Revolutionsstimmung hier, Untergangsstimmung dort

Revolutionsstimmung hier, Untergangsstimmung dort

Große Kongressthemen, Recherchewerkzeuge, Zukunftsmythen, Trauerreden und Yummy Mummies stehen heute im Zentrum der Medienberichterstattung.

Grundsätzliches geht immer, jedenfalls als Thema für Medienkongresse. Das gilt auch für die Veranstaltung „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“, die an diesem Wochenende in Berlin stattfindet. Warum der Kongress, organisiert von der taz in Kooperation mit dem Freitag, heißt, wie er heißt, erläutert deren Chefredakteur Philip Grassmann im Interview mit meedia

„Wir befinden uns (...) mitten in einer medialen Revolution. Das Internet hat uns mehr Transparenz, mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten zur Information und Kommunikation gebracht. Das ist die eine Seite dieses Umbruchs. Die andere Seite ist: weniger Datenschutz, Ausspähsoftware, Mobbing, mehr Überwachungsmöglichkeiten. Das habe ich mir so nicht vorgestellt.“

Bei freitag.de findet sich dieser Grundsatzartikel zum Kongress. Die taz umreißt das Spektrum der Themen und klopft sich dabei auch ein bisschen selbst auf die Schulter

„Durch die technischen Fähigkeiten zur Datendigitalisierung ist die mediale Welt eine krass andere geworden. Mail und Mobiltelefon sind in weiten Teilen der Welt gewöhnliche Bestandteile der Kommunikation geworden - und zwar auch diese in globaler Hinsicht. Nichts kann mehr auf ewig verschlossen, verborgen, geheimnisvoll bleiben. Die Medienrevolution ist eine, die auch politisch Gutes verhieß. Aber ist das wirklich der Fall geworden? Ist die Medienkrise, das Zeitungssterben beispielsweise in den USA, wirklich eine fatal hinzunehmende Entwicklung? Oder ist sie notwendig gewesen - ein technisches Sterben, wie so viele Dinge durch Revolutionen überholt waren? Eine Medienkrise, die die taz als genossenschaftlich organisierte und unterfütterte Zeitung, unbeschadet überstanden hat -  ein Rezept für die Branche schlechthin?" 

Den Eröffnungsvortrag hält heute Abend Evgeny Morozov, ein erfrischender Rechthaber, der die Bedeutung, die Facebook, Twitter und Co bei den politischen Umbrüchen der jüngeren Vergangenheit gemeinhin beigemessen wird, für überschätzt hält. „Revolution, Demokratie, Utopie: Vom Internet übermittelt?“ lautet der Titel des Vortrags, und ohne sein Manuskript zu kennen, gehen wir davon mal aus, dass er Ähnliches erzählen wird in diesem Interview. Auf einem der Podien am Samstag hockt der frühere Wikileaks-Co-Trainer-Sprecher Daniel Domscheit-Berg, mit dem die taz vorab gesprochen hat.

Widmen wir uns den alltäglichen Details der „Revolution“: Zeit Online hat mitgewirkt an Influence Networks (siehe Abbildung), einem „Recherchewerkzeug“, das „weltweit Beziehungen, etwa zwischen Politikern und der Wirtschaft“ aufzuzeigen in der Lage ist:  

 „Umgesetzt wurde es von der Datenjournalismusagentur OWNI aus Frankreich. Deren Mitarbeiter Nicolas Kayser-Bril sagt: ‚Alle grundlegenden Informationen entnehmen wir der großen Datenbank Freebase.‘ In dieser sind knapp zwei Millionen Menschen eingetragen und sehr viele Industrieunternehmen und Verbände. ‚Was wir ermöglichen”, sagt Kayser-Brill, ‚ist den Grad und die Art der Beziehungen zwischen den dort eingetragenen Personen und Firmen sowie Verbänden zu dokumentieren."

[listbox:title=Artikel des Tages[Neues Recherche-Tool (Zeit Online)##Fünf Mythen (WaPo)##Beck weg (SZ)]]

Auch bei der Washington Post hat die Zukunft längst begonnen: The Atlantic berichtet über ein Team von Programmierern, das zum journalistischen Mehrwert des Online-Angebots beiträgt, indem es interaktive Karten erstellt oder innerhalb weniger Stunden eine App bastelt, die russischsprachige Tweets übersetzt. Die Post höchstselbst räumt mit derweil mit „fünf Mythen zur Zukunft des Journalismus“ auf. Das dürften auch einige alte Kameraden des Verlagsgeschäfts, denen das ganze Revolutionsgequatsche auf den Senkel geht, mit einer gewissen Freude zur Kenntnis nehmen. Denn, so schreibt hier Tom Rosenstiel vom Pew Research Center’s Project for Excellence in Journalism unter anderem: Den Zeitungen geht es gar nicht so übel.

„Actually, print circulation worldwide was up more than 5 percent in the past five years, not down, and the number of newspapers is growing. In general, print media are thriving in the developing world and suffering in rich nations. Print newspaper ad revenue, for instance, rose by 13 percent in India and by 10 percentin Egypt and Lebanon in the last year for which data is available. But it fell by 8 percent in France and 20 percent in Japan.“

Gar keine Zukunft hat nach Einschätzung nicht weniger Beobachter die Frankfurter Rundschau. Die Süddeutsche war bei den Protesten der FR-Redaktion gegen die Sparpläne der Verlagsmanger vor Ort. Marc Widmann hat „Untergangsstimmung“ gespürt. Ein Redakteur wird zitiert mit den Worten: „Man kann davon ausgehen, dass es in zwei Jahren endgültig vorbei ist.“ Widmann weiß auch, dass sich Herausgeber Alfred Neven Du Mont über „derlei Trauerreden“ ärgert (S. 15). Die FAZ berichtet über die Dauerkrise beim Lokalrivalen auf Seite 37, wobei die Headline ganz im Sinne der FR-Mitarbeiter sein dürfte: „Die Redaktion ist keine Lämmerherde.“

Mit der programmlichen Zukunft von YouTube beschäftigt sich der Tagesspiegel, Anlass ist unter anderem die Veranstaltung „Wie werde ich Youtube-Star?“, die am Mittwoch in Berlin „400 Talente“ anlockte. Zur Sprache kommen auch die Pläne der Plattform, Kanäle für „professionell erstellte“ Inhalte einzurichten.


