Ein Minister als Button-Held, Schmerzensgeld für bespitzelte Journalisten und ein „halbwegs honoriger Rückzieher“ in Sachen AKW-Desasterberichterstattung stehen heute im Blickpunkt.
Rainer Brüderle, unser offenherziger Bundeswirtschaftsminister, ist der aktuelle Medienliebling. Die launige Metapher „Störfall“, die zumindest für Politiker noch einige Zeit en vogue bleiben dürfte, wird beispielsweise gern genommen. stern.de, normalerweise kein Hort der Witzigkeit, hat sich durch die Äußerung, das Moratorium der AKW-Laufzeitverlängerung sei ein Wahlkampfmanöver, sogar zu einem Brüderle-Ja-bitte-Button inspirieren lassen.
„Brüderles Wahltaktik-Bekenntnis“ sei auch das „Leitmotiv“ der „Elefantenrunde“ gewesen, die anlässlich der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg am gestrigen Donnerstag im SWR Fernsehen zu sehen war, schreibt süddeutsche.de in einer Nachtkritik. Brüderles Parteifreund, Justizminister Ulrich Goll, versucht dort wohl vergeblich etwas zu retten:
„Goll soll Stellung nehmen zu dem vermeintlichen Fauxpas seines Parteifreundes. Er sagt, die Äußerung Brüderles sei ‚so womöglich gar nicht gefallen‘. Als ihn ein Teil des äußerst meinungsfreudigen, offenkundig mit Parteigängern jeder Couleur besetzten Publikums höhnisch auslacht, schiebt Goll beleidigt hinterher: ‚Einige nehmen es mit der Wahrheit nicht ganz so genau.‘“
Das japanische AKW-Desaster hat mittelbar nicht nur schwer wiegende Folgen für Rainer Brüderle, sondern auch für Fans der „Simpsons“, wie Sonja Pohlmann im Tagesspiegel darlegt. Auf eine Kernschmelze im AKW Springfield mit Sicherheitsinspektor Homer Simpson müssen sie in diesen Zeiten verzichten:
„Solche Szenen aus der Serie ‚Simpsons“ werden im deutschsprachigen Fernsehen vorerst nicht mehr zu sehen sein. Sowohl der deutsche Privatsender Pro Sieben, als auch das Schweizer Fernsehen (SF) und der Österreichische Rundfunk (ORF) haben angesichts der Katastrophe in Japan beschlossen, Folgen der US-Comicserie aus dem Programm zu nehmen, die von Atomunfällen handeln.“
Werden in japanischen AKWs Obdachlose für besonders gefährliche Arbeiten eingesetzt? Generell ja, aber ob es die berüchtigte Betreiberfirma Tepco derzeit in Fukushima tut, weiß man wohl nicht ganz genau. Michael Hanfeld knöpft sich in der FAZ (S. 39) den ARD-Korrespondenten Robert Hetkämper vor, weil der den Eindruck erweckt habe, er wisse es:
„In einem Gespräch mit tagesschau.de (auf das er uns hingewiesen hat) erwähnt er, dass das ARD-Studio Tokio ‚vor vielen Jahren‘ über Obdachlose in Tokio berichtet habe, die erzählten, sie seien ‚für gutes Geld‘ angeheuert worden, um Kernkraftwerke zu reinigen. ‚Da sind offenbar auch viele erkrankt. Das wussten wir. Wofür wir am Ende keine Bestätigung bekommen haben, ist, dass bei Tepco in diesem Kernkraftwerk in Fukushima tatsächlich Arbeitslose oder Obdachlose beschäftigt waren zu diesem Zeitpunkt.‘ Das ist ein halbwegs honoriger Rückzieher.“
