Ein vielleicht Weg weisender Wechsel bei der New York Times und eine Posse aus Norddeutschland beschäftigen heute die Medienbeobachter. An Kachelmann-Prozess-Nachbetrachtungen herrscht weiterhin kein Mangel.
Nach dem Freispruch des Wettermanns ist nun die Zeit gekommen für ausgeruhtereAbhandlungen zur Rolle der Medien während des Verfahrens. Die ausführlichste steht in der taz, sie stammt vom Medienrechtsprofessor Volker Boehme-Neßler:
„Der Tiefpunkt im Mannheimer Landgericht war die Begründung des Freispruchs. Die Richter haben ausdrücklich betont, dass sie nicht von der Unschuld des Wettermoderators Jörg Kachelmann überzeugt sind. Was sollte das? Das war eine - juristisch völlig unnötige - Steilvorlage für die Boulevardmedien. Jetzt lassen sich sogar die Richter als Kronzeugen für den ‚Ja-aber-Freispruch‘ anführen. (...)
Nach einer Kritik an den Herren Juristenkollegen wirft Boehme-Neßler einen nüchternen Blick nach vorn:
„Über die Medien zu jammern, hilft nicht. Medien sind Medien und funktionieren nicht nach der Logik der Justiz. Der Rechtsstaat muss sich deshalb in der Mediengesellschaft neu erfinden. Die entscheidende Frage lautet: Wie lassen sich in einem entfesselten Medienumfeld heikle und menschlich schwierige Prozesse nach rechtsstaatlichen Prinzipien durchführen? (...) Auch in der Mediengesellschaft ist der Rechtsstaat nötig, um Rechtsfrieden zu schaffen, ohne die Freiheit der Bürger unnötig einzuschränken.“
Während Wolfgang Janisch in der Süddeutschen das Thema Kachelmann und die Folgen mit der Berichterstattung von der gestrigen Verleihung des Pressepreises des Deutschen Anwaltsvereins in Straßburg verknüpft - Gisela Friedrichsen bekam ihn -, macht Volkmar Sigusch, Mitherausgeber des Sammelbandes Sex tells, im Freitag ganz andere Fässer auf:
„Wollen wir das übliche Gerede über Kachelmann oder Strauss-Kahn vermeiden, dann müssen wir ganz andere Fragen stellen, als es derzeit getan wird. Erste Frage: Fallen Gewalttäter aus dem allgemeinen Rahmen? Antwort: Nein, sie sind prinzipiell gleichgeschaltet. Das Skandalöse am individuellen Gewalttäter ist, dass er etwas wahr macht, was niemand wahrhaben will. Er nimmt andere Menschen als so belanglos, willenlos, bereits abgestorben und zu Stoff geworden, wie es zwar im Gang unserer Gesellschaft liegt, im Alltagsbewusstsein aber maskiert bleibt.“
Eine weitere Frage Siguschs lautet: „Könnte Sexualität als leitender kultureller Erregungsmodus von Aggressivität abgelöst werden? (...) Antwort: Denkbar ist es.“
Unter anderem zu den medialen Aspekten der von Sigusch erwähnten Causa Strauss-Kahn äußert sich die Jungle World:
„Strauss-Kahns Anwälte (...) haben viel Geld für Recherchen in der Bronx, wo das mutmaßliche Opfer Nafissatou Diallo lebte, und in dessen Herkunftsdorf in Guinea ausgegeben. Auch ihre guineischen Landsleute, in den USA wie in Westafrika, könnten zu Rate gezogen werden. Einige von ihnen äußern sich in den französischen Medien derzeit negativ über Diallo und ihre Moral, und zwar vor allem deswegen, weil es in ihren Augen grundsätzlich unsittlich ist, wenn eine Frau mit Vorwürfen sexueller Gewalt an die Öffentlichkeit tritt.“
