"Provinziell", "Holzklasse", irrelevant: harte Elchkritik am deutschen Medienjournalismus. Außerdem: Israels Pressefreiheit in Gefahr; "der Verleger, das Schwein".
Gestern an dieser Stelle schweifte der Blick noch zurück mit 26 Top-Irrtümern des langsam vergehenden Jahres. Heute richtet er sich stracks nach vorn. Nicht zehn, nicht zwölf, nein, sage und schreibe 20 Thesen zum Zustand des deutschen Medienjournalismus schüttelte Hans-Jürgen Jakobs, aktueller Chef des Wirtschafts- und ehemaliger Chef des Medienressorts der Süddeutschen Zeitung, gestern nachmittag aus dem Ärmel.
Und zwar bei einer medienpolitischen Tagung, auf der die Otto-Brenner-Stiftung vor der Verleihung frischer Journalistenpreise (Preisträger hier; ein Recherchestipendium ging an Altpapier-Autor Matthias Dell) unter dem Titel "Einsame Rufer oder zahnlose Tiger?" den Zustand der Medienkritik diskutieren ließ.
Ein Best-of von Jakobs' spektakulärsten Aussagen: Der deutsche Medienjournalismus sei "provinziell" und habe "dramatisch an Relevanz verloren", sei "in der Holzklasse der Publizistik steckengeblieben". Die Medienseiten heutiger Zeitungen seien "Relikte vergangener besserer Zeiten"...
Tatsächlich hatte Jakobs allein die Medienseiten der Zeitungen im Blick und in der Hinsicht auch seine besten Argumente: Wenn nämlich wegen des Anzeigenrückgangs die Zeitungen künftig dünner werden ("Der Pressefreiheit geht das Geld aus") und Papier zur "knappen Ressource" werde, müssten sich die Medienseiten sowohl "gegen die vielen anderen Ressorts aus der zweiten Reihe" behaupten als auch gegen die omnipräsente Medienkritik absetzen, die überall stattfindet. Am besten "durch Regelmäßigkeit und Wissen", durch investigative Recherchen und viele tolle Artikel, für die Jakobs auch jede Menge Vorschläge machte.
Gewiss wären Jakobs' Thesen insgesamt überzeugender, wenn er zwischen den oben genannten Karriereschritten nicht auch noch Chefredakteur von sueddeutsche.de gewesen wäre, dessen Medienressort vor allem das Verdienst hat, durch jede Menge Nachtkritiken entscheidend zur Aufblähung der Bedeutung von Talkshows beigetragen zu haben. Oder wenn Jakobs gestern nicht ausgerechnet die MDR-Berichterstattung der seit Jahren medienressortfreien Tageszeitung Die Welt als positives Beispiel genannt hätte. Aber einige der Thesen waren doch so durchdacht, dass sie durchaus größer diskutiert werden könnten, zumal Jakobs mit schön hehren Worten (Medienjournalisten müssten als "Sachwalter gesellschaftlicher Interessen" und eine "besondere moralische Qualifikation" besitzen) ebenfalls nicht geizte.
Jedenfalls wird es spannend sein zu beobachten, ob der amtierende Medienseitenchef der Süddeutschen, nach wie vor Christopher Keil, von den Thesen seines Vorgängers so begeistert ist, dass er alle zwanzig in einem großen Aufrüttel-Aufmacher für die breite Öffentlichkeit dokumentiert. Oder ob er sich eher angesprochen fühlt.
Bei der anschließenden Diskussionsrunde in Anwesenheit des weiter leicht über den Dingen schwebenden Jakobs zeigten sich die Medienjournalisten Ulrike Simon (u.a. Berliner Zeitung), Brigitte Baetz und Jörg Wagner jeweils vom Radio und Christian Meier (meedia.de) mit dem Medienjournalismus, den sie betreiben und den ihre Vorgesetzten ermöglichen, jeweils im Großen und Ganzen zufrieden, zeigten sich aber offen für Kritik am Medienjournalismus der anderen. Und wenn Moderatorin Anja Reschke bloß einen Tick besser in Erinnerung behalten hätte, wie noch mal genau der in Abwesenheit in aller Munde geführte Stefan Niggemeier (Jakobs fragte während seiner Thesen, wie es denn anginge, dass Medienjournalisten als Coautoren für Beweihrächerungsgalas im Fernsehen aktiv sein können...) seine Kritik an meedia.de als "Abschreibedienst" formuliert hatte, wer weiß, dann hätte es vielleicht sogar etwas Streit gegeben.
