Schon heute das Altpapier vom Dienstag

Schon heute das Altpapier vom Dienstag

Der Spiegel kam extra früh, der Focus kam daraufhin noch extra früher, der Nannen-Preis wurde vergeben (wobei Ärger nicht ausbleibt), im ZDF läuft ein besonderer Film, selbiges startet den digitalen Kulturkanal, und Thomas Bellut hat nun überraschend doch noch einen Konkurrenten um den Posten des Intendanten bekommen

Altpapier vom Dienstag? Ist heute nicht Montag? Nun ja, Die Beschleunigung macht auch vor dem Altpapier nicht halt: Nachdem Der Spiegel Ende April angekündigt hatte sein E-Paper erst am Sonntagmorgen (statt am Samstagabend) bereitzustellen, erschien er keine zwei Ausgabe später schon am Samstag (E-Paper: Freitagabend) mit seinem Osama-bin-Ladens-Tod-Rekonstruktions-Titel. Der Focus wiederum schmiss daher schon am Freitag ein Extraheft über bin Laden zum Preis einer deutschen Vanity Fair-Ausgabe auf den Markt, umgerechnet etwa einer (großen) Kugel Eis.

Oder wie die SZ (S. 23) am Samstag kommentierend eine Meldung über die Verkaufszahlen der Printmedien abschloss: "In dieser Woche nun reagierten Focus und Spiegel beide mit eilig vorgezogenen Titeln auf den Tod Osama bin Ladens. Die Ratlosigkeit wächst."

Natürlich gibt es auch im Montags-Altpapier vom Dienstag Dienstags-Altpapier vom Montag Altpapier von heute wie immer das Programm der Medienseiten und Medienblogs vom Samstag, Sonntag und Montag – auf die Qualität bleibt Verlass, und die ist ja bekanntlich den Zeitungsverlegern zufolge das Wichtigste am Qualitätsjournalismus, wie der Arbeitskampf im Zeitungsgewerbe mal wieder beweist, siehe etwa Spiegel, S. 150f.: "(N)icht alle Zeitungen stecken in einer existenziellen Not, oft geht es den Verlagen nur darum, die Kosten zu drücken."

Und was gehört zu diesem Programm?

Viele Redaktionen thematisieren heute die Diskussionen rund um den Henri-Nannen-Preisträgertext bzw., genauer, den in der Reportage-Kategorie, benannt nach E&E Kisch, prämierten Text. Der Kisch-Preis wurde wie alle Nannen-Auszeichnungen (Pokal siehe Foto) am Freitagabend verliehen (hier alle Preisträger) und ging an René Pfister vom Spiegel für sein Horst-Seehofer-Porträt.

Das beginnt im Keller von dessen Ferienhauses in Schamhaupten, wo eine Eisenbahn stehe, "eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran". Der Stein des Anstoßes nun ist: Pfister war nie in diesem Keller. Hier bei evangelisch.de heißt es:

"Der Autor musste (...) auf Nachfrage von Moderatorin Katrin Bauerfeind eingestehen, dass er die Modellbahn im Keller von Seehofers Ferienhaus nie selbst gesehen hat. Seine bis ins kleinste Detail gehenden Beschreibungen beruhten auf Erzählungen des Politikers über sein Hobby. Diese journalistische Vorgehensweise sorgte beim Gala-Abend für kritische Diskussionen unter den rund 1.200 Gästen."

Der von epd zitierte Leiter der Evangelischen Journalistenschule, Oscar Tiefenthal, hält Pfisters Text jedenfalls "nicht für preiswürdig"; die Frankfurter Rundschau / Berliner Zeitung zitiert Jurymitglieder, die hinterher Ähnliches formulierten:

"Ein Reporter, der seine Leser täuscht und nur so tut, als sei er Zeuge dessen gewesen, worüber er schreibt, bekommt den Henri für die beste Reportage? Man sollte ihm den Preis wieder aberkennen, sagten Mitglieder der Jury danach."

Lorenz Maroldt sprach für den Tagesspiegel am Sonntag klare Worte: Dass dem Spiegel offenbar jeder zutraue, "einfach überall hinzukommen und dabei zu sein", sei für Redakteure wohl "Verpflichtung und Verführung zugleich".

"So kommen Texte zustande, bei denen Spannung und Sprache wichtiger genommen werden als redaktionelle Redlichkeit; so wird aus Hörensagen eine vermeintliche Zeugenschaft, aus Stil eine verharmloste Masche und aus Journalismus eine Hybris."

Das könnte im konkreten Fall Pfister durchaus auch ungerecht sein; als Aussage über die Branche darf der Absatz durchaus ihre Relevanz, also im Sinn von Denkanstoßfähigkeit, beanspruchen. Auch die taz wird Spiegel-kritisch: Die Glaubwürdigkeit

"von Pfister und seinem Arbeitgeber hat durch den Vorfall gelitten – es wu?rde dem so kritischen Spiegel gut zu Gesicht stehen, sich nun auch u?ber diesen Einzelfall hinaus in Selbstkritik zu u?ben."

