Kaum noch zu beschleunigender Journalismus

Kaum noch zu beschleunigender Journalismus

Wieder viele Reporter in Libyen. Es brennt aber auch in Unterföhring. Außerdem: Loriot im Spiegel der Einschaltquoten, der unbekannte Dritte beim MDR.

Anfang der Woche herrschte noch gelinder Ärger, weil sowenige deutsche Reporter vom globalen Brennpunkt Libyen berichteten (siehe Altpapier). Nach dem Dienstag, an dem Sondersendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sich sicher zurecht Loriot statt Libyen widmeten, hat dieser Ärger sich relativiert.

Erstens zieht sich der Showdown um Muammar al Gaddafi doch wieder länger hin als gewähnt, sodass Chancen bestehen, dass deutsche Reporter doch noch zum richtigsten Zeitpunkt anwesend sein könnten. Jörg Armbruster von der ARD etwa war "ausgewiesen worden..., nachdem er sich über geringe Bewegungsfreiheit beklagt hatte" (wie die Süddeutsche gestern im Rahmen ihrer Reportage über die englische Reporterin Alex Crawford erwähnte), und ist wieder in Tripolis, als einer von "sehr sehr vielen Journalisten", wie er hier sagt.

Zweitens deutet einiges darauf hin, dass es nicht unbedingt sinnvoll sein muss, wenn sich jede Menge Journalisten in Kriegsgebieten aufhalten - wie etwa die Entführung italienischer Reporter (tagesschau.de) und vor allem die Meldungen über die diffuse Geiselnahme im Luxushotel ("Gefangen im Fünf-Sterne-Knast", "Journalisten haben 'tagelang in Angst gelebt'", "Es war ein Alptraum", "Es war ein Albtraum"). Womöglich wird vieles, was Journalisten widerfährt, im Vergleich zu dem, was Nichtjournalisten passiert, besonders dramatisiert.

Instruktiv ist jedenfalls, was Aktham Suliman, der Berliner Büroleiter des (gerade für seine Libyen-Berichte sehr gelobten) arabischen Fernsehsenders Al Dschasira im Deutschlandradio über die Fernsehberichte sagte (hier verschriftlicht, allerdings sehr ans gesprochene Wort angelehnt):

"Man transferiert mehr Atmosphären als Informationen im Fernsehen in solchen Momenten. Man sieht ungefähr, die Lage ist, aha, sehr gefährlich, da wird geschossen, da sind Tote, da sind Verletzte, da sind Feiernde meinetwegen, aber die Information dahinter und dadrunter, die geht verloren leider. ... ...

Leider muss ich sagen, im Zeitalter des sehr schnellen Journalismus, der kaum noch zu beschleunigende Journalismus, vor allem Fernsehen, nimmt man das hin, nimmt man die Bilder und relativiert sie ein bisschen durch Texte, die sagen, wir wissen nicht, wie die Quelle ist und ob sie stimmen. Aber wer den Fall verstehen will, was geschieht in Libyen, was geschah in Libyen, was kann in Libyen geschehen, dem rate ich wirklich dringend zu lesen. Zu lesen und Radio zu hören und weniger Fernsehen zu gucken, weil die Bilder, die klauen uns alle, die manipulieren uns alle, unbewusst - Journalisten wie Zuschauer."

Andererseits, Texte zum Lesen können natürlich auch manipulieren oder es versuchen. Stellvertretend sei hier der Artikel genannt, der mit den Worten "Ich, der BILD-Reporter, sehe hier, was vor wenigen Wochen noch undenkbar schien. FREIHEIT" beginnt.

Damit ins unmittelbare Inland: Ein klares Urteil fällt Joachim Huber im Tagesspiegel über den Umgang von ARD und ZDF mit dem am Dienstag wichtigsten nachrichtlichen Ereignis:

"Das ZDF hat auf die Nachricht vom Tod Vicco von Bülows am Dienstag richtig reagiert und ist dafür belohnt worden",

und zwar vom Publikum, das bei der ins Werberahmenprogramm gehobene Kurztalkshow mit Markus Lanz (siehe Altpapier gestern) kräftig einschaltete. Die ARD dagegen wollte ihre 20.15-Uhr-Serie "Das Glück dieser Erde" nicht verschieben, damit künftige 20.15-Uhr-Serien nicht auch verschoben werden müssen, und stellte erst ab 22.45 Uhr sein Programm um.

