Haben wir nur ein Begriffsproblem, oder ist die Rede von der Facebook-Revolution auch inhaltlich Quatsch? Interpretationen zum Abheften. Und dazu: eine Fernsehrezension mit der Stoppuhr.
Es gibt einen beliebten Versuch von Medienjournalisten (für Henryk M. Broder: von Journalisten, die über Medien berichten), sich selbst zu versichern, dass sie einen tollen Job haben. Er geht so: "Wirtschaftsteil ist nur Wirtschaft, Politikteil ist nur Politik, schnarch, und Kulturteil ist halt" – na, wer errät es? – "Kultur. Aber Medienseite, das ist alles auf einmal."
Abgesehen davon, dass man sich ja manchmal selbst ein bisschen anschwindeln dürfte, ohne dass gleich Wikileaks eingeschaltet werden müsste, belegt das aktuelle Medienseitenprogramm, dass es stimmt. Und: Die Vermischtes- und die Sportseiten sind gleich auch noch integriert. Das Programm heute: Politische Proteste und die Rolle der Social Media. Medienpolitik, Stichwort ZDF, Stichwort Intendantenwahl und Farbenlehre. Dschungelcamp-Finale.
Aber beginnen wir mit dem – den gibt es auch – Sportteil-Segment: Michael Hanfeld hat im Feld, in dem sich Mediensport mit Medienpolitik, Medienwirtschaft und (Iris Berben!) Medienvermischtes kreuzen, für die FAZ (S. 29) die Stoppuhr bedient. Es geht um die ZDF-Komödie "Meine Familie bringt mich um!" (20.15 Uhr), und über die lässt sich gut reden. Denn erstens, es ist ein Doris-J.-Heinze-Film (siehe taz). Zweitens, es ist, wie gesagt, ein Iris-Berben-Film (siehe Interview in der Berliner Zeitung). Drittens, Besprechung tut auch not (siehe evangelisch.de). Und viertens, der Focus hat es vor zwei Wochen auf die Produktplatzierungsagenda gesetzt (siehe Altpapier). Das Szenenfoto zeigt Berben, die angesichts des Hintergrunds ein wenig in den Hintergrund rückt.
Hanfeld wählt Thema drei und zählt die nicht mehr im heute gezeigten Film, in der vorherigen Version aber noch vorkommenden Exemplare des Volkswagens. Es handelt sich um ein "Automobil von so beeindruckender Effizienz, dass ihm selbst Palmen zuwedeln. Es ist ein Auto der Unmöglichkeit. (...) Das Wunder empfängt mich mit weit geöffneten Flügeltüren."
Ach, halt, nee, tschuldigung, das war aus dem Product-Placement-Aufklärungsportal Bild Online.
Hanfeld also zählt die Minuten, in denen VW auftaucht: Minute 6.49, Minute 8.33 bis 9.20. Dann sind 20 Minuten Pause. "In Minute 22.38 kommt in einer Apotheke Gleitcremewerbung ins Bild." Sechs Minuten später eine einminütige Fahrt,
"dann wird das Vehikel abgestellt, gut sichtbar vor der Kamera. Weitere Fahrten haben wir uns notiert bei Minute 43.43, 47, 52.15, 53.05, 57.45 (zwei Minuten am Stück), nach einer Stunde, vier Minuten und dreißig Sekunden (das Auto wird beladen), sechs Minuten später noch mal, in den Sequenzen nach einer Stunde und zweiundzwanzig Minuten wird es zur Raserei – fünfmal Auto im Bild, inklusive Strafzettel –, nachvollzogen ohne Gewähr."
Für die einen ist das Medienjournalismus. Medienjournalisten aber nennen es Rock'n'Roll.
Weiter mit den Social Media. "Sind Twitter und Facebook wirklich der Motor der arabischen Proteste?", fragt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, und der Spiegel (S. 136 ff.) fragt im Grunde dasselbe:
"Erlebte Tunesien eine 'Facebook-Revolution', wie manche schrieben, eine 'Twitter-Revolution', gar eine 'Wikileaks-Revolution'? Oder war es ein Aufstand, für den die Zeit ohnehin reif war, und der auch ohne Internet stattgefunden hätte?"
Die Frage, ob Begleiterscheinungen der digitalen Revolution wie Twitter und Facebook eine analoge Revolution auslösen können, ist wohl seit 2009 in der Welt und wird seit 2009 ähnlich wie heute beantwortet – von manchen wird sie euphorisch bejaht, von anderen wurde sie auch 2009 schon verneint. 2010 – also ein Jahr nach der iranischen "Twitter-Revolution" – schwankte die Stimmung immer noch zwischen Euphorie und Skepsis (siehe etwa netzpolitik.org oder, falls jemand 53:26 Minuten Zeit hat, den re:publica-Vortrag 2010 des weißrussischen Internettheoretikers Evgeny Morozov, der den Begriff "Twitter-Revolution" geprägt hat, bevor er mit dem Versuch begann, ihn wieder einzufangen).