Dieser Arbeitgeber hat aber, Stand heute, nur bedingt Bock darauf: Für den Tagesspiegel am Montag sprach Joachim Huber etwa mit Mathias Müller von Blumencron von der Spiegel-Chefredaktion, der indirekt und direkt zitiert wird:

"Mit einer erzählerischen Wiedergabe gelinge es viel besser, den Leser für ein Thema zu gewinnen, als mit einem reinen Rechercheprotokoll. Insgesamt 'gibt es ja keine Zweifel an der Richtigkeit seiner Schilderung – und es gibt keinen hinreichenden Grund, die überzeugende Leistung des Autors zu schmälern'. Blumencron wollte nur den Einwand gelten lassen, der Autor hätte deutlicher machen können, dass er selber nicht in Seehofers Keller gewesen sei."

Ähnlich argumentiert die Süddeutsche:

"Dass man das, was einem aus Erzählungen so vertraut ist, als habe man es erlebt, so aufschreibt, als sei es einem aus dem Erlebten vertraut, ist eine gewöhnliche Technik. Dossiers und politische Berichterstattung sind darauf angewiesen. Pfister hätte nur seine Position, seine Quellenlage anzeigen müssen. Das wäre leicht möglich gewesen."

Sie fragt aber noch etwas weiter: "Der authentisch wirkende Text ist keine klassische Reportage, sondern ein politisches Porträt." Insofern müsse "man fragen, warum die Jury das sicher treffende Politikerpsychogramm überhaupt so hoch bewertet hat? Die beste deutsche Reportage 2010 ist keine richtige Reportage."

[listbox:title=Artikel des Tages[René Pfisters Seehofer-Porträt (Spiegel 2010)##Gibt es eine Hybris des Spiegel-Reporters? (TSP)##Die Reportage des Jahres ist keine (SZ)##Jury verärgert (BLZ)##Dück an Digitalia (FTD)]]

Was wiederum die Frage aufwirft, was eine Reportage kann, soll, darf, nicht darf, möchte und gegebenfalls muss oder auch nicht muss. Eine Frage, die vor ziemlich genau einem Jahr schon einmal im Raum stand. Damals wurde, schau einer an, zufälligerweise auch just der Kisch-Preis vergeben.

Claudius Seidl, einer der Feuilleton-Chefs der FAS, kritisierte damals ein Merkel-Porträt Alexander Osangs (das nicht gewann, sondern nur nominiert war; siehe zu Seidls Kritik auch das Altpapier von damals – übrigens das erste, das bei evangelisch.de erschien, was die Formatierungsschwierigkeiten vielleicht entschuldigt). Also, Seidl damals:

"Toll geschrieben, denkt man sich, (...), es liest sich ja sehr flüssig bis zu dem Moment, in dem es dem Leser auffällt, dass der Autor sich die Freiheit nimmt, in nahezu jeden Kopf, der im Weg herumsteht, hineinzukriechen und von dort drinnen zu berichten, wie es sich so denkt und fühlt in diesem Kopf."

Jener Claudius Seidl ist es, der heute noch ein anderes Thema auf die Agenda setzt: die ZDF-Intendantenwahl. Seidl schreibt, er habe dereinst einmal beim ZDF nachgefragt, an wen man seine Bewerbung richten solle. Das ZDF habe Rückruf versprochen. Der sei nie gekommen, "und jetzt heißt die Nachricht: Thomas Bellut habe keinen Gegenkandidaten." Es folgt konsequenterweise Seidls Bewerbungsschreiben:

"Die Nebenkanäle werden abgeschaltet, die Gebühren deutlich gesenkt, das Publikum unter siebzig wird uns lieben. Ich bitte also um Ihre Stimmen bei der Wahl."

Schon weniger amüsiert Zeitung gelesen.


Altpapierkorb

+++ Im Fernsehen läuft heute nach Rezensentenmeinung ein Höhepunkt: Wie meist bespricht die FAZ (S. 29) auch heute den ZDF-Montagsfilm. Er heißt "Die Hebamme" und ist, so die FAZ, ein "Ausnahmefernsehfilm": Er "erzählt von einer Welt, in der sich Dorfobere und Pfarrer zusammentun, um Frauen auszuschalten – sei es, weil die Frauen zu selbständig sind wie Rosa Koelbl, sei es, weil sie ein unerwünschtes Kind erwarten. Die Geburt wird zu einem Moment, in dem Männer Zugriff auf das Leben einer Frau haben. Stellenweise ist das kaum zu ertragen" +++ Der Tagesspiegel nennt den Film "ein rundum gelungenes, unprätentiöses Historiendrama" +++ Die SZ (S. 13) schreibt von einem "engagierte(n) Sozialdrama" +++ Die Berliner urteilt: "ausgesprochen vielschichtig" +++

