verfasste Buch "Cool" entdeckt. Daraufhin habe sie CDU-General Hermann Gröhe als Programmreferent zum MDR abgeschoben und Poschardt verpflichtet. Über die Ablösesumme wurde Stillschweigen vereinbart. +++
+++ Das ging fix. Miriam Meckel veröffentlicht ein E-Book über Poschardts bisherige Karriere ("Brief an sein Streben: Erfahrungen mit einem Turn on"), das auf Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste (E-Books & PDFs) einsteigt. +++
+++ Um die Akzeptanz beim jungen Publikum weiter zu steigern, beschließt die ARD einen Relaunch ihrer Digitalkanäle. "Eins Quiz" zeigt künftig 24 Stunden pro Tag Quizshows und strebt an, den Anteil an Erstausstrahlungen zeitnah auf 83 Prozent zu steigern. Zentrale Rollen fallen Kai Pflaume und Frank Plasberg zu, die im täglichen Wechsel drei Stunden live quizzen werden. "Eins Herz" beteiligt sich rund um die Uhr an der Verwertung des Filmstocks der Degeto (geschätzte 150.000 Neunzigminüter aus den Jahren 1991 bis 2015). "Eins Netz" schließlich überträgt in einem im kalifornischen Silicon Valley eigens für die ARD optimierten Splitscreen-Verfahren live und in Echtzeit die Twitter-Timelines von @daserste und Volker Herres sowie den Facebook-Account der ARD (Foto). +++ Weitere attraktive Sender-Konzepte, die bereits im Vorfeld Mediendiensten gesteckt worden waren ("Eins Nutz", "Eins Witz", "Eins Mord"), "lassen sich leider nur realisieren, wenn wir 2014 bei der Haushaltsabgabe einen kräftigen Schluck aus der Pulle nehmen können", so die ARD-Vorsitzende Monika Piel. FDP-Medienexperte Hans-Joachim Otto signalisiert im Hamburger Abendblatt Zustimmung zu den Plänen, sofern die ARD im Gegenzug auf ihre Programme "Das Erste" und die so genannten Dritten verzichten würde. +++
August
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+++ Was lange währt, wird endlich gut: Das Leistungsschutzrecht für Presseverleger tritt in Kraft. Rückwirkend zum Beginn der Legislaturperiode (27. Oktober 2009) führen Nutzer, die Informationen aus mit deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen verbundenen Internetportalen ("elektronische Presse") zur Gewinnerzielung verwenden, bis zu 20 Prozent der auf diese Weise erzielten Gewinne an die deutsche Verlagswirtschaft ab. Nutzer, die nachweisen können, solche Seiten nicht angeklickt oder nicht zur Gewinnerzielung verwendet zu haben, surfen weiterhin gratis. Um den Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen, ihre Nachweise nicht tagesaktuell und auch rückwirkend führen zu können, werden die deutschen Internet-Provider verpflichtet, sämtliche Internetdaten zunächst zehn Jahre lang bereitzuhalten. Der neue Bundeswirtschaftsminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erwartet einen Schub für die IT-Industrie und Zehntausende hochqualifizierte neue Arbeitsplätze besonders im Bereich von Abrechnungsdienstleistern. +++
+++ Die seit Monaten ob einer eigenen iPad-App gespaltene TAZ-Belegschaft – die einen befürworteten sie, andere wollten sich Apple nicht an den Hals werfen – billigt einen in monatelanger Arbeit von den Informatikern der Zeitung erstellten Kompromiss: eine Schiefertafel in iPad-Größe zum Selbervollschreiben. Geeignete Kreide gibt es in vier Farben in einer hochwertigen Nachfülldose mit TAZ-Logo. +++
+++ Zeitgeschichte hat Konjunktur. RTL stellt seinen Teamworx-Zweiteiler "Saboteure aus Leidenschaft" vor. Heike Hupertz ist in der FAZ bereits voll des Lobes: "Veronica Ferres, die im Film die Wandlung von der, subjektiv empfunden, naiven Kommunistin zur verantwortungsvollen Kämpferin für die Freiheit glaubwürdig spielt, steht mit ihrer Rolle der Uschi Balke gleichsam in Gegenrichtung zur menschenverachtenden Bärbeißigkeit des gefühllosen SED-Bezirkschefs Glowatzki (Heino Ferch in einer darstellerischen Tour de Force). Uschi dreht bei ihrer Flucht 1959 aus den miefigen Kohleofenbehausungen Ostberlins in den glitzernden Westen und die Arme des sympathischen Schleusers und CIA-Agenten Frohloff (Hans Werner Meyer) die Wasserhähne in Küche und Bad ihrer Wohnung auf und verpasst so der die Versorgungsengpässe nicht in den Griff kriegenden Politbüro-Nomenklatura einen ersten schweren Schlag. 'Saboteure aus Leidenschaft' braucht sich hinter den filmisch-zeitgeschichtlichen Meilensteinen 'Die Frau vor der Prager Botschaft' und 'Das Wunder von Weissensee' nicht zu verstecken." +++