Heute immer noch ein ähnliches Bild: Umsturzeuphorie. Und Umsturz der Umsturzinterprationen.
"Es gibt keine Facebook-Revolutionen, genauso wenig, wie es Handy-Revolutionen und Flugblatt-Revolutionen gibt. Es gibt nur Revolutionen von Menschen, die sich befreien wollen",
schließt der Spiegel. Weniger allwissend, aber doch ähnlich im Ergebnis klingt die FAS:
"Die Frage ist (...), ob die Theorie von der revolutionären Kraft von Facebook und Co. besonders erkenntnisstiftend ist. Im besten Falle beschreibt der Hype nicht mehr als eine Korrelation, die mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wird. In kaum einem Land der Welt wird es in Zukunft noch Proteste ohne den Einsatz sozialer Medien geben, warum sollte es."
Das Problem scheint dabei freilich eher ein begriffliches als ein inhaltliches zu sein: "Web-Revolution" klingt natürlich steil, Spiegel Online benutzt das Wort auch in der Dachzeile zum Thema, aber dass Twitter und Facebook selbst die eigentlichen Revolutionäre wären, steht dort zumindest auch nicht. Frank Patalong zitiert den marokkanischen Blogger Hisham: "Möglich gemacht hätten den Umsturz (die Rede ist von Tunesien; AP) 'die Opfer, die die Menschen auf den Straßen gebracht haben'. Die digitalen Kommunikationsmittel aber seien die Katalysatoren des Umsturzes gewesen. Sie, schrieb Hisham in seinem Blog äußerst treffend, seien die 'Waffen der Massenverbreitung'."
Niklas Hofmann erdet den Versuch, den Social Media revolutionäres Potenzial zuzuschreiben, in den "Nachrichten aus dem Netz" der Süddeutschen Zeitung (S. 11), und zitiert Ethan Zuckerman, Mitgründer der Blog-Plattform Global Voices:
"Er will die Bedeutung von Twitter & Co. als Fenster zur Welt gar nicht herunterspielen. (...) Allerdings hätten Tweets und Facebook-Gruppen im Vergleich zu SMS und Handzetteln nur einer Minderheit zur Organisation gedient. Denn wer diese Dienste nutze, so Zuckerman in seinem Blog, zähle in Ägypten nach wie vor zur Elite. Auf die Straße gehe aber eine viel breitere Koalition."
Dieser Beitrag ist noch nicht online, die "Nachrichten aus dem Netz" von vor zwei Wochen, in denen er das Thema schon einmal behandelte, schon.
[listbox:title=Artikel des Tages[FTD will Google enteignen##Die Frage nach der Facebook-Revolution I (FAS)##Die Frage nach der Facebook-Revolution II (SPON)]]
Die FAZ (S. 25 und 27) beauftragte Chaos-Computer-Club-Sprecher Frank Rieger damit, die technischen und politischen Details des ägyptischen Offline-Gangs aufzuschreiben. (Nebenbei: guter Text, leider derzeit nicht online.) Und Rieger scheint wiederum nicht ganz so überzeugt davon zu sein, dass soziale Medien nicht doch selbst von zentraler Bedeutung sind – wenn sie auch womöglich auf eine andere Art eine Rolle spielen als durch ihren Mobilisierungseffekt:
"Die Netzabschaltung hatte offenbar noch einen anderen Effekt: Plötzlich gab es keinen Grund mehr, vor dem Bildschirm zu sitzen und dort zu lesen, wie sich die Proteste entwickeln. Um mitzubekommen, was los ist, muss man auf die Straße gehen. Und wenn man schon dort ist, kann man auch gleich mitdemonstrieren. Die schnell kursierende Bemerkung, dass es sicher half, dass die vielen Jugendlichen, die in Online-Spielen die Taktiken zu Schwarmangriffen auf überlegene Gegner trainiert haben, nun auf der Straße mitmachen, war nur halb scherzhaft gemeint."
Und:
"Facebook und Twitter gehören für Jugendliche genauso zum Alltag wie für ihre Altersgenossen im Westen. Auch Online-Spiele erreichen eine große Verbreitung. Am Dienstagabend war es damit erst einmal vorbei. Die Regierung Mubarak hatte es mit der Angst zu tun bekommen. Vor allem die sozialen Netzwerke und Webforen wurden zum Kristallisationspunkt des über Jahrzehnte aufgestauten Unwillens der Bevölkerung über Korruption und Stagnation."
Man kann die Interpretationsschraube also vielleicht noch einmal drehen: Würde das Netz, wie jetzt in Ägypten, nicht eingeschränkt bis abgeklemmt, wäre die Wut womöglich kleiner, womit durch die Hintertür dann eben doch Facebook und Twitter zentrale Player wären – sofern man sie nicht ausschließlich als Kanäle der Mobilisierung, sondern als Symbole der angestrebten Freiheit betrachtet.
Wir werden sehen. Weiter mit dem Vermischten.