Zu den Menschen, die ohne jeden strafrechtlichen Hintergrund aus Irgendwas-mit-Sex-Gründen in die Mühlen der Medien geraten sind, gehört dagegen Ole von Beust, der frühere CDU-Bürgermeister von Hamburg. Ihm widerfuhr dies nach einem Zwangsouting durch einen Koalitionskameraden. Und obwohl von Beust ja Jurist ist, hat er „sich nicht dagegen wehren“ können, „dass Zeitungen anschließend monatelang mein Privatleben durchforstet haben“, erzählt er dem Zeit-Magazin:
„Die haben bei Handwerkern angerufen, ob es Vorrichtungen an der Wand gibt, an denen jemand gefesselt werden kann, ob es Spiegel überm Bett gibt. Bei Kneipenwirten fragten sie nach, mit wem ich da war, was ich getrunken habe. Dieses Gefühl, dass das eigene Umfeld abgeschöpft wurde – das hat mich wirklich belastet.“
Gedanken gemacht hat sich von Beust auch über den Medienwandel, wobei unter anderem Folgendes herausgekommen ist:
„In den Siebzigern, Achtzigern hatte der NDR eine Fernsehsendung, ‚Berichte vom Tage‘, beim Rundfunk gab es eine Viertelstunde Landespolitik auf NDR 1, die Lokalpresse war eher regierungstreu, freundlich-unkritisch. Das können Sie mit heute nicht vergleichen. Heute haben Sie die fünf- bis siebenfache Anzahl von Medien, die alle zuspitzen müssen. (...) Die Beschleunigung (...) hält man zwei Legislaturperioden aus, wenn man ein dickes Fell hat.“
Falls der im August 2010 abgetretene Ex-Politiker damit zum Ausdruck bringen wollte, die Lokalpresse habe zu seiner Zeit regierungsuntreu und unfreundlich-kritisch berichtet, haben wir es hier - bei allem Verständnis für Verärgerung über Journalisten, die aus dubiosen Gründen Handwerker anrufen - mit einer sehr exklusiven Wahrnehmung zu tun.
Skandale und Verfehlungen rund ums Mediengeschäft wirken stets sehr klein, wenn ein Journalist getötet wird. Über die Ermordung Saleem Shahzads, der „einer der intimsten Kenner der Terrorszene“ war - „Wohl niemand war so dicht dran an Taliban, Al Qaida, Lashkar-e-Toiba und den vielen anderen Terrorgruppen wie der 40-Jährige“ -, berichtet der Tagesspiegel. Man habe es hier mit mehr als „‘nur‘ einem weiterem Mord“ zu tun:
„Die blutige Tat und das Auftauchen der übel zugerichteten Leiche, so glauben viele, ist eine Warnung an alle Journalisten und Kritiker. ‚Es ist ein Versuch, eine ganze Gesellschaft mundtot zu machen‘“, meint der Bostoner Professor für internationale Beziehungen, Adil Najam. Wie wenig Pakistans Regierung in der Lage ist, die Medien zu schützen, gestand sie selbst praktisch ein, in dem sie Journalisten erlaubte, Schusswaffen zu ihrem Schutz zu tragen. Der Vorstoß wurde mit Spott und Hohn quittiert.“
[listbox:title=Artikel des Tages[Die erste Frau an der Spitze der New York Times (Poynter)##Die ständige Neuerfindung des Rechtsstaats (taz)##1,2 Millionen Abfindung für fünf Monate Arbeit (Funkkorrespondenz)]]
Die Welt, die überdies die mutmaßliche Rolle des Geheimdienstes ISI bei der Ermordung des Reporters aufgreift, zitiert Cyril Almeida, den „legendären Leitartikler des pakistanischen Qualitätsblattes Dawn, der Shahzad persönlich gut kannte“: „Die Gefahrenzone für Journalisten ist gewachsen. Früher mussten sie in den Stammesgebieten mit Gefahren rechnen. Aber Islamabad galt als sicher. Genau hier ist jetzt Shahzad verschwunden.“
Auf unschöne Art zusätzlich aktuell geworden ist nunmehr die für sonntägliche Phoenix-Dokumentation „Pakistan - Leben im gefährlichsten Land der Welt“ (siehe Pressemitteilung). Ob der negative Superlativ hier angebracht ist? Reporter ohne Grenzen und andere dürften das bezweifeln.