Zu den Aufregern der Stunde gehört auch der Sat-1-Film "Marco W. - 247 Tage im türkischen Gefängnis" - zumindest in der Türkei. Das „Knastdrama“ habe die türkischen Medien in einen „Marco-Schock“ versetzt, so Spiegel Online. Das sei „problematisch für den Sender Sat 1, wo man sich doch gerade über die Top-Quote des Eventmovies freute“. Möglicherweise freuen die sich bei Sat 1 aber auch über die ungewohnte internationale Aufmerksamkeit. Ein nachhaltiger Aufreger sind dagegen die Betrügereien beim Kinderkanal: Das Wesentliche, was man derzeit wissen muss über die Causa, hat die Funkkorrespondenz aufgeschrieben: Erwähnt werden Programmgeschäftsführer Steffen Kottkamp („wegen mangelnder Ausübung seiner Kontrollfunktion“ abgemahnt) und eine Mitarbeiterin aus der Kika-Herstellungsleitung, die „wie der MDR gegenüber der FK erklärte, ‚in einer Vielzahl von Fällen durch die Sachlich-richtig-Zeichnung von Rechnungen ohne Prüfung gegen eine Direktionsanweisung verstoßen“ habe. Derzeitige Bilanz der Affäre: „Die Staatsanwaltschaft Erfurt ermittelt aufgrund der Machenschaften beim Kika derzeit gegen insgesamt neun Personen wegen des Verdachts auf Betrug, Untreue oder Beihilfe zur Untreue.“
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Auch weiterhin ein Thema: die Bespitzelungen von Journalisten durch die Telekom. Hans Leyendecker berichtet in der Süddeutschen über Schmerzensgelder für betroffene Journalisten, insbesondere den früheren Capital-Redakteur Reinhard Kowalewsky:
„Die Schnüffel-Attacke, die mit der anonymen Zahl von rund sechzig Opfern verbunden ist, wird vermutlich als 'Telekom-Affäre' in die Skandalchroniken eingehen, aber ohne die Geschichten des Journalisten Kowalewsky hätten vermutlich Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung des Konzerns die monströsen Überwachungsaktionen nicht inszeniert. Mit Kowalewsky, der heute für die Rheinische Post arbeitet, fing die Affäre an - und mit ihm geht sie jetzt allmählich zu Ende. Der Konzern und der Journalist haben sich auf die Zahlung von Schmerzensgeld geeinigt. Die Summe ist nicht genau bekannt. Die Beteiligten haben Stillschweigen vereinbart. Aber aus Telekom-Kreisen sickert durch, dass der Betrag 'erheblich' über 30 000 Euro liegen soll.“
Altpapierkorb
+++ Recht ausführlich hat sich dwdl.de mit Torsten Rossmann, dem Geschäftsführer von N 24, darüber unterhalten, was das kleine Nachrichtenhaus künftig alles vorhat. Der Chef erwähnt einige neue Programmformate, etwa Thementage „zum 50-jährigen Jubiläum der bemannten Raumfahrt“ sowie „zu 9/11, 40 Jahren Greenpeace und 100 Jahren Südpol-Eroberung“. Darüber hinaus droht ein „neuer gesellschaftspolitischer Talk“ namens „Deutschland akut“.
+++ Hat sich der Spiegel sich durch die deutschland-exklusive Zusammenarbeit mit Wikileaks eine Monopolstellung verschafft, die mit dem Pressekodex nicht in Einklang zu bringen ist? Mit dieser Frage hatte sich aufgrund der Beschwerde einer Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti der Presserat zu befassen. Die Antwort der Pressewächter: Nein. „Der Kodex kann einem Informanten – hier Wikileaks – nicht vorschreiben, dass er sich mit seinem Material an mehrere Redaktionen wenden muss“, heißt es. „Dass der Spiegel dieses Angebot – wie auch die anderen Zeitungen im Ausland – angenommen hat, kann man der Zeitschrift nicht vorwerfen.“ Noch ein Wikileaks-Thema, aber von einer anderen Baustelle: Das erste Buch über den mutmaßlichen Wikileaks-Informanten Bradley Manning ist in Auszügen bei The Nation zu lesen. Der Freitag widmet Manning eine komplette Seite, der Text stammt von David Leigh, dem Chefreporter des Guardian.
