Die Echtzeit rausnehmen

Die Echtzeit rausnehmen

Blackberry-Aufruhr und Börsen-Weltuntergänge: Angesichts von immer mehr Krisenherden blüht der Aufregungsjournalismus beim Tickern, Dramatisieren und Erklären auf.

Ein Medien-Scherz aus einer längst vergangenen Ära kreiste ums Erstaunen,

"dass jeden Tag genauso viel auf’e Welt passiert, wie inne Zeitung passt? Nie, dass die mal über den Rand schreiben müssen, oder mal ne Spalte frei bleibt? Nein, immer genauso viel, wie da rein passt! Also Ährlich!!!"

Er stammt vom längst verstorbenen Kabarettisten Jürgen von Manger aka Adolf Tegtmeier.

Heutzutage passt ins Internet unendlich viel mehr hinein als in die Zeitungen. Es passiert aber auch unendlich viel mehr, das der Journalismus dennoch in großen Aufmacherreportagen, Livetickern und per Video verfolgt, dramatisiert und auch wie zu Tegtmeiers Zeiten mit der ganzen Kraft der vierten Gewalt einleuchtend erklärt, noch während es passiert.

Die Zeitung, die mit solchen Phänomenen am sinnvollsten umgeht, ist häufig die FAZ. Heute bringt das Feuilleton vorne einen "Erlebnisbericht" von Gina Thomas. Wie es sich für eine Kulturkorrespondentin gehört, kam sie in London aus dem Theater und stieß auf eine "Spur der Verwüstung", der sie in ein "Michelin-besterntes" Restaurant sowie bis an den Schauplatz eines populären Kino-Blockbusters folgte:

"In der Portobello Road, direkt um die Ecke des Hauses, in dem sich Julia Roberts und Hugh Grant in dem Film 'Notting Hill' vor der Pressemeute verschanzt hatten, war es den Unruhestiftern bei ihrem Raubzug auch gelungen, in ein Schuhgeschäft einzubrechen. Vor dem offenen Eingang lagen die aus den Regalen gezerrten und teilweise geleerten Schachteln in wüstem Durcheinander. Die Handvoll Bereitschaftspolizisten, die fünfzehn Meter weiter weg postiert waren, standen herum und schienen sich nicht darum zu kümmern, ob Passanten zugriffen oder nicht."

Darauf, dass die britische Polizei, von deren Überforderung vielerorts zu hören und zu lesen ist, "wegen der Rücktritte im Zusammenhang mit dem Murdoch-Skandal unter interimistischer Führung" steht und wohl auch daher "zutiefst verunsichert" ist, weist Thomas ebenfalls hin.

Auch die FAZ-Medienseite 33 (derzeit nicht frei online) beleuchtet das aktuelle Geschehen reflektiert. Dort hat Oliver Jungen die Berichte der BBC über die Ausschreitungen verfolgt und meint, was diese

"besonders gruselig machte, war ihr doppelter medialer Live-Charakter. Die Plünderer, die ganze Straßenzüge verwüsteten und unzählige Existenzen ruinierten, nutzten Handys, Twitter und Social-Media-Plattformen, um sich zu organisieren, während die BBC zurückgriff auf oftmals selbst attackierte Live-Reporter, auf dramatische Aufnahmen aus dem eigenen Helikopter sowie auf Live-Berichte von Zeugen, die außer Atem schilderten, wie just in diesem Moment Geschäfte geplündert oder Häuser angezündet wurden."

Sozusagen ebenfalls gedoppelt, das aber ausschließlich medial seien die Berichte über den Krisenherd, der bis zum Aufkommen der London-Berichte die Aufregungsschlagzeilen beherrschte: die Börsen. Das meint auf derselben Seite Frank Lübberding. Sein Artikel unter der Überschrift "Die Welt geht unter, wir gehen mit" scheint auf den ersten Blick selbst zu verdoppeln, was gestern Stefan Niggemeier fürs FAZ-Fernsehblog aufschrieb ("Geht jetzt die Welt unter? Oder doch nur der ARD-'Brennpunkt'?"). Er kreist aber doch um ein anderes Mediengenre: all die Liveticker, die den fallenden und steigenden und fallenden Börsenkursen hinterherhecheln:

