Was passiert 2012 in der Medienbranche? Hier steht es. Teil II: Mit heißen ARD-Filmen wie "Von Wilhelmsburg bis Mogadischu - Helmut Schmidts große Siege", Peer Steinbrück auf Abwegen, der größten Qualitätsoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg und einer Talkshowreform.
Von Christian Bartels, Matthias Dell, René Martens und Klaus Raab
+++ Einvernehmliche Lösung im Streit um Christoph Lütgerts Enthüllungsfilm über das Netzwerk Recherche (siehe Altpapier für 2012, Teil I): "Jagd auf die Unbestechlichen" wird nun in der Nacht zum 16. April um 2.30 Uhr auf dem Männerkanal Dmax zu sehen sein. Ein NDR-Sprecher begründete die ungewöhnliche Kooperation: "Da das Netzwerk Recherche fast ausschließlich aus Männern besteht, ist Lütgerts Film wie gemacht für Dmax. Zudem trägt der Transfer von kritischem Journalismus im Umfeld von hochwertigen Autotuning-Features und aufklärerischen Adventure-Sports-Berichten zweifellos zur Stärkung der Marke NDR bei." +++
+++ Inspiriert von der Leveson-Anhörung zur Abhöraffäre in Großbritannien führt der Bundestag eine ständige Untersuchungskommission ein, die sich mit berufsethisch schwer haltbaren Vorgängen in der Journalismusbranche beschäftigt. Der Vorsitzende, Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, sagt dazu in den ARD-Tagesthemen: "Ich bin stolz darauf, der Bürger eines Landes zu sein, dessen Parlament so viel Wert darauf legt, für den Qualitätsjournalismus klare ethische Regeln zu definieren." +++
+++ Nach einer exklusiven Pressevorführung von "Jagd auf die Unbestechlichen" äußern sich die Kritiker zwiespältig: FAZ-Feuilletonist Jochen Hieber nennt Lütgert einen "verdeckenden Ermittler", weil der in handgestoppten 39:21 Minuten der dreiviertelstündigen Dokumentation im Bildvordergrund zu sehen ist. In der SZ bemängelt Hans Leyendecker handwerkliche Fehler, weil Lütgert außer dem einstigen NR-Vorsitzenden Thomas Leif auch weiteren Ex-Vorstandsmitgliedern bis in ihre Urlaubsorte gefolgt sei: "Es ist verlorene Liebesmüh', Leute nach Vorgängen zu fragen, von denen sie laut eigenen Angaben nachweislich nichts gewusst haben." +++
+++ Der Tagesspiegel stellt in einer Langzeitanalyse fest, dass Thomas Gottschalk die Quoten des bisherigen ARD-Werberahmenprogramms bereits um 74 Prozent gesenkt hat. "Wie lange geht das noch gut?", bohrt Joachim Huber nach. ARD-Programmdirektor Volker Herres beharrt darauf, dass völlig unabhängig von Gottschalks Sendeinhalten die ARD allein durch die Kürzung der Daily Soap "Verbotene Liebe" um sechs Minuten pro Folge, bei der Magazinsendung "Brisant" sogar um 9:44 Minuten pro Ausgabe seinen Bildungsauftrag gestärkt habe. Im Vergleich zum Vorjahr bedeute das "die größte Qualitätsoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg" (eine korrigierte Version der Pressemitteilung verbessert nach 55 Sekunden: "die größte Qualitätsoffensive, seit es öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt"), die von der ARD "durchgeführt" (korrigierte Version: "veranstaltet") worden sei. Daran gemessen sei die reine Betrachtung der Quoten "beckmesserisch". +++
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+++ Die ProSiebenSat.1 AG verabschiedet sich mit der Übertragung des Finales aus der Münchener Allianz-Arena von der Champions-League, deren Free-TV-Rechte ab Herbst das ZDF hält. Nachdem es nach 45 Minuten 0:0 steht, übernimmt zur zweiten Halbzeit Kabel1 die Ausstrahlung. Sat.1 wiederholt derweil die "Two and a half Man"-Folge vom selben Abend auf ProSieben. "Eine Win-Win-Situation", freut sich ein Konzernsprecher: Sat.1 habe seinen Marktanteil gesteigert, Kabel 1 eine gute Figur gemacht. Insgesamt mehr als 750.000 Fernsehzuschauer, darunter gut 100.000 14- bis 49-Jährige, wurden Zeugen, wie Michael Ballack die Partie zwischen Barça-Schreck Bayer Leverkusen und dem Bayern-Bezwinger FC Basel durch einen Kopfball in der Nachspielzeit entschied. +++
+++ Die FAZ bringt neben der allgemeinen FAZ-App eine FAZ-Börsen-App heraus. Die FAZ-Tablet-Autohalterung erlaubt es, auch im Auto die jüngsten Kursentwicklungen zu verfolgen und gegebenenfalls blitzschnell das Steuer herumzureißen. Man kann wählen zwischen den Hintergrund-Soundoptionen "Rolling-Stones-Song an" und "Rollings-Stones-Song aus". +++