Altpapierkorb

+++ „How much of a role does the media play in shaping the discourse of international diplomacy?“ fragt Al Jazeera in einem Beitrag, der mit der Berichterstattung über die Elfenbeinküste ins Gericht geht. Die überwiegend nach der „Good guy vs. bad guy“-Masche gestrickten Beiträge würden der Komplexität der Lage im Kriegsgebiet nicht gerecht.

+++ Das Feuilleton der FAZ (S. 33) nimmt ausführlich die nicht mehr unabhängig zu nennende Jusitz in der Türkei ins Visier. In Emine Ülker Tarhans Text geht es unter anderem um die Behinderungen der Pressefreiheit: „Der Polizeistaat steht nicht nur vor unserer Tür, er hämmert mit dem Rammbock dagegen (...) Wir wurden Zeugen, wie das noch unveröffentlichte Buch des verhafteten Reporters Ahmed ?ik, ‚Das Heer des Imams‘ (über die islamistische Fethullah-Gülen-Bewegung, Anm. d. R.), vernichtet wurde. Jeder, der eine Kopie besaß, wurde für schuldig befunden. Soweit ich weiß, wurde in Europa das letzte Mal ein Buch während des Nationalsozialismus verbrannt. (...) Die Meinungs- und die Pressefreiheit wird mit Füßen getreten, obwohl diese eigentlich durch internationale Abkommen und die Verfassung geschützt sein sollte.“

+++ Ergänzend zur hier zu Lande in den letzten Tagen mal wieder hochkochenden Debatte über den Einfluss von Werbekunden auf redaktionelle Inhalte, sei auf eine Geschichte mit letztlich dann doch irgendwie glücklichem Ende hingewiesen, die das American Journalism Review aufgegriffen hat: Bei der Detroit News kündigte kürzlich ein Autoredakteur, nachdem ein vermeintich allzu negativer Text auf Initiative eines Anzeigenkunden entschärft worden war. Nachdem sich die Zeitung großflächig entschuldigt hatte, entschied sich der Kollege, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.

+++ Zum TV-Programm: Am meisten Resonanz findet „8 Uhr 28“, ein „Beziehungsdrama“ mit „Nadeshda Brennicke als unausgefüllter Galeristin“ (Tagesspiegel). Wobei die Figuren bereits raus sind „aus dem Alter, in dem man seine Partner wechseln kann, ohne größere Umbaumaßnahmen am ganzen Leben vorzunehmen“ (FAZ, S. 37). Die Berliner halten den Film für missglückt, die Frankfurter für halbgut. Außerdem für Freunde deutscher TV-Fiction: „Frischfleisch“, ein neuer Film aus der Reihe „Wilsberg“ (heute bei ZDF neo, morgen beim Mutterschiff). Als Entschädigung dafür, dass die heutige Altpapierkolumne, als an den vergangenen beiden Tage, keinen Songtitel als Überschrift hat, seien - mit Verweis auf Rainer Tittelbach, den heimlichen Poppapst unter den TV-Kritikern - die Songs erwähnt, die in dem Krimi vorkommen. Sie stammen von Stretch („Why did you do it"), James Brown („Sex Machine“), Davis Guetta feat. Kelly Rowland („When loves take over“), Katy Perry („California Girls“), Barry White („Can’t get enough of your love, baby“) und Beverley Knight („Queen of starting over“)

+++ Besser wird jetzt das Fernsehen in den USA, weil der rechte Rabauke Glenn Beck künftig nicht mehr bei Fox News zu sehen sein wird. Unter anderem die taz und die Süddeutsche berichten über den Bildschirm-Abschied von „Amerikas krassester und polarisierendster Medienfigur“ (ebendort). 

+++ Neue Zeitschriften: Im Freitag (S. 14) warnt Katrin Schuster davor, sechs Euro für einen 146 Seiten dicken Papierstapel namens Leselust auszugeben. Die Zeitschrift enthalte „kein einziges Wort über Literatur“. Ebenfalls 146 Seiten stark (und höchstwahrscheinlich ohne ein einziges Wort über Literatur): Gruner + Jahrs Gala Kids, „ein Heft für all diejenigen, die wissen, dass zu jeder glücklichen Mutter auch ein gut angezogenes Kind gehört“ (Süddeutsche). Es biete „Einkaufshilfe für hip-neureichen Jungmütternachwuchs“, meint die taz. Die Blattmacher bezeichnen ihre Zielgruppe selbst als Yummy Mummies. Das Beinahe-Synonym Milf war den G+J-Leuten wohl zu explizit. Dem Blog Klatschkritik ist noch aufgefallen, dass Väter in Gala Kids „so gut wie unberücksichtigt bleiben ... Eine Vater-Sohn-Modestrecke ist bestimmt genauso sehenswert wie eine Mutter-Tochter-Modestrecke. In jedem Fall wäre es mal was Neues.“

Das Altpapier stapelt sich wieder am Montag.

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