[listbox:title=Artikel des Tages[Aktham Suliman über Libyen-TV (dradio)##BLZ über die Lage beim MDR##Mitteldt. Zeitung (Mi.) über Mitteldt. Rundfunk##Tsp. über muxlim.com##SPON pro Datenschutzfundamentalismus##TAZ contra ZDF-Schund]]

Meanwhile, während dann die ARD "Pappa ante portas" zeigte, schlug im Privatfernsehen die sog. Reality völlig unscripted zu, und zwar dort, wo es wirklich nicht zu erwarten war. In Unterföhring bei München, am Sitz der ProSiebenSat.1-AG, gab es am Dienstagabend einen Kabelbrand mit darauffolgendem Wasserschaden und als "noch nicht abzuschätzendem" Sachschaden als Ergebnis (Süddeutsche). Die Ereignisse zeigten sich auch nahezu live im Programm, wo etwa Pro Sieben "Die Alm" gerade zeigte. Und versetzten online publizierende eingefleischte Privatfernsehbeobachter wie Peer Schader (FAZ-Fernsehblog) und Thomas Lückerath (dwdl.de: "So eine Sendepanne hat das deutsche Fernsehen seit Jahren nicht erlebt") spätabends in Aktion.

In die Kommentare unter dem FAZ-Blog-Eintrag schrieb ProSiebenSat.1-Sprecher Julian Geist gestern um 16.40 Uhr:

"Bei einem Brand ist die erste Prio, dass alle anwesenden Kollegen in Sicherheit gebracht werden und die Feuerwehr ungehindert arbeiten kann. Danach (!) kümmert man sich um das Sendesignal. Natürlich haben wir so genannte Havarie-Systeme, die sich (natürlich) nicht in demselben Gebäude befinden. Diese Systeme haben funktioniert, wir konnten relativ schnell zu einem geordneten Sendebetrieb zurückkehren. Aber ganz ohne Wackler geht soetwas eben nicht - zumal dann, wenn die Feuerwehr - völlig korrekt - das Gebäude sperrt. ... "

Sicher wäre es dem Sender Pro Sieben gegenüber, der ja vielleicht bloß Erwartungen seines Publikums zu erfüllen versucht, ungerecht, von einem Hauch von Libyen in Unterföhring zu sprechen. Aber wahrscheinlich hätte N 24 sein Programm unterbrochen live berichtet, wenn der Sender noch zum Konzern gehören würde.


Altpapierkorb

+++ Gestern erregte die Medienseite der Süddeutschen, der eigentlich ja unter den Tageszeitungen die meisten Geheimpapiere usw. vorliegen etwas Erstaunen dadurch, dass sie im Artikel (inzwischen frei online) über die Nachfolgekandidaten des MDR-Intendanten Udo Reiter von einem "unbekannten Dritten, der zurzeit noch beim WDR arbeitet, und um dessen Namen man ein großes Geheimnis macht" schrieb. Also den Namen ausdrücklich nicht nannte oder aber sogar nicht wusste. Wer den Namen, Helfried Spitra, bereits gestern nannte: die Mitteldeutsche Zeitung mitten aus dem Sendegebiet des MDR. Spitra könnte durchaus zum "lachenden Dritten" werden, meint heute Ulrike Simon in der BLZ. +++ Michael Hanfeld (FAZ, S. 37) kann so etwas auch komplexer formulieren: "Spitra könnte ...in den Augen derer, die in den Staatskanzleien der MDR-Länder, vor allem in Sachsen, die Fäden ziehen, als gute Wahl gelten". Was Bernd Hilder, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, aber auch könnte. +++

+++ Eine Art Facebook für Muslime könnte das Netzwerk muxlim.com sein, auch wenn Gründer Mohamed El-Fatatry Vergleiche mit dem gleichaltrigen Mark Zuckerberg ablehnt. Der Tagesspiegel stellt ihn und sein in Helsinki ansässiges Unternehmen vor. +++