+++ Die ARD stellt die Dokumentation "Von Wilhelmsburg bis Mogadischu - Helmut Schmidts große Siege" vor. ARD-Programmdirektor Volker Herres sagt auf der Pressekonferenz an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg: "Als China-Kenner und generell als Welterklärer schätzen wir ihn alle - die Zielgruppe der Gesamschüler zwischen 12 und 14 Jahren aber, in der die ARD zuletzt signifikant Marktanteile gewinnen konnte, weiß wenig über Helmut Schmidts große militärische Leistungen.“ Verantwortlich für den Film ist mit Giovanni di Lorenzo, Sandra Maischberger und Peer Steinbrück ein Autorentrio, das, so Herres, zum "ersten, aber mit Sicherheit nicht zum letzten Mal zusammengearbeitet hat“. Steinbrück fungiert dabei als Presenter. "Ich mach euch den Lütgert", witzelt der sympathische Ex-Minister bei der Pressekonferenz vor den anwesenden Journalisten. +++
+++ Lütgert selbst versetzt erneut das Netzwerk Recherche in Unruhe. Als Zeichen der Versöhnung war das Ex-Mitglied trotz oder eher wegen seines NR-kritischen Films "Jagd auf die Unbestechlichen" zur Jahreshauptversammlung im Juli eingeladen worden. Nun sagt er ab. Kolportiert wird die Erklärung, der investigative Fernsehjournalist mit der charismatischen Bildschirm-Persönlichkeit habe sich geweigert, allein mit sich selbst auf dem Podium zu sitzen. +++
+++ „Von Wilhelmsburg bis Mogadischu“ erreicht in der ARD bei der Zielgruppe der Gesamtschüler zwischen 12 und 14 Jahren einen Marktanteil von 38 Prozent. Die SPD schlägt vor, ARD-Programmdirektor Volker Herres das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. +++
+++ 15./16. Juni: Jahrestreffen von Netzwerk Recherche in Hamburg. Den Positivpreis "Leuchtturm" erhält die FAZ für ihre grundsätzliche Haltung in Zeiten, aus Gründen (Foto: netzwerk recherche. V.l. n.r.: Markus Grill, NR, Preisträger Volker Zastrow und Dr. Jasper von Altenbockum) +++ Der NR-Gesamtvorstand hat unter der Führung von Oliver Schröm und Markus Grill eine Satzungsänderung vorbereitet. Bisher galt das Zwei-Augen-Prinzip, demnach die zwei Vorstände "einzeln vertretungsberechtigt" sind – ein Prinzip, das zur Finanzierungsaffäre führte, über die Vorstand Thomas Leif im Juli 2011 gestürzt war. Nun soll ein Sechs-Augen-Prinzip alles besser machen. Streit entfacht die Frage, ob die sechs Augen zwingend drei Personen zugeordnet werden müssen. Der Kompromiss: Bei Summen bis 75.000 Euro sind auch vier Personen denkbar, wenn zwei von ihnen eine Augenklappe tragen ("Piraten-Doktrin"). Bei Geldbeträgen über 75.000 Euro sind dagegen fünf Personen zulässig: Vier müssen sich dabei je ein Auge zuhalten ("ZDF-Lösung"), wobei in der Satzung explizit festgeschrieben ist, dass die Augen keinesfalls zugedrückt werden dürfen.
+++ Die Zeit der Quarantäne ist vorbei: Hans-Olaf Henkel wird nach seinem Rausschmiss bei den Freien Wählern zum sechsten Mal innerhalb von zwei Wochen "Gewinner des Tages" der Bild-Zeitung. Besonders pikant: "Verlierer des Tages" sind die Freien Wähler: "Bild meint: Das ist balla-balla". Am Tag darauf gibt es Post von Wagner ("Lieber Großer Ha-Ol-He): "Ihr Mund – wie von einem zu allem entschlossenen Wehrmachtsgeneral, Ihre Stirn – mit der kann man Denk-Mauern einreißen. In Ihren klugen Brillengläsern sehen unsere Sorgen unbedeutend aus." In der folgenden Bild am Sonntag sind 16 Seiten für eine Home-Story freigeräumt, deren Höhepunkt der Kauf eines Cord-Jacketts mit Bild-Vize Nikolaus Blome ist. Henkel: "Und wenn wir das in DM zahlen könnten, wäre mir noch wohler zumute."
+++ Talkshowreform: Die Intendantinnen und Intendanten der ARD kündigen auf ihrer turnusmäßigen Pressekonferenz im sächsischen Chemnitz an, ihre Talkshows ab Herbst den veränderten Erwartungen des Publikums anzupassen und die Zahl leicht von fünf auf 0,5 pro Woche zu reduzieren. Ab September werden sich in "Prost Mahlzeit" Frank Plasberg, Sandra Maischberger und Anne Will 14-täglich sonntagmittags in stilvollem Ambiente treffen und beim gemeinsamen Zubereiten einer Mahlzeit das gesellschaftliche Geschehen der letzten beiden Wochen Revue passieren lassen. Im unmittelbaren Anschluss an die 30-minütige Sendung im Ersten wird das Ereignisprogramm Phoenix in voller Länge übertragen, wie die Talker und ein prominenter Gast (Folge 1: Markus Lanz) außer den kulinarischen Köstlichkeiten auch aktuelle politische Themen anschneiden ("Prost Mahlzeit Spezial").+++