Immerhin ist Reschkes gestern nicht immer überragender Konzentration der Begriff "Medienseitungen" zu verdanken, der das, was Jakobs meint, so schön illustriert, dass er ruhig bestehen bleiben könnte.
Damit hinein ins an diesem Mittwoch nicht ungemein aufregende Tagesgeschäft. Am relativ aufregendsten geht es in mittlerer Entfernung im Ausland zu. Während der bei taz.de von Jürgen Gottschlich beschriebene Prozess in der Türkei gegen renommierten Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" gleich wieder vertagt wurde, kommen jetzt auch aus Israel dramatische Pressefreiheits-Gefährdungs-News.
[listbox:title=Artikel des Tages[Medienfreiheitslage in Israel (TAZ)##...in der Türkei (taz.de)##Brauner Internetsumpf (Tsp.)##75 Jahre Life (life.com)]]
Ein neues Gesetz sieht "Geldbußen von bis zu umgerechnet 50.000 Euro gegen Autoren vor..., die 'diffamierende' Texte oder Beiträge veröffentlichen. Der Kläger muss nicht einmal nachweisen, dass ihm ein Schaden entstanden ist" (Süddeutsche) und wurde trotz "Kritik im linken wie im rechten Lager der Knesset ...mit 42 zu 31 Stimmen in erster Lesung befürwortet" (TAZ). "Die Geldstrafe ... könnte auch Blogger treffen und alle, die sich öffentlich über andere äußern" (FAZ, S. 33). "Eine Pressereferentin der israelischen Regierung ist im Eklat zurückgetreten" (Tsp.).
Sei es der im Vergleich abfallenden Dramatik wegen, sei es aus eher hochfliegender Perspektive: Der Rest der heutigen News folgt im Altpapierkorb
Altpapierkorb
+++ "Der Verleger das Schwein": diese letzten Worten des heutigen Jürg-Altwegg-Artikels in der FAZ (S. 33) stehen natürlich in einem differenzierteren Zusammenhang, und der geht so: In der Schweiz hat Roger de Weck, einst Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, jetzt Generaldirektor der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt SRG den Verlegern Geld aus der Onlinewerbung, auf die die SRG jedoch nicht verzichten will, und "die Gründung einer gemeinsamen Firma" für Vermarktung von Online-Werbung angeboten. Doch "der Verleger der 'Schaffhauser Nachrichten' hat den Deal mit der Produktion von Schinken verglichen: die SRG ist der Schlachter, der Verleger das Schwein." +++ Mehr zum Thema: tagesanzeiger.ch. +++
+++ Eine von Jakobs' Storyanregungen: die Rolle beleuchten, die der amtierende Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Giovanni di Lorenzo, bei der Vermarktung und Comebackvorbereitung des aus der Politik bekannten Freiherrn KT zu Guttenberg spielt. Und in der Tat, da geht noch mehr als heute auf S. 1 der Süddeutschen über das gemeinsame Buch der beiden attraktiven Sympathieträger steht ("So dürfte es ...harte Fragen geben, die dem Ex-Minister Gelegenheit zu Reue und Selbstkritik bieten - aber es wird wohl kein Verhör stattfinden, an dessen Ende der einst so Selbstbewusste zerknirscht erklärt, dass er nie wieder die Bühne des Öffentlichen suchen werde...") +++
+++ Wo Jakobs und Niggemeier zusammenkämen: bei der Springer-Kritik. Letzterer rezensiert nun sozusagen Mathias Döpfners Auftritte im WDR-Wallraff-Fernsehen und schließt: "Aber immerhin: Springer ist bei der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern und Versäumnissen jetzt schon in den siebziger Jahren angekommen. Womöglich dauert es jetzt nur noch zwanzig, dreißig Jahre, bis der Vorstandsvorsitzende sich auch öffentlichkeitswirksam selbstkritisch Gedanken macht, wie 'Bild' in den vergangenen zehn Jahren gelogen, manipuliert, Menschenleben zerstört und ein ganzes Volk wie die Griechen verhetzt hat." +++"Als habe die Bild von heute mit der von damals nichts mehr zu tun, wäscht er mit großer Geste den alten Schmutz von den Händen, während die Ärmel den Dreck der Diekmann-Jetztzeit verbergen", formuliert es die TAZ-Kriegsreporterin. +++
