Im Zweifel für die Talkshow

Im Zweifel für die Talkshow

Von den tiefsten "Gossen der Journaille" bis in die große Leitartikel-Oper: Die vielleicht gewaltigste deutsche Medienblase, die rund um Jörg Kachelmann, geht in die Sommerpause.

Aus der womöglich größten um einen Einzelnen (bzw. zwei Einzelne) kreisenden deutschsprachigen Medienblase der bisherigen Digitalära wurde mit dem planmäßigen Ende des Hamburg Mannheimer Prozesses gestern Luft herausgelassen. Und die pfeift konsequent gestern und heute von den Titel- bis zu den bunten (und Wetter-) Seiten und natürlich über die Medienseiten durch die Medien.

Auf den seröseren Betrachtungsebenen ist die Rede vom "schwarzen Tag für die deutschen Medien", die sich u.v.a. "darin gefielen, ihren geilen Blick in die Unterwäsche Kachelmanns und seiner früheren Geliebten der Öffentlichkeit als Aufklärung zu verkaufen" (Christian Bommarius, BLZ), von den "Gossen der Journaille" (Ines Pohl, TAZ), von den "Elendsvierteln des deutschen Journalismus von Hubert Burda" - aber halt, das ist schon wieder eine andere Ebene, diejenige des Betroffenen @J_Kachelmann.

Manchmal in der gestrig-heutigen Kommentare- und Leitartikel-Flut scheint es, als könnte die Entdeckung der "Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens", von der der Mannheimer Vorsitzende Richter Michael Seidling sprach, für die Menschen der Digital- (und Talkshow-)Ära so etwas sein, wie es die Entdeckung Amerikas für die Menschen des späten Mittelalters war.

Jedenfalls, schwarzer Tag hin oder her, die Blase ist ja nicht geplatzt. "Es bleibt alles offen", sagte einem faz.net-Beitrag zur Überblicksartikel-Flut zufolge, auf den wir unten nochmal kommen, gestern das Medienoriginal Alice Schwarzer.

Offen z.B., ob oder wann Jörg Kachelmann denn wieder in der ARD auftritt. Der Tagesspiegel, bei Fernsehpersonalien-Spekulationen oft vorn dabei, dokumentiert die offizielle Sprachregelung der ARD-Programmdirektion:

"Solange das Verfahren nicht endgültig abgeschlossen ist und ein Urteil Rechtskraft erlangt hat, sieht die ARD in dieser Angelegenheit keinen Entscheidungsbedarf."

Offen also, ob Kachelmanns weiterer Weg eher dem von Michel Friedman oder denen von Andreas Türck und Karsten Speck, allesamt in Kontakt mit der Justiz geratenen TV-Celebrities, ähneln wird. Carsten Spengemann, den mit dem (oder - Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens - ohne den) Ring, den gab's auch schon. Das ruft ganz vorn auf der FAZ Reinhard Müller in Erinnerung.

Naheliegend wäre, wenn Kachelmann am 11. September in der Erstausgabe der neuen Exzellenztalkshow von Günther Jauch sein ARD-Comeback gäbe und hinterher die Intendantinnen und Intendanten gemeinsam mit der Gremienvorsitzendenkonferenz beschlössen, in welcher Form es weiter gehen soll. Damit rasch zur einzigen harten News dieses Altpapiers, die der Medienseite 15 der Süddeutschen (derzeit nicht frei online) entstammt: Für den bevorstehenden heißen Herbst hat die ARD den Posten eines Talkshow-Koordinators geschaffen:

"Offenbar hat man in der ARD nun erkannt, dass Appelle nicht ausreichen werden um zu verhindern, dass alle dasselbe machen. Von Herbst an soll daher Chefredakteur Thomas Baumann als Koordinator der Talks zum Einsatz kommen. Baumann, 49, wird von München aus bei Planung und Gästelisten wohl eingreifen, wenn er Probleme sieht - auch bei den Sendungen von Maischberger und Beckmann, die formal der Abteilung Unterhaltung unterstehen. ... Man wird das so verstehen, dass im Zweifel die Talk-Redaktionen Baumann überzeugen müssen, dass ihr Ansatz eine sinnvolle Erweiterung bringt."

Wie wird er dann urteilen? Zweifellos im Zweifel für die Talkshow.