+++ Im Herzschlagfinale von "Unser Star für 'Wetten, dass...?'" unterliegen Johannes B. Kerner und Reinhold Beckmann, das "Traumpaar der Etablierten" (Michael Hanfeld, FAZ), hauchdünn dem singenden bzw. rappenden und tanzenden, aber auch an der Panflöte versierten Reality-Duo Yildirim und Mandy (Berlin-Neukölln/Annaberg-Buchholz). Auf der von Pro Sieben übertragenen After-Show-Party erweist sich Beckmann als schlechter Verlierer: "Wären die Leitungen für das entscheidende Voting nicht erst um 1.54 Uhr freigegeben worden, wären die meisten unserer Anhänger noch wach gewesen!" +++
+++ Scoop fürs ZDF-"Nachtstudio": Nachdem er sich vor Fernsehkameras lange rar gemacht hatte, verkündet Hans-Olaf Henkel in Volker Panzers Senderung die Gründung der "Freibeuter"-Partei: gegen den Euro, für die Freiheit, rechts von der CDU und auf Du und Du mit modernen Medien. Den Posten des Generalsekretärs übernimmt Friedrich Merz. Medien- und genderpolitischer Sprecher wird der Berliner Hochschullehrer Norbert Bolz, der im ZDF fordert: "Die 68er in den Chefredaktionen der tonangebenden Medien Deutschlands müssen in den Ruhestand geschickt werden. Und unbezahlte Hausarbeit muss wieder ein attraktives Karriereziel für gutausbildete, junge Frauen werden!" Auf Panzers verspielte Nachfrage "Freiherr und Freibeuter, passt das nicht zusammen wie Topf und Deckel?", entgegnet Henkel barsch: "Wenn Sie eine schlagkräftige Truppe aufbauen wollen, können Sie keine Leichtmatrosen gebrauchen." +++
+++ Relaunch beim Internetauftritt des Meinungsmediums "Der Freitag": Die Ladezeit von freitag.de verkürzt sich im Google Chrome-Browser um 37,3 Prozent (Safari 29,1 Prozent, Firefox 19 Prozent). Verleger Jakob Augstein im 3sat-"Kulturzeit"-Gespräch: "Im Zweifel schneller!" Erste Kommentare der Freitag-Community sind positiv, thematisieren aber auch Auswirkungen auf die Lebensführung. Nutzer linksblinker: "Man muss sich jetzt entscheiden. Wenn die Seite sich oft schon nach eineinhalb Minuten aufgebaut hat, kann man in der Zwischenzeit nur noch abwaschen oder abtrocknen, nicht mehr aber beides." +++
+++ Nach neuen Archivfunden korrigiert die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) den Schätzwert des Degeto-Filmstocks nach oben: 450.000 Filme mit insgesamt 667.500 Stunden Spieldauer. Das Gesamtpaket wird für die Vorschlagsliste für Aufnahme ins Weltkulturerbe eingereicht. "Dieser Schatz an prächtig ausgestatteten, unterhaltsamen gefühlvollen Romanzen und turbulenten Komödien, der zugleich zahllose wertvolle Beiträge nicht nur zum europäischen Gedanken ("Island - Herzen im Eis", "Tulpen aus Amsterdam", "Einmal Toskana und zurück"), sondern auch zur globalen Völkerverständigung ("Ein Ferienhaus in Marrakesch", "Das Traumhotel: Vietnam", "Schlaflos im Dschungel", "Afrika im Herzen") enthält, ist weltweit einzigartig", zitiert epd medien aus der Begründung. +++ Sobald voraussichtlich im Jahr 2021 (vorbehaltlich eventueller aktueller Programmänderungen) die Auftragsbücher des 2011 aus dem Amt geschiedenen Geschäftsführers Hans Wolfgang Jurgan abgearbeitet sein werden, kann der frischgebackene Degeto-Chef Karsten Sauerbein neue Produktionen in Auftrag geben. Kreisen zufolge verhandelt er bereits mit der Berliner Erfolgsproduzentin Regina Ziegler über einen zunächst bis 2075 befristeten Output-Deal. +++
+++ Das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, die Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation Campus Hamburg, das Medienkompetenz-Netzwerk des Grimme-Instituts, das Katholische Institut für Medieninformation, das Deutsche Digitalinstitut, die Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für die Praxis des Qualitätsjournalismus am Institut für Journalistik der Universität Hamburg und 128 weitere Institutionen rufen die Interessengemeinschaft MedienDebatte (IG MeDe) ins Leben, um das Thema Medienpolitik auf die Agenda zu setzen. In einem Initialbeitrag auf sueddeutsche.de geben die SPD-Medienpolitiker Martin Stadelmaier und Marc Jan Eumann Denkanstöße. ARD und ZDF seien öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, heißt es in ihrem Dossier, das müsse anerkannt werden; das Deutschlandradio dürfe dabei aber nicht vergessen werden. Der Schlüssel sei Medienkompetenz. +++
Teil IV der Jahresvorschau 2012 erscheint am Freitag an dieser Stelle.