In Echtzeit-Schnelle viele Informationen über etwas verarbeiten müssen, das sich womöglich als sowieso unerklärlich erweist - dieses Dilemma umkreisen gerade viele Journalisten.
Fehleinschätzungen sind wie Anschläge (und eigentlich fast alles andere auch): Hundertprozentigen Schutz vor ihnen kann es nicht geben.
Das sagt Elmar Theveßen, also der seit dem Wochenende wegen seiner im ZDF verbreiteten anfänglichen Fehleinschätzung zu den Anschlägen in Norwegen von einer großen, so selten vorkommenden Koalition zwischen Stefan Niggemeier (siehe Altpapier gestern) und der Bild-Zeitung (siehe mediensalat.info, via bildblog.de) sozusagen als der Fehleinschätzungs-Experte schlechthin kritisierte ZDF-Mann. Leider hat der Tagesspiegel nicht nachgehakt, wieviel Prozent Schutz es denn gibt.
Wer sich tiefer in die Theveßen-Debatte hineinbegeben möchte: Dazu liegt seit gestern mittag auch eine ausführliche "heute"-Nachrichten-Transkription Niggemeiers im FAZ-Fernsehblog vor, die wiederum auf Theveßens Äußerung in einem ZDF-Blog reagiert.
Doch zurück zum Tagesspiegel-Artikel, in dem Markus Ehrenberg und Andreas Maisch die Debatte offenbar auf eine andere Ebene heben oder senken verlagern möchten:
"Hand aufs Herz - als am Freitagnachmittag die ersten Nachrichten von den Anschlägen in Oslo über die Ticker, Radiowellen und Bildschirme liefen, gingen die allermeisten Menschen von einem islamistischen Hintergrund aus. So auch die 'Terrorexperten' von ARD und ZDF. Rainald Becker und Elmar Theveßen waren sicher nicht die einzigen Journalisten, die mit ihrer ersten Einschätzung falsch lagen. Die mit dem Internet noch mehr beschleunigte Nachrichtenmaschine erzeugt einen gewissen Druck. Trotzdem stellt sich die Frage, ob aus den teils voreiligen Vermutungen und Schlüssen zur Täterschaft in Oslo Lehren zu ziehen sind..."
Dazu zitieren sie einen Kommentar unter einem anderen Tsp.-Artikel, den ersten unter diesem:
"Man möchte diesen so genannten 'Terrorismus-Experten', wenn sie denn bereits kurze Zeit nach einem solchen Blutbad mit ernst-betretener und wichtigtuerischer Miene auf allen TV-Kanälen ihre Theorien und Einschätzungen absondern, mal einen Ausspruch von Herbert Wehner entgegenhalten: Ich weiß nichts! Und Sie wissen nichts!..."
und kommentieren diesen Kommentar mit "Starker Tobak", obwohl man nicht viele Kommentare lesen müsste, um auf stärkeren Tobak zu stoßen. Der Tagesspiegel nimmt als gegeben hin, dass es in der gegenwärtigen Situation der Medien, in der es schnell gehen muss, Fehleinschätzungen gibt, und will der gerade heftigen Kritik am Expertenwesen im Fernsehen entgegentreten. Und auch wenn Ehrenberg/ Maischs Argumentation unter Vierte-Gewalt-Ethos-Journalistenpreisverleihungs-Reden-Aspekten Kritik verdient, pragmatisch ist sie.
Da andererseits andere Journalisten mit anderen Beispielen (z.B. Christian Meier auf meedia.de anhand von Texten der Agentur DAPD: "Der Sieg des Konjunktiv-Journalismus") natürlich Niggemeier beipflichten, könnte jetzt vielleicht tatsächlich einmal eine sinnvolle, offene, über die üblichen Mediendebatten-Fronten hinweg verlaufenden Mediendebatte entstehen. Über Fragen wie:
Ob in der Echtzeit-Ära, in der jedem, der sich nicht ausdrücklich ausklinkt, nolens volens laufend Bruchstücke aus gesprochenen und geschriebenem Text, aus bewegten und unbewegten Bildern um die Ohren fliegen (über Hilferuf-Tweets von der Insel Utøya berichtet heute die Süddeutsche), die, die Journalismus-Ambitionen haben, wirklich schweigen können, bis sie genug wissen, um sich valide zu äußern. Oder ob die Nutzer nicht tatsächlich von denjenigen mit Journalismus-Ambitionen erwarten, sofort jene Einordnungen zu erhalten, die Journalisten immer als ihre Kernkompetenz herausstellen.
