Wir zeigen jeden #Shit

Wir zeigen jeden #Shit

Happiness is a warm gun, hat aber manchmal Ladehemmung: Ein deprimierender Hashtag mit Türkei, Ungarn, NDR, KIKA und Dracula.

Ist leider nicht immer Sonntag, wenn die Zeit anhält und man sie nutzen kann, um sich Gedanken zu machen wie Teresa Bücker im "Stützen der Gesellschaft"-Blog von der FAZ.

Es hat nämlich ein Cambridge-Doktorand namens Alex Davies herausgefunden, dass Deutschland am glücklichsten twittert, was Davies in seiner "Twitter Happiness Map" anhand einer Hashtag-Untersuchung ausführt. An dieser, äh, Forschungsmethode gibt es Zweifel, wie Bücker darlegt:

"Was Davies quantitativ erhoben hat, leiten Twitteruser innerhalb ihres eigenen Netzwerkes intuitiv an der gefühlten Betriebstemperatur anderer ab, jedoch werden Emotionen in jedem Gesprächszirkel innerhalb von Twitter anders codiert und nicht ausschließlich über die Worte, die Davies indiziert hat. Denn an einem sonnigen Sonntag über einen Sonntag im Sommer zu lesen produziert beim Leser eher ein 'me too'-Gefühl, als eine Einschätzung für die Stimmung des anderen."

Natürlich begegnet man solchen Untersuchungen skeptisch, so wie man auf jene Umfragen, dass die "glücklichsten Deutschen" in Osnabrück lebten, auch nur reagieren mit: Und?

Bücker – wenn so viel "Einschätzung für die Stimmung des anderen" gestattet ist – geht es aber gar nicht um Davies, sondern um ein bisschen sonntägliche gute Laune, küchenpsychologisch gesprochen um ein wenig Erlösung von den typischen Beschreibungen der Internetschlechtigkeiten dieser Welt.

Heute ist nun aber Dienstag, und deshalb müssen wir leider die "Happiness Map" ein wenig versauen mit krassen Hashtags im Analog-Twitter, die auf die Laune drücken. Da wäre etwa

#Türkei

Gleich drei Texte unterschiedlicher Stoßrichtung und Provenienz zeichnen ein trübes Bild der Lage im Land. Die FAZ stellt einen Text von Emine Ülker Tarhan online, die ihren Job als Oberste Richterin quittiert hat und in die Politik geht, weil die Verhältnisse so sind:

"Wir wurden Zeugen, die das noch unveröffentlichte Buch des verhafteten Reporters Ahmed Sik "Das Heer der Imams" (über die islamistische Fethullah-Gülen-Bewegung, Anm. d. R.), vernichtet wurde. Jeder, der eine Kopie besaß, wurde für schuldig befunden. Soweit ich weiß, wurde in Europa das letzte Mal ein Buch während des Nationalsozialismus verbrannt. Es scheint, als ob es bei uns wieder dazu kommen könnte."

Der Trost, den der Tagesspiegel angesichts des Neuanfangs der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" spendet, ist eher untröstlich:

"Nur sieben Tage nach dem ersten Erscheinen des Blattes im Mai 1992 wurde der erste Reporter von 'Gündem' ermordet. Bis die Zeitung zwei Jahre später wegen Nähe zu den kurdischen PKK-Rebellen verboten wurde, starben mehr als 70 Mitarbeiter. Selbst Zeitungsjungen wurden erschossen."

Jetzt kommt der Trost:

"So schlimm wie früher seien die Bedingungen nicht mehr, sagte Aykol – wobei 'Verbesserung' ein relativer Begriff ist: 'In den letzten Jahren ist nur einer unserer Leute umgebracht worden', sagte Aykol, ohne eine Miene zu verziehen."

Cigdem Akyol schließlich berichtet in der Berliner über den zwiespältigen Erfolg der türkischen Fernsehserie "Muhtesem Yüzyil" ("Das prächtige Jahrhundert") über den größten Sultan aller Zeiten, Süleyman I.:

"Zu sehen sind lange Kussszenen mit der Geliebten, der Sultan wirft Roxelane auf sein Bett, sie schmiegt sich an seine nackte Brust. Hin und wieder metzelt Süleyman einen Gegner mit seinem Krummsäbel nieder. Szenen, die Nationalisten nicht auf dem Bildschirm sehen wollen. Mitglieder der radikalislamischen Tugendpartei des ehemaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan demonstrierten mit Trommeln und in historischen Gewändern vor der Zentrale des Senders Show-TV und skandierten: 'Brecht die Hände derjenigen, die es wagen, die Osmanen anzurühren.'"

Noch trostloser:

#Ungarn

Auch da wurde demonstriert, nämlich vor der Veranstaltung des TAZ-Freitag-Kongresses zur Meinungsfreiheit in Ungarn. Was Ungarn davon zu sehen bekommt via Staatsfernsehen, das dort MTV heißt, berichtet in der TAZ Gergely Marton:

"Die Selbstdarstellung einiger weniger wurde die Hauptnachricht, interviewt wurden die Demonstranten und nicht Frau Heller oder gar die Organisatoren der Konferenz. Außerdem wurden Aussagen von Heller und Tamás teilweise auch noch entstellt wiedergegeben. Der private rechtsradikale Kleinsender Echo TV erzählte die Geschichte ganz ähnlich, nur war er etwas mutiger, Heller etwas in den Mund zu legen, das sie gar nicht gesagt hatte. Viele regierungstreue Medien übernahmen die Lesart."

