Eine Frage der Audienz

Eine Frage der Audienz

Das Originelle im Originalen, Sendezeitbeschränkung für nicht Jugendfreies: Im Internet wird's kompliziert. Immer schlichter dagegen dank Programmreformspirale: das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Interessant für alle, die im Internet mit seiner Formenvielfalt unterwegs sind: Es wird,
erstens, eine neue, von Bundesinnenminister Thomas de Maizière gezogene "rote Linie fürs Internet" kommen (heute auf vielen Titelseite, u.a. bei FAZ und TAZ 1/2). Es gibt zweitens einen neuen, internetaffinen Menschen nicht gerade einleuchtenden Jugendmedienstaatsvertrag fürs Internet (siehe unten im Altpapierkorb). Und es liegt drittens ein neues höchstinstanzliches, aber (wegen Rückverweisung ans Oberlandesgericht) nicht endgültiges Urteil im ewigen Rechtsstreit der großen Zeitungen Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche mit dem gallischen Dorf der sog. Perlentaucher vor, zu dessen Geschäftsmodell das Zusammenfassen von Rezensionen großer Zeitungen und der Verkauf dieser Zusammenfassungen zählt:

"Die Zeitungen haben "vor dem Bundesgerichtshof einen Erfolg... errungen" (FAZ); also: "herber Rückschlag für das Internetportal Perlentaucher" (sueddeutsche.de). Bzw.: "Klage von FAZ und SZ erfolglos" (perlentaucher.de).

Zur Einschätzung hilft vielleicht, ins Originalurteil zu schauen, schon weil, diesem zufolge, "originelle Formulierungen der Originalrezensionen" von besonderer Bedeutung sind. Die TAZ tut's aber auch (ebenso wie die Medienseite der Papier-SZ, auf der ein informativerer Artikel als bei den Online-Tickerern steht). In der TAZ meint Christian Rath, dass die Perlentaucher "zumindest teilweise ... wohl verurteilt werden" dürften und zitiert eingängige Worte, in die der Vorsitzende Richter Joachim Bornkamm "einen Grundgedanken des Urheberrechts" fasste: "Ein neues Werk erfordert in der Regel, dass das alte dahinter verblasst".

Mit diesem Wissen in die Vielfalt der laufenden Debatten rund um mediale Themen. Zum Beispiel um den Verein "Innocence in Danger", dem hierzulande Stephanie zu Guttenberg vorsteht (siehe Altpapier gestern). Schon stehen die Perlentaucherbesieger FAZ und SZ wieder auf denkbar unterschiedlichsten Seiten.

"Die 'Frankfurter Rundschau' hat eine Kampagne gegen den Verein 'Innocence in Danger' gestartet. Liegt es daran, dass Stephanie zu Guttenberg der Organisation vorsteht? Am Ende bleibt von allen Vorwürfen nichts",

fasst denkbar entschieden Melanie Mühl in einem ausführlichen Artikel auf der FAZ-Medienseite die Lage zusammen. Was ihr bei der Einschätzung geholfen hat: Infos aus erster Hand, also aus dem Munde Stephanie zu Guttenbergs persönlich. Was etwa hat es mit den "repräsentativen" Räumlichkeiten des eingetragenen 2,5-Mitarbeiter-Vereins in Berlin auf sich? "'Das ist die Wohnung eines Vorstandsmitglieds', sagt Stephanie zu Guttenberg. Sie werde unentgeltlich zur Verfügung gestellt."

Genauso entschieden, bloß völlig anders denkt Thorsten Denkler bei sueddeutsche.de über das Thema. Er berichtet von einer "Charity-Sause" des Vereins in Hamburg, zitiert leicht pikiert klingende Vertreter anderer Kinderschutz-Organisationen wie "Zartbitter" und "Wildwasser", die ausdrücklich nicht von "Innocence in Danger" vernetzt werden möchten, obwohl so was dessen Anspruch ist, und meint gar noch in der Überschrift ("Für alle Fälle Stephanie") nochmal darauf hinweisen zu müssen, dass die Freifrau auch ein Privatfernsehstar ist. Und warum das? Weil Vertreter des Vereins "auf Anfrage von sueddeutsche.de ... nicht einmal grob die Einnahme- und Ausgabenstruktur des Vereins erläutern" mochten.
Vielleicht müssen Vertreter eher als liberal geltender Medien halt formvollendeter um Auskunft bitten. Am Ende ist das einfach eine Frage der Audienz.

Und falls Sie jetzt die Werke von FAZ und SZ, die hier im Altpapier bereits ordnungsgemäß verblasst sind, im Original nachlesen möchten: bitte hier (faz.net) bzw. hier (sueddeutsche.de) entlang. Außerdem legt heute in der Rundschau selbst Matthias Thieme nach, der Coautor des ersten kritischen Artikels. Er äußerst sich selbst eher zurückhaltend, hat aber Freiherr zu Guttenbergs Kabinettskollegin, Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, eine nicht undelikate frische Aussage entlockt:

"Ich mahne zu großer Vorsicht bei reißerischen Sendungen mit Prangerwirkung wie etwa der RTL-2-Reihe 'Tatort Internet'. Es darf gerade bei einem Thema wie Kindesmissbrauch nicht der Eindruck entstehen, als gehe es mehr um die Quote als um Aufklärung."

Dass Thieme selbst der von "Innocence in Danger" angedrohten Strafanzeige "mit großer Gelassenheit entgegen" schaut, vertraute er wiederum Telepolis an, das gewohnt tief in die Materie einsteigt.