+++ Außerdem im Freitag: ein „Medientagebuch“ (S. 18), das den Start der zweiten Staffeln von „Danni Lowinski“ und „Der letzte Bulle“ bei Sat 1 zum Anlass für ein paar recht grundsätzliche Worte nimmt: „Serien? Können doch die Deutschen nicht. So lautet eines der ödesten Statements, das stets mit einem Fingerzeig in Richtung USA“ garniert werde, meint Katrin Schuster.
+++ Sehr, sehr warme Worte hat Rainer Tittelbach, einer der führenden TV-Fiction-Exegeten der Republik, für den Degeto-Film „Liebe am Fjord - Das Ende der Eiszeit“ mit Senta Berger übrig: „Der dritte Film aus der Reihe ‚Liebe am Fjord‘ ist gut fotografiert, vermittelt viel von der Aura seiner Schauplätze, die Landschaft spiegelt also nicht nur wie im guten Melo das Innenleben der Figuren, die Landschaft macht auch etwas mit ihnen.“ Fazit: „Ein Melo-Drama ohne einen einzigen störenden Dialog – das ist ein kleines Wunder!“ (tittelbach.tv) Im Tagesspiegel hievt Tittelbach das Sujet auf die Meta-Ebene: Das Melodram sei ein Genre, „das es bei der Fernsehkritik schwer hat. Ein Grund dafür ist die ignorante Art, mit der ARD und ZDF in den letzten Jahren dieses Genre mit großer deutscher Tradition – Sirk, Käutner, Fassbinder – heruntergewirtschaftet haben. Ein anderer Grund: Gefühle sind nicht die Stärke der Fernsehkritik.“ Oder, um eine bekannte Redensart abzuwandeln: Fernsehkritiker können ihre Gefühle nicht zeigen. Die Worte „Fassbinder“ und „Degeto“ sehr nahe beieinander in einem Text unterzubringen, ist im übrigen durchaus preisverdächtig. Daher verleiht das Altpapier dem Kollegen hiermit den frisch geschaffenen Rainer-Werner-Jurgan-Preis.
+++ Einer anderen Spielart des melodramatischen Fernsehens widmet sich die Jungle World (S. 6/7): der türkischen Soap „Was hat Fatmagül verbrochen?“, „in deren Mittelpunkt eine vergewaltigte Frau steht“. „Ein Drittel aller türkischen Zuschauer“ schauten jeden Donnerstag zu, schreibt die Wochenzeitung. 2.000 von ihnen protestierten bei der zuständigen Fernsehaufsichtsbehörde wegen einer regelmäßig im Rückblick wiederholten Vergewaltigungsszene - mit Erfolg.