"Warum sollen die Kursgewinne der vergangenen Monate eine realistische Beschreibung dieser Wirklichkeit gewesen sein? Diese einfache Frage stellte niemand, obwohl es eine plausible Erklärung der Kursverluste gewesen wäre. Allerdings fehlt ihr jede Dramatik. Die Finanzmärkte werden aber als ein solches Drama inszeniert. Sie ändern schließlich andauernd ihren Modus. Heute feiern die Akteure ihre Gewinne, morgen geraten sie wegen der Kursverluste in Panik. Ihr Handeln haben sie zwar mittlerweile an Computerprogramme delegiert. Das ändert nichts an dem Bedürfnis, eine Erklärung für jede Entwicklung finden zu müssen. Für diese Kommentare brauchen die Marktkommentatoren die Medien. Sie sind auf sie genauso angewiesen wie Heidi Klum, wenn sie über die Malaise mit ihren Top-Models berichten will..."

Kann man was dagegen tun? Ja, die Echtzeit rausnehmen, meint Lübberding: "Wenn Medien in Echtzeit agieren, verstellen sie den Blick auf das, was sie erklären sollen. Sie werden zu sinnlosen Meldungsautomaten." Niggemeier, der sich allein auf eine "Brennpunkt"-Show der ARD konzentrierte (die vermutlich von den populären Livetickern in Onlinemedien inspiriert wurde) gelangte zu einem ähnlichen Ergebnis und meinte ironisch: "Fast möchte man diese Art von Journalismus loben, der nicht vorgibt, Antworten zu kennen. Aber es wäre doch schön gewesen, sich wenigstens mit den Fragen beschäftigt zu haben."

Antworten zu kennen, das ist andererseits die Kernkompetenz der vierten Gewalt, die sie auch heute wieder auf den Kommentarseiten der Zeitungen ausspielt. Sicher ist es ungerecht, hier exemplarisch die Berliner Zeitung herauszugreifen, aber dort weiß Sabine Rennefanz, dass "die britische Besitz-Obsession" mit Schuld ist:

"Die Jugendlichen sind ja nur das Produkt einer Gesellschaft, die die Orientierung schon lange verloren hat.Es gärte lange unter der Oberfläche, aber außer ein paar Popstars traute sich niemand, das anzusprechen. 'I predict a riot', sangen die Kaiser Chefs aus Leeds, wo es letzte Nacht auch brannte."

Hoffentlich werden solche Kommentare ins Englische übersetzt, damit sie den Briten helfen, die richtige Orientierung wiederzufinden.

Ansonsten kommen von der Insel (wie man zu Tegtmeiers Zeiten sagte) technokratische Infos über die bei britischen Jugendlichen beliebten Dienste und Endgeräte. "Die Randalierer rufen über Twitter zum Plündern auf und verabreden sich mit Blackberry-Handys - deshalb ist ihnen die Polizei stets einen Schritt hinterher", informiert die Süddeutsche. "Hierzulande gelten diese Geräte als Ausstattung für Manager und nicht unbedingt als cool. In Großbritannien aber sind sie unter Jugendlichen sehr verbreitet - vor allem aufgrund des Dienstes Blackberry Massenger (BBM)", fügt die Holtzbrinck-Sydikation (zeit.de, tagesspiegel.de) hinzu.

[listbox:title=Artikel des Tages[Auf dem Weg zur schlimmsen Krisenherd (Tsp.)##Erlebnisbericht aus London (FAZ)##ARD-"Brennpunkt" Börse (FAZ-Blog)##Die Coolness der Blackberrys (zeit.de)]]

Falls die Coolness der Blackberrys tatsächlich auch auf den Kontinent übergreifen sollte (und natürlich: nicht shitstorms wegen der angekündigten Kooperation mit der britischen Polizei zum Opfer fallen sollte), könnten mutige Spekulanten jetzt, wo die Kurse gerade kräftig ins Plus zu drehen scheinen, ja auf Aktien der Herstellerfirma Research In Motion setzen...

Wer dagegen doch lieber die Echtzeit rausnehmen möchte, dem sei ein Artikel empfohlen, der nicht um die - trotz London und Leeds, trotz der Staatsschulden-Euro-Dollar-Börsen-Turbulenzen usw. usf. - derzeit wohl schlimmste Krise kreist, sondern um die Schwierigkeiten, über diese Krise zu berichten. Ingrid Müller berichtet im Tagesspiegel unaufgeregt und lesenswert von ihrer Reise in die "Hungercamps", die gerade an der äthiopisch-somalischen Grenze entstehen. (Und dort entstanden dann solche Artikel derselben Reporterin).