Wer an diesem dank so genanntem Brückentag möglicherweise verlängerten Wochenende noch einen Kurztrip plant und bei potenziellen Reiseorte auch die dort verbreitete Medienkompetenz berücksichtigt, wird wohl eher nicht die Insel Helgoland ansteuern. Die taz berichtet, wie ein ebd. erschienener Artikel den Tourismusdirektor des Eilands - unser heutiges Foto ist ein Screenshot aus einem diesjährigen WDR-Beitrag - derart verärgerte, dass er Helgolands-Fans online und quasi ganz offiziell zu einem Shitstorm animierte. Trotz der Tatsache, dass hier das Internet eine Rolle spielt, handelt es sich um eine richtig altmodische, beinahe urig zu nennenden Medienposse, für die man aus Gründen der Abwechslung ein bisschen dankbar sein darf.
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+++Die heute wichtigste Medienpersonalie: An der Spitze des New York Times steht bald eine Frau - erstmals in der Geschichts des Qualitätsblatts. Was die Berufung Jill Abramsons für Journalistinnen generell bedeutet, erörtert Poynter. Die Süddeutsche glaubt: „Inhaltliche Neuerungen sind von dem Wechsel nicht zu erwarten.“ Der Guardian und Spiegel Online berichten ebenfalls.
+++ Am morgigen Samstag wird die „Sportschau“ 50 (siehe auch hier). Dietrich Leder (Funkkorrespondenz) nimmt das Jubiläum in einem unter anderem den ersten Moderator Ernst Huberty zitierenden Artikel zum Anlass, einige weniger bekannte historische Aspekte in den Blick zu nehmen, unter anderem, dass die Sendung ursprünglich nur sonntags lief: „Die Samstagsausgabe der ‚Sportschau‘, also die heutige ‚Bundesliga‘-Sendung, mit der sie seit Jahrzehnten identifiziert wird, wurde erst 1965 aus der Taufe gehoben. Nach der Gründung der Fußball-Bundesliga im Jahr 1963 hatte man zunächst nur eine Nachrichtensendung etabliert, die unter dem Titel ‚Bericht von der Bundesliga‘ um 17.45 Uhr die Spielergebnisse zusammenfasste. Huberty erklärt die ‚Miniversion‘ damit, dass man in der ARD die Bedeutung der Bundesliga noch nicht erkannt hatte. Hinzu kam, dass man den Samstagnachmittag als Sendeplatz lange Zeit unterschätzte. Dass in der Gesamtgesellschaft der Samstag als Arbeitstag an Bedeutung verlor und nun den Menschen als Freizeit zu Verfügung stand, war den Fernsehleuten noch nicht ins Bewusstsein gekommen.“
+++ Außerdem in der Funkkorrespondenz: Volker Nünning hat im Geschäftsbericht von Pro Sieben Sat 1 für 2010 vor allem die Vorstandsgehälter studiert - und da wiederum insbesondere die der bereits ausgeschiedenen Manager. Der lediglich zwischen Mai und Oktober 2010 als „Chief New Media Officer“ tätige und dann aus „persönlichen Gründen“ von dannen gezogene Dan Marks erhielt beispielsweise 1,4 Millionen Euro - vor allem dank einer Abfindung von „fast 1,2 Millionen Euro“. Das sei „überraschend, heißt es doch im Geschäftsbericht des Konzerns: ‚Für den Fall der vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses enthalten die Vorstandsverträge keine ausdrücklichen Abfindungszusagen.‘“