+++ Wer ein Faible für Bildungsfernsehen hat, der freut sich wahrscheinlich über „Die Akte Kleist“ (Montag bei Arte). Die Funkkorrespondenz schwärmt: „Ob Heinrich von Kleist als verfolgter Spion, als im ungeliebten Preußen gestrandeter Autor oder der an der eigenen Libido verzweifelnde Mann war, das lässt diese hervorragend inszenierte Doku-Spiel-Montage mit Nina Hoss als Sprecherin offen. Kleists Akte birgt dabei noch manches Rätsel, aber immerhin weiß man jetzt etwas mehr. ‚Die Akte Kleist‘ ist indessen ein sehr gutes Literatur-Doku-Kunststück, eine Kleist-Erhellung. Und – mit diesem großartigen Anspruch nicht nur der Spielszenen – ist diese Produktion ein willkommener Ausbruch aus dem braven Genre-Betrieb der semifiktionalen Herstellungen.“
+++ War eigentlich in den 70er-Jahren irgendwas besser? Naja, zumindest die öffentlich-rechtliche Komikproduktion, sowohl im Fernsehen als auch insbesondere im Radio. Das Monatsmagazin konkret preist in seiner April-Ausgabe (S. 59) die von Robert Gernhardt und Pit Knorr erbrachten Pionierleistungen, seinerzeit zu hören und zu sehen im Hessischen Rundfunk. Material aus unter anderem „Help! Ein satirisches Aushilfsmagazin“ und „Dr. Seltsams Sonntags-Sortiment“ findet sich nun auf 3 CDs versammelt: „Eine komische Spielfreude, eine anarchische Lust am Ausprobieren, (...) eine befreiende Albernheit, (...) die kulturelle, soziale und politische Konventionen verkasematuckelt (...): Daran sollten sich die meisten Darsteller von Bühnen, Radio und Fernsehkomik ein Beispiel nehmen, statt humoristisch das Bestehende erträglich zu machen.“
+++ Radiokunst von heute: Die FAZ wartet mit einem Rückblick auf en in diesem Jahr zum 60. Mal verliehenen Hörspielpreis der Kriegsblinden zurück (S. 39). Die Süddeutsche würdigt das „Hörspiel „Veit“, das auf Thomas Harlans letztem Text basiert. Es handelt sich dabei um einen Brief an den verhassten Vater, den antisemitischen Filmregisseur Veit Harlan. Thomas Thieme spricht den Monolog.
+++ Am Sonntag beginnt in Frankfurt das Symposium „Axel Springer – Juden, Deutsche und Israelis“. Zur Debatte steht „ein unglaublich ambivalentes, kontroverses und spannendes Thema“, wie es aus dem Fritz-Bauer-Institut heißt, das die Veranstaltung organisiert. Die Jüdische Allgemeine blickt voraus: „Diskutiert werden sollen bei dem Symposium Fragen wie das Neben- und Miteinander von remigrierten Juden und ehemaligen Nazis in der Führungsetage des Verlagshauses, die Rolle der Bild-Zeitung bei der pro-jüdischen Positionierung des Verlages damals und heute, der mögliche Zusammenhang zwischen Springers Antikommunismus, seinem Eintreten für Israel und dem offiziellen Antizionismus der DDR.“ Auf dem Podium hocken unter anderem Thomas Schmid (früher gegen Springer, heute bei Springer) und Daniel Cohn-Bendit.
+++ Neues vom Magazinmarkt: Google hat jetzt ein E-Magazin namens Think Quartely am Start (Einschätzungen hier und hier). Ebenfalls vierteljährlich, aber als Print-Zeitschrift kommt Muh!, ein Blatt, in dem es um „bayerische Aspekte“ gehen soll. kress.de hat das Heft gelesen: „So dürfen die erwartbaren Texte über Starkbier-Erfahrungen (in der Kolumne ‚Rainer Schaller tät noch ein Bier nehmen‘) ebenso wenig fehlen wie eine skurrile Glosse über den ‚Nutty Bavarian‘, das Werbemaskottchen einer in Florida ansässigen Erdnuss-Produzenten. Stärke des Blatts sind allerdings die etwas längeren Autorenstücke, die sich sperrig den allzu gefälligen Heimatklischees in den Weg stellen - und auch jenseits des Weißwurst-Äquators Anhänger finden dürften.“
+++ Die FAZ-Medienseite macht heute auf mit einem Beitrag über das Pöbel- und Mobbing-Forum iShareGossip.com.
+++ Und zum Abschluss ein Geburtstagstext aus dem Feuilleton der Süddeutschen (S. 15). Dirk von Gehlen feiert fünf Jahre Twitter: „Twitter war der Anstoß für einen kommunikativen Wandel, der am ehesten mit der Erfindung des Telefons vergleichbar ist.“
Der Altpapierkorb füllt sich wieder am Montag.