+++ Die SZ-Medienseite 15 befasst sich heute mit der kommenden Vormittagsnachrichtenabkoppelung des ZDF (siehe Altpapier, SPON) von der ARD. "Offenbar ist das ZDF auch deshalb an mehr eigener Schlagkraft am Vormittag interessiert, um auch zu dieser Tageszeit Bewegtbilder für den eigenen Internet-Auftritt generieren zu können." Allerdings sei in der ARD von einer "medienpolitischen Geisterfahrt" des ZDF die Rede. +++ Von derselben Frage ausgehend stellt Tilmann P. Gangloff im KSTA mit Einfühlungsvermögen die Programmplaner der Sender vor, die es auch nicht leicht haben. +++ Wie der Digitalkanal ZDFinfo einmal pro Woche die "heute"-Nachrichten mit interaktivem Bonusmaterial anreichert, schildert der Tsp.. +++
+++ Die katholische Kirche löst ihre Weltbild-Frage relativ ratzfatz und will den Mediendiscounter verkaufen. "Was passiert bei einem Verkauf von Weltbild eigentlich mit dem Erlös? Das Geld geht an die beteiligten Bistümer - und ist damit dem Blick der Öffentlichkeit komplett entzogen", klagt Birgit-Sara Fabianek (publik-forum.de) im Interview der Berliner Zeitung. +++ "Ob überhaupt und wenn ja welchen Käufer die 14 Weltbild-Gesellschafter finden werden, ist ungewiss. Bereits vor drei Jahren hatten sie schon einmal einen Anlauf gewagt - und waren unter anderem an der Wirtschaftskrise gescheitert", ruft evangelisch.de in Erinnerung. "Damals waren die Medienkonzerne Holtzbrinck und Bertelsmann als Interessenten im Gespräch." +++ Die FTD stellt aus diesem Anlass Kardinal Joachim Meisner als "göttlichen Zensor" vor. +++
+++ In den im Internet wabernden "braunen Sumpf" begab sich aus aktuellem Anlass der Tagesspiegel und rät mit der Initiative no-nazi.net "davon ab, rechtsextreme, rassistische oder antisemitische Postings unkommentiert stehen zu lassen. Auch wenn eine echte Diskussion mit den Rechten nicht möglich sei, sollte man sich klar positionieren..." +++
+++ Anno 1936, also vor 75 Jahren, als "der erste bedeutende und bahnbrechende Grundsatztext zur Fotografie", Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" erschien, gründete auch Henry Luce das Magazin "Life", das den Reiz der technischen Reproduzierbarkeit von Fotos so richtig Schubkraft verlieh. Freilich, "seit 2007 existiert Life ausschließlich als Internet-Publikation. Es ist also noch da, auch in seinen nun von Google betreuten Bildarchiven. Aber Life ist schon lange nicht mehr das Leben", schließt Bernd Graff seinen Text dazu in der Süddeutschen. +++ Ebd.: die "sehr erstaunliche Summe von 15,25 Millionen Euro" verlangt der 81-jährige frühere Bankier August Baron von Finck vom Handelsblatt. +++
+++ "Themenmagazine sind entweder Nerd-Veranstaltungen ('c’t', 'Deutsches Waffenjournal') oder journalistische Fahlbäder des Fun", schließt Daniel Haas in der FAZ seine Betrachtung der beiden neuen Philosophiezeitschriften (siehe Altpapier), ohne von diesen begeistert zu sein. "Beide spekulieren auf die breite Masse. Ein Denkfehler." +++ Was genau ein Fahlbad ist, weiß nicht einmal Google. +++
+++ Hans-Jürgen Jakobs plädiert u.a. auch dafür, Fernsehbesprechungen auf die TV-Seite zu stellen, damit die Medienseiten relevanter werden. Heute verblüffen immerhin einmal Fernsehbesprechungen dadurch, dass sie den besprochenen Film nicht loben. "Mutlose, seichte, rührselige und konventionelle Beziehungsklamotte mit Hang zum Happy End", nennt die FAZ den WDR-Fernsehfilm "Der Mann auf dem Baum" (ARD, 20.15 Uhr) mit Jan Josef Liefers. +++ "Diese Art Fernsehen will nicht wehtun, will versöhnen, nicht spalten. Das ist ehrenwert, aber auch vorhersehbar und langweilig", meint Thomas Gehringer im Tagesspiegel. +++ Gar keinLob? Doch, bei tittelbach.tv und hier nebenan natürlich. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.