Neben der künftigen Medienkarriere des nun Freigesprochenen zählt zu den medialen Aspekten der Kachelmannsache die Frage, wie Medien über die Sache berichten. Besondere Berücksichtigung verdient die Tatsache, dass im Rahmen der Blase führende Vertreterinnen des Genres Gerichtsreportage selbst zu Celebrities wurden.

"Dass es ausnahmslos Frauen sind, die den Medienprozess über Jörg Kachelmann geführt haben, ist wiederum ein Kapitel für sich", schreibt Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite und fällt unter der Überschrift "Und das wollen Journalisten sein?" selbst ein paar Urteile über "ein paar Publizistinnen":

"Nichts anderes" als den nun erfolgten Freispruch Kachelmanns "hätte Gisela Friedrichsen, die Gerichtsreporterin des Magazins, für tragbar gehalten. Doch mit ihrer Berichterstattung und mit der ihrer Kollegin Sabine Rückert von der 'Zeit', mit den Kommentaren von Alice Schwarzer in der 'Bild'-Zeitung und dem Panoptikum, das die Burda-Blätter 'Bunte' und 'Focus' aufgefächert haben, verbindet sich eine andere, naheliegende Frage: Wie ungerecht kann die Presse sein?"

In der von ihm gewohnten Material-Sicherheit berücksichtigt Hanfeld zu Friedrichsen einen Auftritt in Markus Lanz' ZDF-Talkshow, ein Interview mit Radio FFH und eines mit dem Sender Phoenix sowie natürlich diverse Spiegel-Artikel. Rückert wiederum bescheinigt er, "dass sie in puncto Parteilichkeit der Presse bei diesem Prozess neue Maßstäbe gesetzt hat". Wer natürlich erst recht vorkommt und ähnlich beurteilt wird: Alice Schwarzer.

Am Rande: hier nochmal eine kurze Montage des NDR-Magazins "Zapp", in der Schwarzer bei Anne Will zum - verwandten? nicht verwandten? Urteilen Sie selbst! - Thema Dominique Strauss-Kahn prägnant performte.

Damit zu dem Phänomen, durch das Querschnittsthemen erst zur Medienblase werden können: Sie müssen im schnellen, klickgetriebenen Internet jede Menge aktualisierter Überblicksberichte nach sich ziehen, in denen jede Menge Berichte besinnungslos kompiliert werden.

Im faz.net-Artikel "Trotz Freispruch/ Kachelmann-Anwalt tritt nach" (gestern 14.01 Uhr), der ähnlich ("Trotz Freispruch/ Kachelmann-Anwalt rechnet mit Richtern ab") auch bei SPON und sicherlich an vielen anderen Orten auftaucht, heißt es reicht weit unten:

"Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer hat sich auch nach dem Freispruch von Kachelmann an die Seite der früheren Freundin gestellt. 'Man muss auch Respekt vor dem möglichen Opfer haben', sagte Schwarzer, die den Vergewaltigungsprozess gegen den Moderator für die 'Bild'-Zeitung begleitet hatte, am Dienstag. Die Nebenklägerin habe 'sehr überzeugend dargelegt, dass sie vielleicht die Wahrheit gesagt habe'. Der Prozess habe gezeigt, dass Kachelmann 'nicht nur diese Frau gezielt manipuliert hat'. 'Er kommt nicht ins Gefängnis, es bleibt alles offen', sagte Schwarzer. 'Emma'-Verlegerin Schwarzer hatte während des Prozesses für die frühere Geliebte Partei ergriffen und war dafür auch in die Kritik geraten."

Die Bedeutung beinahe jeden Satzes bleibt hier unklar (und fördert so implizit die Erkenntnis von der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens). Das "mögliche Opfer" könnte lange nachdenken, was Schwarzer über es gesagt haben könnte. Schwarzer könnte aber auch etwas anderes gesagt haben und aus einem eventuell sinnvollen Zusammenhang gerissen worden sein. Definitiv wird sie, nachdem sie das oder Ähnliches gesagt hat, schon wieder soviel anderes zum Thema gesagt haben, dass es ohnehin egal ist. Mehr sagt sie bereits im unter dem Artikel eingebundenen Video. Selbstredend performte Schwarzer auch gestern abend in der ersten Talkshow nach dem Urteil, der von Sandra Maischberger. Was aber nicht heißt, dass sie nicht heute bei "Stern TV" auftreten würde.