Oder ob zumindest die, die sich wegen Rundfunkgebühren keine Sorgen um die Refinanzierung durch Reichweite machen müssen, sich solange zurückhalten, bis sie genug wissen (wobei sie dann später auch nicht um die Ohren gehauen kriegen sollten, dass sie zu spät mit Sondersendungen gekommen sind).
Oder ob es möglich wäre, erkennbar zu unterscheiden, was man zum aktuellen Zeitpunkt weiß, was man noch nicht genau weiß (weil zu wenige Informationen vorliegen oder zu viele) und was man (noch, vielleicht überhaupt) nicht weiß, ohne die an schnelle Infos gewöhnten Nutzer zu verärgern.
[listbox:title=Artikel des Tages[Was sagt Theveßen heute? (Tsp.)##Was sagte er am Freitag? (I)##Was sagte er am Freitag? (II)##Rundfunkanstalten-Sittengemälde (KSTA)]]
Andererseits doch unwahrscheinlich, so eine Debatte. Es ist eher wieder so, dass die Fassungslosigkeit gegenüber einem Ereignis anderswo hierzulande nach kurzer Zeit die üblichen Reflexe auslöst, zweifellos auch zu einem (prozentual nicht exakt bezifferbaren Anteil) aus echter Überzeugung. Zum Beispiel die "innenpolitischen Reflexe des deutschen Politikbetriebs" (Berliner Zeitung), die jetzt wieder oft um Vorratsdatenspeicherung kreisen. Z.B. das gewohnte Räsönieren darüber, wie das Internet die Welt verändert (heute in der Süddeutschen: "Über den Stammtisch ist viel hergezogen worden, über seine Intoleranz und über den alkoholtriefenden Satz: 'Die sollte man alle...' Aber am Ende hat dann doch jemand dem heißesten der Sporne die Hand schwer auf die Schulter gelegt und gesagt: Junge, lass gut sein. Im Internet fehlt das"). Oder es googelt jemand (TAZ) die Wortkombinationen "Extremismus von links und rechts" und "Extremismus von rechts und links" und zieht aus der Anzahl der Suchmaschinenergebnisse Schlüsse. Nur zum Beispiel.
Den Ausweg, den die vom Tagesspiegel befragten ARD- und ZDF-Experten fürs Expertenwesen aus dem Dilemma vorschlagen, formuliert ARD aktuell-Chefredakteur Thomas Hinrichs:
"Man müsse, so die Lehren für ARD aktuell aus der momentanen Medienkritik, die Zweifel sehr deutlich formulieren, am Anfang, in der Mitte und am Ende, jedenfalls 'vielleicht noch deutlicher, als wir es am Freitagabend gemacht haben'".
Vielleicht mit Einblendungen oder einem Laufband, die auf eine "Einschätzungssendung" so hinweisen wie bei anderen Gelegenheiten auf eine "Dauerwerbesendung" oder Produktplatzierungen.