Altpapierkorb
+++ Weitere Texte zum Thema: Die taz über die Bedeutung Al-Dschasiras +++
+++ Und nun, okay, vor dem Vermischten noch ins Kino, das ja – Stichwort Amphibienfilme wie Bernd Eichingers "Baader Meinhof Komplex" – auch die Fernsehkritiker beschäftigt. Frank Schirrmacher schickt dem verstorbenen Eichinger in der FAS fünf Tage nach Eichinger Tod, vier bzw. drei Tage nach den Nachrufen aller anderen, noch einen Nachruf hinterher, der lesenswert ist – weil er eigentlich (Schirrmachers Worte paraphrasiert:) von der Gesellschaft handelt, die Eichinger überlebt: "Die Wahrheit über Bernd Eichinger ist eine andere, als man sie jetzt häufig liest. (...) Ein Großteil der Branche und auch der Kritik hatte, was Eichinger angeht, eine stillschweigende Vereinbarung getroffen. Niemals eingestehen, was ihm das Wichtigste war: dass er ein Künstler war. Nicht anerkennen, dass seine Arbeiten intellektuelle Herausforderungen sind. Immer darauf bestehen, dass er Produzent, Ermöglicher und PR-Genie ist" +++
+++ Noch ein Nachruf: die taz auf SR-Intendant Fritz Raff +++
+++ Nun aber zum Medienseiten-Vermischten-Feuilleton: "Ich bin ein Star – holt mich hier raus!" Aus, aus, aus, und bevor es morgen vergessen ist, ist nun ein guter Anlass, den vorläufigen letzten Text beizusteuern: Der Tagesspiegel etwa stellt im Berliner Lokal-Teil das Treiben rund um das Lokal des Dschungelkönigs vor, das auch Spiegel Online mit offensivem Schleichwerbungsbekenntnis thematisiert: "Das war doch gerade unverhohlene Schleichwerbung für das Lokal 'La Raclette' in Berlin-Kreuzberg!" +++ Noch ein paar Links: Antje Hildebrandt in FR, BLZ und Welt Online, darüber hinaus der KSTA über den Sieger, und der TSP notiert einen "Sieg der Normalität", was, inszenierungstechnisch betrachtet, ja auch die beste Pointe der Geschichte ist +++ Quoten +++ Stefan Niggemeier im Liveblog, gemeinsam mit Herm +++ Und auch das ist vermutlich eine Reaktion, die seit längerem im Drehbuch des Lebens steht: Kaum ist die letzte Zeile zum Dschungelcamp geschrieben, langweilt es mich tatsächlich tierisch, geradezu: kakerlakig +++
+++ Der journalistisch ergiebigste Beitrag zum Thema ist sicher Christopher Keils SZ-Interview mit den Moderationstextern der Sendung +++
+++ Weiter mit dem Vermischten: Lena Meyer-Landrut habe "ihre Unbefangenheit verloren", urteilt der ARD-Programmbeirat (Spiegel), der es wissen muss, da er bekanntlich immer mittwochs mit ihr im Yoga ist +++ Anlass für die Beschäftigung des Spiegels ist die heute startende Show "Unser Song für Deutschland", bei der der Song ausgewählt wird, mit dem sie beim Dings in Düsseldorf antritt +++ Der Tagesspiegel mischt aus diesem Anlass weichere Meyer-Landrut- mit einigen harten Fakten +++ Die Berliner Zeitung fasst u.a. den Ablauf der bevorstehenden Song-Auswahl zusammen +++
+++ Über Qualitätsmedienberichterstattung berichtet die taz: Wie die taz-Geschichte über "Hund Hitler" als Agenturnachricht um die Welt ging und übersetzt und wie nach eine Stille-Post-Durchgang mit einigen Verzierungen wieder nach Deutschland zurückkehrte +++
+++ "Kragen geplatzt", dachzeilt DWDL über die Kritik eines unbekannten Fußball-Erstligisten an ZDF-Torheitschützenkönig Wolf-Dieter Poschmann – natürlich ein Kragen mit Sponsorenlogo +++
+++ Die Frauenquote: Thema für die EU und den Aufmacher des Spiegels. Und dass sie Thema für den Spiegel-Aufmacher ist, ist Thema für die Berliner Zeitung +++
+++ Die bevorstehende Intendantenkür des ZDF läutet der Spiegel mit einem Ausflug in die Farbenlehre ein – Stichwort: Wer würde gegebenfalls auf Thomas Bellut, falls er gewählt würde, als Programmdirektor folgen? Womöglich eine Direktorin +++ Noch ein Intendant: Der des BR, Thomas Gruber, verlässt den Sender (SZ, S. 15) +++
+++ "Enteignet Google!", fordert, Trommelwirbel – die FTD: "Sollen Informationen stets mit ihrer wirtschaftlichen Nutzung verknüpft werden oder nicht? Ich meine nein. Deshalb muss die Suchmaschine enteignet werden - und in den Besitz ihrer Nutzer gelangen. Wenn die Nutzer das wollen, können sie es sogar durchsetzen." +++
Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag gegen 9 Uhr.