[listbox:title=Artikel des Tages[Hanfeld plädiert (FAZ)##Bommarius plädiert (allgemeiner; BLZ)##Pohl plädiert (allgemeiner; TAZ)]]

In der großen Seite 3-Oper der Süddeutschen schlägt heute Hans Holzhaider gewaltige Bögen u.a. von Rückert und Friedrichsen ("Warum grübeln so renommierte Journalistinnen... vor der ZDF-Kamera nicht nur über den Prozessverlauf und die Beweislage, sondern auch über die Liebe als solche oder das, was Kachelmanns Ex-Freundinnen dafür hielten?") sowie sich selbst ("Warum kann man als Gerichtsreporter seit Monaten auf keine Grillparty mehr gehen, ohne ausführlich die jüngsten Wendungen im Kachelmann-Prozess erörtern zu müssen?") über Wolfgang Amadeus Mozart (Der "hätte seine Freude daran gehabt ... ... Und Alice Schwarzer hätte sicher gern den Komtur gegeben, der Kachelmann, wie Don Giovanni, als Strafe für dessen Sünden zur Hölle fahren lässt....") bis zum Dichter Volker von Törne, dessen Gedicht "Beim Lesen neuer Gedichte" er zititert. Daraus bezieht Holzhaider sein Schlussplädoyer:

"Das wäre wirklich nicht schlecht für alle Beteiligten: Wenn dieses Land in Sachen Kachelmann mal eine Zeitlang die Luft anhielte."

Dem wäre beinahe nichts mehr hinzuzufügen. Wenn nicht...


Altpapierkorb

...gestern und heute doch noch viel viel mehr zur Kachelmannsache publiziert worden wäre. Widerschein im Schnelldurchlauf: "Ebenso liefert der Fall Kachelmann gute Gründe, dass die Medien ihr Verhalten und ihre Rolle kritisch hinterfragen und aufarbeiten", sagte auch Bundespräsident Christian Wulff meedia.de-Chefredakteur Georg Altrogge im ambitionierten Versuch einer Zusammenschau aller Aspekte des Falles ("Warum die Medien versagten"). +++ Was nicht heißt, dass gestern nicht noch diverse weitere meedia.de-Artikel erschienen, darunter dieser mit Links zu weiteren Starjournalisten-Äußerungen, darunter von Rückert und Hans Leyendecker. +++ Stefan Niggemeier hat sich die Urteilsverkündung im Privatfernsehen angeschaut und fand Gelegenheit zu einem Seitenhieb gegen den "Medienbewohner Jo Groebel" (FAZ-Fernsehblog). +++

+++ Was sagt die Meteomedia AG, Kachelmanns Schweizer Wetterfirma? (sueddeutsche.de). +++ dwdl.de würdigt den Vorsitzenden Richter. +++ Was sagt ein "Imageberater", der "Top-Manager dabei" berät, "sich glaubwürdig als Marke zu inszenieren"? Interview mit Frank Dopheide bei handelsblatt.com. +++ "Es darf nicht sein, dass die Intimsphäre der Betroffenen bis in den letzten Winkel in aller Öffentlichkeit ausgebreitet wird", sagt CDU-Mann Siegfried Kauder (KSTA via EPD via Neue Osnabrücker Zeitung). +++ Endlich eine erste Frühkritik zu Schwarzer in der Maischberger-Show eingetrudelt (SPON). +++ Meanwhile bei Markus Lanz: Kachelmann-Anwalt Johann Schwenn (stern.de-Frühkritik, nein: Aufzeichnungs-Spätkritik). +++

+++ Günther Jauch hört mit Werbung auf. Sagte er "Dienstagabend in Frankfurt bei der Gesprächsreihe 'Zeit Campus Talk'" (KSTA) +++ Eines Tages werden "Touristen und Schulkinder" das RTL-Museum besichtigen können (TAZ). +++

+++ "Unaufhaltsamer Niedergang der journalistischen Unabhängigkeit" in Rumänien (TAZ). +++

+++ Das Leistungsschutzrecht kommt doch noch? Das meldet netzpolitik.org unter Berufung auf gut vernetzte adelige Brüder. +++

+++ Nachrufe auf Josef von Ferenczy (Süddeutsche, S. 15, SPON). +++

+++ "Ausgerechnet an Christi Himmelfahrt zeigt RTL eine Eventproduktion, in der die Arche Noah aus dem Alten Testament im Mittelpunkt steht" (Klaudia Wick, BLZ, über "Visus - Expedition Arche Noah". +++

Nach Christi Himmelfahrt gibt's am Freitag wieder neues Altpapier.
 

 

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