+++ Zurück zu den Öffentlich-Rechtlichen: Der neue Digitalkanal ZDFkultur, Nachfolger des Theaterkanals, startete – auch ein denkbarer Anlass für Seidls Text – am Wochenende. Für die Funkkorrespondenz schreibt Altpapier-Autor René Martens ausführlich über Programm und Idee und kritisiert am Ende: "Langfristig taugt es aber nicht als Strategie, das Hauptprogramm nur homöopathisch dosiert zu reformieren und sämtliche Inhalte, die das ältere Stammpublikum verschrecken könnten, in Nischenkanäle zu verfrachten. (...) Zum Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gehört mehr, als sperrige Kultur in Nischenkanäle auszulagern, die dann bestenfalls etwas mehr als ein Prozent Marktanteil erreichen (3sat) oder sogar trotz sehr langen Anlaufs knapp unter an der Ein-Prozent-Hürde verharren (Arte). Ein Vorwurf, den man natürlich auch der ARD machen muss." +++

+++ Sonstige Neuerungen: Das ZDF gestaltet bekanntlich "Mona Lisa" um, aber jetzt ist es tatsächlich so weit: "Die heutige Redaktionsleiterin, Sybille Bassler, ist von Anfang an dabei gewesen und freut sich nun, "dass wir ab 7. Mai für alle da sind". (...) "In einer Zeit, in der sich die Rollenbilder verändert haben, erscheint es uns sehr wichtig, beide Geschlechter anzusprechen" (BLZ vom Samstag http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2011/0507/medien/0024/index.html) +++ Die taz hat sich die erste Sendung angeschaut und leitsatzt: "Das ZDF hat ein Boulevardmagazin mehr: 'Mona Lisa'" +++ Die SZ widmet den Medienseitenaufmacher dem Betrugsfall beim Kika, die taz den tazzwei-Aufmacher +++

+++ Der Henri-Nannen-Preis für die "beste investigative Leistung" ging übrigens an Christine Kröger vom Weser-Kurier (hierfür), die vor genau einer Woche an dieser Stelle schon einmal auftauchte +++ Irre! Auch Axel-Springer-Preise derbe wegverliehen +++

+++ Digitalia: Günther Dück, ein Mann, der auf der re:publica ein Publikum fand, das ihm gerne zuhörte, hat seinen Konferenzvortrag über die Gesellschaft als Betriebssystem und die Professionalisierung der "Digital Natives" abgewandelt für die FTD verschriftlicht; anderswo gibt es Kritik am Mangel an Konkretem +++ Wolfgang Michal schreibt bei Carta, und das ist angesichts des bisher dort zum Thema Erschienenen, eine Erwähnung wert: "Ich begrüße also – anders Robin Meyer-Lucht – die Gründung der Digitalen Gesellschaft, auch wenn ich mir als ersten Schritt eine offene Interessenvertretung für digitale Prosumenten (Nutzer & Urheber), und erst im zweiten Schritt eine feine Lobby für Gesetzesnovellierungen gewünscht hätte. Das Erstere ist natürlich schwer zu erreichen (siehe die Entwicklung der Piratenpartei)." +++

+++ Bald im Fernsehen: der Eurovision Song Contest. Die FAS kümmert sich um LED-Leuchten, also der Light Emittin Diode, also der Leuchterei im Bühnenbild, und wie sie das Fernsehen "aufregender und einfallsloser machte" (Unterzeile) +++ Die Berliner blickt auf die Übertragugungswoche voraus +++ Und natürlich: "Toter singt für Island mit" (KSTA) +++ Nicht mehr im Fernsehen: Udo Lattek hört beim "Doppelpass" auf (TSP u.a.) +++

+++ Medienwatch: Ministerpräsident Georgios Papandreou sehe "offenbar keine andere Möglichkeit mehr: Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE überlegt seine Regierung, den Euro aufzugeben und wieder eine eigene Währung einzuführen", schrieb SpOn am Freitag. Michalis Pantelouris ist in seinem Blog über den Artikel entsetzt: "(I)ch bin fest der Überzeugung, Spiegel-Online muss irgendjemanden gehabt haben, der ihnen gegenüber tatsächlich behauptet hat, Griechenland erwäge, den Euro-Raum zu verlassen. Aber angesichts der Absurdität der Behauptung, der Tragweite der Konsequenzen der Veröffentlichung und der Tatsache, dass die Redaktion keine Quelle benennen kann, anhand derer sich ein Leser einen Eindruck von deren Seriosität machen kann, halte ich die Veröffentlichung für unvertretbar" +++

Das Altpapier stapelt sich ganz ganz schnell wieder. Morgen.

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