Altpapierkorb

+++ Diplomaten, Geheimdienste, Banken usw. wissen: Früher war alles besser geheimzuhalten als heute. Wer die Kunst der Geheimhaltung allerdings weiterhin ganz gut beherrscht, ist Udo Reiters MDR. Steffen Grimberg gibt in der TAZ einen Überblick über die Skandallage und zeigt sich überzeugt: "Das Rätseln um den MDR, der mit einem von der Kritik verlachten Häkeldeckchen-Programm das erfolgreichste Dritte Programm der ARD macht, wird also weitergehen." +++ Was heute wohl nicht in die gedruckte FAZ passte, aber doch noch ins Internet: Michael Hanfelds neueste Analyse derselben Lage. "In der Produzentenszene ist notorisch von sogenannten Kick-Back-Geschäften die Rede, bei der auf der einen Seite offizielle Aufträge, auf der anderen inoffizielle Gefälligkeiten stehen", schreibt er, nennt allerdings keine konkreten Namen und Beschuldigungen (sondern wünscht sich Helmut Dietl zur Bearbeitung der Sache - obwohl doch der seine besten Zeiten hatte, als Jürgen von Manger noch lebte...). +++ Und wer noch tiefer in die Sache einsteigen möchte: Gestern berichtete die lokale Thüringer Allgemeine ausführlich. +++

+++ Hauptthema der Süddeutsche-Medienseite: das Crowdfunding im Filmgeschäft. Gerade habe das Berliner "Institut für Kommunikation in sozialen Medien" "die erste deutsche Crowdfunding-Studie" veröffentlicht (für 14,99 € hier zu bestellen). Außerdem geht's um das Teamworx/ Sergej Moya-Filmprojekt "Hotel Desire", über das sich Über-18-Jährige und unehrliche Minderjährige hier informieren können. +++

+++ Ebd. widmet Hans Leyendecker einem "der härtesten Interviewer unter den deutschen Fernsehjournalisten", Rudolf Rohlinger, einen kleinen Nachruf und erinnert an dessen Worte nach dem John F. Kennedy-Attentat 1963: "Wir müssen jetzt einen Moment den Geschichtspuls fühlen". +++ Die FAZ startet heute eine neue "an keinen festen Tag gebundenen Sprachkolumne" unter dem Titel "Für alle Fälle Reents" und kümmert sich darin um korrekte Possessivpronomen. +++

+++ Brennpunkt Dänemark, aus diversen Gründen. Ab Montag auch, weil dann der Prozess gegen den dort ansässigen, kurdischsprachigen Sender ROJ TV wegen Beihilfe zum Terror beginnt. "Formal hatte die türkische Botschaft in Kopenhagen 2005 eine Anzeige unter Bezugnahme auf die nach 9/11 erlassenen dänischen Antiterrorgesetze erstattet", informiert die TAZ. +++

+++ Brennpunkt soziale Netzwerke: Während Marin Majica in der BLZ aus aktuellem Londoner Anlass über "Catch A Looter" informiert, befasst sich der Tagesspiegel unter der Überschrift "Möpse und Miezen" mit dem Projekt des Klambt-Verlages (Grazia, Frau mit Herz), ein Netzwerk für Tiere zu errichten. +++

+++ Frau Christiansen, "sind kritische Fragen immer möglich?" Von kritischen Fragen unbehelligt, bekommt Sabine Christiansen in der Berliner Zeitung Gelegenheit, sich erst ausführlich über ihre beliebte n-tv-Sendung "Chefsache" ("Worin unterscheiden sich Politiker und Wirtschaftslenker?") und dann auch ein paar nette Gemeinplätze zu Günther Jauchs gespannt erwarteter ARD-Show zu äußern. +++

+++ "Eine Hand wählt die andere/ Wiener Medienwalzer" lauten die FAZ-Überschriften zur Wiederwahl des ORF-Intendanten Alexander Wrabetz. +++ Es gibt nun einen Medienpreis weniger, es sei denn, der Springer'sche "Osgar" erhielte einen neuen Namen... (TAZ/ EPD). +++ Und mit den Worten "Der einzige Sender, der die Ossis versteht und sie so nimmt, wie sie sind. Mittelmäßig, Dämlich, Rudimentär" spitzt die TAZ-Kriegsreporterin die Lage bem MDR zu.+++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
 

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