"Armut rückt in die Mitte der Gesellschaft"

Tafel-Mitarbeiterin Rosie Wirth
epd-bild/Ute Möller
Tafel-Mitarbeiterin Rosie Wirth.
Mehr Familien besuchen Tafeln
"Armut rückt in die Mitte der Gesellschaft"
Die Corona-Pandemie war ein Einschnitt für die Tafeln. Seither hat sich der Kundenkreis vergrößert und verändert. Studierende kamen und gingen, mehr Familien kaufen regelmäßig ein. Ukrainerinnen sind ebenfalls auf die Tafel angewiesen.

Ein Freitagmittag vor der Ausgabestelle der Tafel in der Nürnberger Sigmundstraße: Vor der Eingangstür stehen Menschen in der Schlange, Tafel-Mitarbeiterin Rosie Wirth winkt diejenigen durch, die einen Termin haben. Wer bei der Tafel einkauft, muss seine Bedürftigkeit mit einem amtlichen Bescheid nachweisen. Ehrenamtliche geben an Tischen hinter Plastiktrennscheiben Joghurt, Wurst, Brot, Gemüse, Salat, Obst und heute auch bündelweise frische Kräuter an die Kunden aus. Nach zweieinhalb Stunden haben 203 Menschen eingekauft, das sei viel, sagt Wirth. Vor allem für einen Freitag am Anfang des Monats, wenn zumindest etwas Geld auf dem Konto sein sollte.

Sandra kauft heute für einen Euro Brot, Wurst, Pilze und Joghurt ein. "Ich habe sogar ein 250-Gramm-Päckchen Butter bekommen, das gibt es selten", freut sich die 30-Jährige. Die Jurastudentin ist seit sechs Jahren Kundin der Nürnberger Tafel. Auf dem kleinen Schild, das sie sich wie alle Tafelkunden am Eingang mit einer Klammer an die Jacke geheftet hat, steht eine "2". Sie kauft für sich und ihren neun Jahre alten Sohn ein, den sie alleine großzieht. "Ich bin gerade komplett blank, weil mal wieder das Bafög nicht pünktlich ausgezahlt wurde", sagt Sandra. Sie zahle 600 Euro Miete und habe nichts außer Bafög und Kindergeld.

Über 171 Tafeln in Bayern geben an rund 200.000 Menschen Lebensmittel aus, die Supermärkte, Bäcker oder auch Privatleute gespendet haben. Zu den Ausgabestellen der Nürnberger Tafel kommen insgesamt zwischen 7.500 und 8.000 Kunden, sagt die Leiterin Edeltraud Rager. Sie hat großen Respekt vor Sandra. "Ich bewundere, dass sie ihr Studium trotz der großen finanziellen Probleme durchzieht." Rager ist bei der Tafel aktiv, seit das Bayerische Rote Kreuz die Trägerschaft übernommen hat. 2016 war das. "Wer sich damals Lebensmittel abholte, hatte keine Arbeit, ging zum Jobcenter und bezog Sozialleistungen. Dazu kamen Rentner, aber niemand mit einem geregelten Erwerbseinkommen besuchte die Tafel."

Doch seitdem hat sich einiges verschoben im sozialen Gefüge. Die Pandemie sei ein heftiger Einschnitt gewesen, meint Rager. Menschen mussten sich mit günstigem Brot und Gemüse versorgen, weil es ihre Jobs zum Beispiel in der Gastronomie oder im Service nicht mehr gab. Studenten konnten sich nichts mehr dazuverdienen, Alleinerziehende mussten ihre Jobs kündigen, weil die Kitas ihre Kinder nicht mehr betreuten.

Armut verändert sich

Viele Studenten kamen nach Covid finanziell wieder auf die Beine, andere sind weiterhin auf die Tafel angewiesen - so wie Sandra, die alleinerziehende Jurastudentin. Oder auch wie Vytautas aus Litauen, der schon einige Jahre in Nürnberg lebt. "Ich habe als Lieferfahrer gearbeitet, studiere jetzt Informatik und wohne bei meiner kranken Mama." Dass er bei der Tafel einkauft, erzähle er niemandem, "ich schäme mich dafür".

Armut verändere sich, sagt Edeltraud Rager. "Früher betraf sie einen überschaubaren Kreis an Menschen und heute kommt sie langsam in die Mitte der Gesellschaft." Das zu sehen, mache sie traurig. "Seit Ende 2023 kommen vermehrt Kunden zur Tafel, die in Lohn und Brot stehen, die aber aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise und Energiekosten mit dem Verdienst nicht mehr auskommen." Das seien oft jüngere Familien, in denen einer arbeitet, der andere die Kinder betreut oder noch einen Minijob hat. "Das Einkommen ist zu viel, um aufstockende Leistungen zu bekommen, aber zu wenig, um alle Rechnungen zahlen zu können."

Hohe Lebenshaltungskosten setzen Familien zu

In der Sigmundstraße geht die Ausgabe der Lebensmittel weiter, an der Obsttheke nimmt ein Mann ein Netz Mandarinen entgegen. Auf dem Schild an seiner Jacke steht eine "6", die für eine große Familie mit vier Kindern steht. "Familien mit vielen Kindern kommen oft mit einem Wohngeldbescheid zur Tafel", sagt Peter Zilles, Vorsitzender des Landesverbands der Tafeln in Bayern. "Sie brauchen größere Wohnungen und für die reicht der Verdienst eben oft nicht aus."

Unsichere wirtschaftliche Zeiten und hohe Lebenshaltungskosten setzen vielen Familien zu. Eine bundesweite Umfrage der Tafeln Ende 2024 ergab, dass über die Hälfte der Kunden unter 67 Jahre alt und damit im arbeitsfähigen Alter ist. Zugleich sind über 30 Prozent Kinder und Jugendliche. Zilles war von dem Ergebnis überrascht, er hätte gedacht, dass der Anteil der Rentner höher ist. "Aber viele verdienen sich noch etwas dazu, um mit ihrer kleinen Rente auszukommen." Dazu komme die Scham, die Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben und jetzt doch nicht von der Rente leben können, oft davon abhalte, zur Tafel zu gehen.

Zilles erschreckt vor allem, dass so viele Kinder auf die Tafel angewiesen sind. Über einige Entwicklungen dürfe man nicht nachdenken, sagt auch Edeltraud Rager. Mit nach Hause nehmen sollte man sie besser auch nicht. "Die Politik müsste dafür sorgen, dass alle auskömmlich leben, aber bisher hat keiner herausgefunden, wie das gehen soll." Viele der Kinder, die Obst, Gemüse und Brot von der Tafel essen, sind seit Beginn des Ukraine-Krieges mit ihren Müttern nach Deutschland gekommen. An diesem Freitag steht Victoria in der Sigmundstraße in der Schlange.

Sie hat in Charkiw 20 Jahre als Wirtschaftsfachkraft in der Verwaltung einer Brauerei gearbeitet, jetzt lebt sie mit zwei Kindern alleine in Nürnberg, den ältesten Sohn hat sie in Charkiw zurückgelassen. Die 48-Jährige sitzt jeden Tag im Deutschkurs, noch kann sie kein Geld verdienen und braucht die Tafel. Letzte Woche sei ihr Bruder in Charkiw gestorben. Sie hält inne, dann wischt sie sich über die Augen, "aber lassen wir das". Zur Tafel geht sie ohne Scham, denn es muss ja weitergehen, irgendwie.