+++ "In der vergangenen Woche klingelte abends bei Freitag-Verleger Jakob Augstein das Telefon. Julian Assange meldete sich... ...": Da taucht Steffen Kraft, Digitalredakteur des Openleaks-Partners Freitag, mit neuer Wikileaks-Kritik tief ein in die komlizierte Welt der Leakportale. +++  Detlef Borchers' Übersichtsartikel aus der FAZ gestern steht inzwischen frei online. +++

+++ Worüber Blogger aber vor allem debattieren: über das Internet und die Freiheit. Christian Scholz' Ansichten über "das deutsche Problem" (mrtopf.de) bekam Contra u.a. von wirres.net ("freiheit funktioniert im prinzip wie eine skibindung: ist sie zu locker eingestellt fliegt man ständig auf die fresse, ist sie zu fest eingestellt, bricht man sich die beine...") und bekommt sie nun auch von Konrad Lischka bei SPON, der mal grundsätzlich den deutschen Datenschutz verteidigt. +++

+++ Christian Kracht, jahrzehntelanger Springer-Mann und Vater des gleichnamigen Autors ("Faserland"), ist wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag gestorben (Süddeutsche). +++ Ebd studiert Claudia Tieschky unter der Überschrift "Trainieren ist das neue Shoppen" diesbezügliche Magazine wie Shape, Wellfit, Brigitte Balance und Active Life. +++

+++ Nach dem jüngsten Argumentenaustausch ums Netzwerk Recherche (siehe Altpapier gestern, ganz oben) legt in der FAZ heute Sabine Pamperrien nach. Nun habe "die Bundeszentrale für politische Bildung reagiert. Nach Einblick in den von dem Verein beauftragten Wirtschaftsprüferbericht wurden alle für die Jahre 2008 bis 2010 bewilligten Förderbescheide verbindlich zurückgenommen", bloß der für 2007 nicht. +++ Frei online subsumiert die TAZ den Stand. +++ Ferner porträtiert die FAZ-Medienseite 37den "bekanntesten (und von der Rechten am tiefsten verabscheuten) Publizisten Polens", ja, den "wichtigsten Publizisten in Osteuropa", Adam Michnik. +++

+++ Wo ARD und ZDF stets hellwach sind und keinen Aufwand scheuen, um einander zu überbieten: in der Welt des fiktiven Fernseheskapismus. Neue Maßstäbe setzt das ZDF mit einem heute startenden Vierteiler (also vier mal 90 Minuten): "Die Filmhandlung spielt einmal nicht in Italien und auch nicht in Schweden, diesmal dürfen deutsche Schauspieler Franzosen mimen und einander 'Bonjour' sagen. Und die Drehbuchautorin, die auch schon mal Inga Lindström heißt, firmiert unter ihrem Taufnamen Christiane Sadlo. Sie hat sich alle Mühe gegeben, einen einigermaßen verwickelten - man könnte auch sagen: abstrusen - Plot zu überkonstruieren, der Schmonzette mit Melodram mit Krimihandlung mit Druidenesoterik verknüpft", schreibt Jens Müller in der TAZ. "Diese Art Schund ist in einer Weise indiskutabel, dass es im Grunde nicht mal lohnt, sich zu ärgern", wegen des Geldes muss man es aber doch tun. +++ Alles "lediglich eine Geschmacksfrage", würde Tilmann P. Gangloff sagen. +++ Aber auch Klaudia Wick lässt enorme Milde walten (BLZ). +++ Und dem alten Fernsehbeobachtungs-Recken des Spiegel, Nikolaus von Festenberg, hat es zumindest "die hinreißende Hauptdarstellerin Henriette Richter-Röhl" angetan. +++

+++ Zum Thema Loriot spukt(e) natürlich vielen Journalisten viel Halbwissen aus lediglich halb auswendig gekannten Sketchen in den Hinterköpfen, das sie vor lauter Beschleunigung nicht gegenrecherchierten. (bildblog.de). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 


 

weitere Blogs

Regenbogengottesdienst  in Adventszeit
Ein Gedicht zum Heiligen Abend aus queerer Perspektive nicht nur für queere Christ:innen.
Warum Weihnachten hinter einer Mauer liegt und was sie überwinden kann.
In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.