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte einem immerhin noch

#Ironie

einfallen. Aber die hat es Zeiten solcher Regression ins Verdummende irgendwie schwer. Relativ eindeutig lässt sich Ironie folglich nur noch in der Zuschauerhaltung gegenüber der ZDF-Bildungsauftragsarbeit "Dracula – Das Vermächtnis des Grafen" (heute, 20.15 Uhr) behaupten, die irgendwas mit dem Vampir-Hype dieser Tage zu tun haben will. Max Büch in der TAZ:

"Durch intensive Recherchen hat der Sender ein paar Totengräber in Rumänien aufgetan, von denen einer 'erstmals für das ZDF vor der Kamera' berichtet, wie er einem Leichnam das Herz herausgeschnitten und verbrannt habe."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Türkei: Trostloser Trost (TSP)##Türkei: Streit um den Sultan (Berliner)##NDR: Schiffstaufe als Butterfahrt (FAZ-Blog)##KIKA: Geheimer Revisionsbericht (SZ)##]]

Der NDR muss sich derweil um andere Sachen kümmern, eine neues Aida-Schiff ist fertig und wird derart breit durch den Ems-Kanal des Öffentlich-Rechtlichen gezogen, dass schon Stefan Niggemeiers Aufzählung der Sendeanteile im FAZ-Fernsehblog ausreicht, um den um Qualität besorgten NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz ("Wir zeigen nicht jedes neues Schiff") nicht mehr beim Wort nehmen zu können.

"Am Tag danach informierte das NDR-Mischmagazin 'DAS!' dann die überregionale Öffentlichkeit über den Rekord mit dem größten Wellnessbereich. Der Filmbericht begann mit den Aufnahmen, wie jemand das Schiff fotografiert, und dem Satz: "So einen properen Täufling fotografiert man doch gern.'"

Eigentlich müsste jetzt ein neues Hashtag her, um die Ermittlungen über die Machenschaften beim KIKA zu labeln. Wir vermuten mal, dass trotz des geheimen Revisionsberichts, dessen "dunkle Details" Christiane Kohl in der SZ kennt –

"...unterdessen wurden von Seiten des ZDF jetzt schwere Vorwürfe gegen den einstigen Programmgeschäftsführer des Kika laut, den heutigen Fernsehdirektor beim NDR, Frank Beckmann. .... Darin heißt es, dass Informationen über die Glücksspielleidenschaft von Marco K. schon zu Zeiten Beckmanns, der von 2000 bis 2008 dem Kindersender vorstand, 'nachweislich die Leitungsebene des Kika erreicht' hätten. Entsprechend habe es hinreichend Veranlassung gegeben, diesen 'fundierten Gerüchten' nachzugehen. Beckmann sagte dazu, er habe 'in keinster Weise einen Verdacht schöpfen können'"

–, das Urteil am Ende auf

#Marco K.

und damit auf

#Einzelfall

lauten wird.

Und das bei der Sonne.

#Seufz.


Altpapierkorb

+++ Liest der Davies ja eh nicht. Also zurück zum Schlagwort. "Ost-Legenden" ist jedenfalls kein Titel, unter dem man sein Leben im RBB erzählt bekommen will, selbst wenn man "Domröse und Thate" heißt, als Schauspieler in der DDR populär geworden ist und als Ehepaar runde Geburstage feiert. Darauf geht Torsten Wahl in der Berliner ein: "Mit diesem Titel sind die beiden nicht besonders glücklich. Bei der Vorpremiere im Kino Babylon nannte Thate den Titel einfach 'doof', während Angelica Domröse schon die Frage von Moderator Knut Elstermann, ob sie sich als Ost-Schauspielerin fühle, 'beknackt' fand." +++ Katja Hübners Rezension im Tagesspiegel lebt dagegen eher von unschuldiger Betrachtung: "Der Film über das berühmteste Schauspielerehepaar des Ostens lebt von einer unschuldigen Betrachtung." +++ Wer sich einen Begriff vom nachträglich applizierten Glamour zu seinen realen Lebzeiten machen will, kann hier nachlesen. +++

+++ Auch so ein Label: "Das war spitze! Jüdisches in der deutschen Fernsehunterhaltung" heißt eine Ausstellung in München, die FAZ (Seite 33) und SZ besprechen. FAZ: "Was ist eigentlich 'das Jüdische'? Diese Frage wird nicht wirklich greifbar, diese Frage umfassend zu beantworten, das ist wohl schlicht nicht möglich." +++ SZ: "Eine umfassende Darstellung kann die Schau nicht leisten, sie beschränkt sich auf zehn Komplexe, von denen manche eher anekdotisch bleiben." +++ Interessante Deutungen der Versöhnungsarbeit von Hans Rosenthal finden sich hier (ein bisschen scrollen): "Es gab in den Siebzigern eine Sendung, 'Was wäre wenn', da haben Promis von dem Beruf erzählt, den sie hätten ergreifen wollen oder sollen. In einer Sendung war Rosenthal zu Gast, der Fußballer werden wollte. Und er steht da in einem blau-weiß gestreiften Hertha-Hemd. Blau-weiß gestreift! Warum er das nicht werden konnte, blieb in der Show undeutlich – aber es war klar, dass man das nicht groß bespricht. 'Es war nicht okay damals, aber wir machen zusammen weiter, wir können nur was werden, wenn wir zusammen weitermachen.'" +++

+++ Nachrufe auf den Interviewer André Müller finden sich hier und hier. +++ Skepsis gegenüber dem Florian-Illies-Nachfolger an der Spitze des Zeit-Feuilletons hier. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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