Altpapierkorb
+++ "Von mir haben Sie das aber nicht!", hat Jan-Philipp Hein ziemlich oft gehört, schreibt er, als er für den KSTA der Programmdirektors-Personalie beim Deutschlandradio nachtelefonierte. Und malt ein kleines "Sittengemälde, wie sich die Parteien die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Beute gemacht haben". +++
+++ "In Zusammenhang mit schlechten Nachrichten wird Lob gerne besonders großzügig verteilt" - relativ steile These von Katharina Riehl in der Süddeutschen. Es geht um die gestern ebd. (inzwischen frei online) vermeldete Verlegung eines Münchner "Polizeiruf 110"-Krimis von einem 20.15 Uhr-Termin auf einen nach 22.00 Uhr. Der Satz bezieht sich darauf, dass Verantwortliche des Bayerischen Rundfunks die Macher des Films loben. Am Ende meint Riehl: "Der Jugendschutz ist ein wichtiges Gut, doch das Urteil im Fall des Steinbichler Films am Ende auch willkürlich. Denn wenn er der Maßstab wird, dann verändert sich etwas in Deutschland, um 20.15 Uhr" +++ "Ohne den Film gesehen zu haben, darf man eine solche Begründung für nachvollziehbar halten", schreibt erstaunlicherweise Michael Hanfeld in der FAZ (S. 31) und zitiert sogar aus der Süddeutschen. Haben ihm die Bayern denn den Film nicht geschickt? +++ Die TAZ hat einen O-Ton von Regisseur Hans Steinbichler: "Ich habe das Buch genau so umgesetzt, wie es mit der Redaktion entwickelt wurde. Das ist schon ein sehr spätes Erstaunen über den Film." "Wegen der 'schwer durchschaubaren Gemengelage' wollte er sich jedoch nicht weiter zu der Angelegenheit äußern". +++
+++ Heute um 22.45 Uhr im ARD-Fernsehen, das aber nicht wegen Jugendschutz: "Sozialdemokraten - 18 Monate unter Genossen", ein Dokumentarfilm von Lutz Hachmeister. Klar, dass dazu viele Kritiken vorliegen. "Der beste Satz in Lutz Hachmeisters Film über die SPD ist ein Versprecher von Joachim Gauck", schreibt Franziska Augstein in der Süddeutschen, womit schon klar wird, dass sie den Film nicht lobt (Wer sich nicht allzu gut auskennt, bekommt hier vornehmlich einen atmosphärischen Eindruck von der Arbeit des SPD-Parteivorsitzenden"). Der beste Satz in der Besprechung ist entweder "In gewisser Weise hat auch Lutz Hachmeister sich in seinem Film selbst die Hand geschüttelt" oder, inhaltlicher betrachtet: "Helmut Schmidt, der Hochverehrte, ist mittlerweile bis zur Absurdität rechthaberisch". +++ Doch schon ein Film, dem "der Aufwand anzumerken ist, der sich aus den vielen Drehorten ergibt, und der zumindest für besonders SPD- oder politikvernarrte Beobachter interessant ist", meint Gordon Repinski in der TAZ. +++ "Das ist durchaus unspektakulär und hebt sich gerade deshalb wohltuend von der bisweilen hyperventilierenden Berichterstattung in der Berliner Republik ab" (Thomas Gehringer im Tsp.). +++
+++ Mehr Stoff zur Experten-Debatte: Wer ARD-Berichte aus Norwegen "extrem gut" fand und knapp Einblick in die "Amok-Regeln" der ARD gibt (über deren grundsätzliche Beherzigung in der ARD sich ebenfalls streiten ließe): Dr. Kai Gniffke im Tagesschau-Blog. +++ Wer anhand eines Schnellschuss-Kommentars von Norbert Tiemann, dem Westfälische Nachrichten-Chefredakteur, in seiner Argumentation nachlegt: Stefan Niggemeier. +++
+++ Medienclan-Experte Thomas Schuler geht in der Berliner Zeitung der Lage in Rupert Murdochs Imperium nach. +++ Der Durchbruch bei der Erkenntniss, dass phone hacking nicht exklusiv bei Murdochs britischen Blättern betrieben wurde, könnte erzielt sein: "Viele der Stories des Daily Mirror enstanden dadurch, dass die Mailboxes berühmter Persönlichkeiten gehackt wurden", zitiert sueddeutsche.de James Hipwell aus dem Guardian vom Wochenende. +++
+++ Und aus Ecuador berichten SZ und FAZ (S. 31). Dort wurde die größte Zeitung, El Universo, zu einer 40 Mio.-Dollar-Strafe verurteilt, außerdem sollen ein Kommentator und drei Verlagsmanager drei Jahre in Haft, weil im Blatt Präsident Rafael Correa als "Diktator" bezeichnet worden war. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.