+++ Was im zur P7S1-Gruppe gehörenden Kanal 9live seit Mittwoch so läuft, also seitdem die Zeit der Gewinnspiele vorbei ist. weiß Peer Schader (FAZ, S. 35): „Gezeigt werden alte Sat-1-Produktionen wie ‚Kommissar Rex‘ und ‚Für alle Fälle Stefanie‘ sowie die Krimireihen ‚R.I.S.‘ und ‚Deadline‘, dazu die Telenovela ‚Eine wie keine‘“ (...) Insofern ist 9live nun auch eine Art Museum für die Programmflops der vergangenen Jahre.“
+++ Des weiteren auf der FAZ-Medienseite: ein Bericht über einen Auftritt des Netzskeptikers Evgeny Morozov in Berlin. Tomasz Kurianowicz fasst die Position des Autors von The Net Delusion zusammen: „Die Informationen, die oppositionelle Kräfte im Internet streuen, werden oftmals gegen sie verwendet. Kritische Blogger machen ihre Pläne öffentlich und verschaffen so dem Regime Informationsvorteile – zu viel Transparenz zerstöre also Strukturen, anstatt sie aufzubauen. In Tunesien und Ägypten spielte das Internet eine so große Rolle, weil die Regimes keine professionellen Kontrollinstanzen hatten.“
+++ Der Branchendienst text intern (S. 2) blickt zurück auf die Verhandlung des Bundesgerichtshofs in Sachen Presse-Grosso, deren Ausgang maßgeblich für die Zukunft der Pressevielfalt und damit auch der Pressefreiheit in Deutschland sein dürfte. Der Text ist fokussiert auf die Position des Bundeskartellamts, weil sich Jörg Nothdurft, der Prozessvertreter der Behörde, fragt ob die komplexe Causa „nicht ohnehin die Grenzen dessen sprengt, was ein Zivilrechtsstreit leisten kann“. Der Pressefreiheit könne man „mit einer letztendlich vielleicht ergehenden Beweislastentscheidung sicherlich auf keinen Fall gerecht werden“.
+++ Der Tagesspiegel empfiehlt die Ausstellung „Experimentelles Fernsehen der 1960er und 70er Jahre.“
+++ Die Süddeutsche informiert darüber, dass sich in Peru Mario Vargas Llosa im Clinch „mit seinem Hausblatt“ befindet. Der Nobelpreisträger hat dort seine Kolumnentätigkeit aufgekündigt.
+++ Altpapier-Autor Klaus Raab berichtet im Freitag über den ungewöhnlichen Umstand, dass der ruandische Präsident Paul Kagame, eine Mann, den die „Reporter ohne Grenzen“ zu den Feinden der Pressefreiheit zählt, sich bei Twitter auf öffentliche Diskussionen einlässt.
+++ Der Watchblog Klatschkritik hat mal wieder eine Episode aus dem Buntblatt-Milieu parat, in der sich ausführliche redaktionelle Berichterstattung und eine ausgiebige Anzeigenschaltung seitens der gewürdigten Firma kongenial bis traumwandlerisch ergänzen. Die Beteiligten dieses Mal: Gala und das Juwelierunternehmen Tiffany & Co. Vor allem geht es um „eine hochwertig produzierte Fotostrecke in der vorletzten Ausgabe der Gala (Nummer 22/2011). Auf der sieben Seiten langen Strecke trägt das Model neben Kleidung von verschiedenen Herstellern auch Schmuck - und der stammt ausschließlich von Tiffany & Co. Die gezeigten Klunker haben insgesamt einen Wert von über einer Million Euro. Im Anschluss an die Fotostrecke gibt's Service für den Leser: ‚Get the Look‘. Auch hier das gleiche Spiel - die Schmuckstücke zum Nachstylen sind alle von Tiffany & Co. (..).“ Wer noch Tipps fürs Shopping-Wochenende benötigt, die an dieser Stelle normalerweise nicht geliefert werden, dem sei gesagt: „Die Preisspanne des Tiffany-Schmucks reicht (...) von 92.000 Euro aufwärts bis hin zu 134.000 Euro für eine Platinkette.“
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.