[listbox:title=Artikel des Tages[TAZ übers Perlentaucher-Urteil##sueddeutsche.de über Jugendmedienschutz##...über "Innocence in Danger"##Indes die FAZ dazu##Indes die Rundschau dazu##TAZ über die ARD-Programmreform##SPON über die ZDF-Programmreform]]

Die andere große, breite medienjournalistische Debatte dieser Tage kreist um die ARD-Programmreform, die bereits vorgestern verkündet, aber gestern auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurde (der Tagesspiegel war da).

Heute kommen weitere Zeitungsressortleiter-Einschätzungen rein (Christopher Keil in der SZ, S. 15: "Braucht ein Sender vier Talkshows wöchentlich nach dem späten Nachrichtenjournal und eine Talkshow davor? Nein") sowie weitere Wut-Äußerungen der ent-sendeplatzten Dokumentarfilmregisseure ("Dokus dann 'aus der Versenkung zu holen, wenn das Publikum gerade im Biergarten sitzt und die Talkshows aus gutem Grund Pause machen, und das auch noch als Aufwertung zu verkaufen', offenbare 'den Zynismus des ARD-Programmchefs'" Volker Herres, so Thomas Frickel zur TAZ).

Indessen machte Spiegel Online bekannt, dass sich das ZDF von der ARD-Programmreform inspiriert fühlt und "ZDF.reporter" aufgibt. Wohin diese Programmreform-Spirale führt: Das Magazin soll durch ein noch unbekanntes "Unterhaltungsformat" ersetzt werden.

Spontaner Einfall: Liebes ZDF, wie wäre es mit einer Quizshow?


Altpapierkorb

+++ Der o.g. neue Jugendmedienstaatsvertrag verlangt: "Wer eine Webseite betreibt, die sich direkt an Kinder unter zwölf Jahren richtet, aber nebenher noch nicht für Kinder geeignete Daten ins Netz stellen will, muss die beiden Angebote künftig voneinander trennen" oder aber kann sich "für eine Sendezeitbeschränkung entscheiden" und nicht jugendfreie Inhalte "nur noch nachts freischalten", informiert die Süddeutsche (S. 15, online ähnlich). +++

+++ Was "Innocence in Danger" vom Bundesnachrichtendienst unterscheidet: Letzterer äußert sich sogar auf Anfrage der FAZ nicht. "Auch auf Anfrage dieser Zeitung heißt es in der Pressestelle des Nachrichtendiensts, dass man zum Curveball-Fall und zu der Reportage in der ARD keine Stellungnahme abgeben werde, auch weil die dort vorgebrachten Erkenntnisse großenteils nicht neu seien. Alles, was darüber hinausgehe, könne nur Gegenstand parlamentarischer Untersuchungsgremien sein", heißt es in der ausführlichen, empfehlenden Besprechung der heutigen ARD-Doku "Die Lügen vom Dienst" (S. 39). Wir empfehlen, schon weil frei online, René Martens' Besprechung in der TAZ. +++

+++ Mehr Materialien zur ARD-Programmreform: "Warum 'hart aber fair' das Privileg der frühen Sendezeit gewährt bekommt, erklärt der ARD-Programmdirektor Herres mit dem innovativen Format der Sendung. ... Sein besonderes Tempo und Elemente wie Zusatzfakten und Einspieler 'erfordern einen anderen Aufmerksamkeitsgrad'. Um 22.45 Uhr, soll das wohl heißen, sind die Zuschauer zu müde, um dem schnellen Schlagabtausch bei Plasberg zu folgen – aber seltsamerweise noch wach genug, um dem Salongespräch bei Reinhold Beckmann oder Anne Will zu lauschen" (Michael Hanfeld und Harald Staun in der FAZ). +++ Indes Satire: "'Jan Hofer' ersetzt 'Tagesschau'!" (FAZ-Fernsehblog). +++

+++ "Mindestens so berechtigt" wie die Frage, wie Wikileaks die klassischen Medien verändert, sei die, "wie die Medien Wikileaks verändern", meinte Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo mit Sturmgeschütz-Selbstbewusstsein im FAZ-Interview zur Wikileaks-Sache gestern. Heute in der BLZ befasst sich Ulrike Simon aber doch lieber wieder damit, "wie Wikileaks mit der Veröffentlichung Hunderttausender Dokumente den Journalismus verändert". +++ Und wenn die ARD "eine romantische Komödie mit Anna Loos und Fritz Karl" sendet, kann die BLZ natürlich auch nicht schweigen. +++

+++ Die leicht merkwürdige Vermutung, dass die Leser des (ja quasi eingestellten) "Rheinischen Merkurs" "erleichtert sein" dürften, weil sie auf der Ausgabe der Zeit, die speziell diese Leser heute zugeschickt bekommen, Papst Benedikt XVI. anlächelt..., diese Vermutung hegt der Tagesspiegel natürlich deswegen, weil er in der Verlagsgruppe Holtzbrinck erscheint wie Die Zeit, die von dem Merkur-Deal ja profitiert. Insofern war Chefredakteur Giovanni di Lorenzo auch gern zum Gespräch ("Die Sicht des 'Rheinischen Merkurs' auf die Welt ist einzigartig, wir wollen sie unbedingt erhalten“) mit Sonja Pohlmann bereit. +++

+++ Die Frage, ob ARD und ZDF sich mehr trauen müssten, würden wahrscheinlich noch mehr Deutsche bejahen als Günther Jauch zum Bundespräsidenten wählen würden. Dass aber Schauspielerin Christine Neubauer, 48, sie ebenfalls bejaht, obwohl sie wie niemand sonst (oder wie allenfalls Fritz Wepper noch) davon profitiert, dass ARD und ZDF aus mangelndem Mut jedes Jahr jeweils jede Menge Christine-Neubauter- und Fritz-Wepper-Fernsehfilme herstellen - das erstaunt schon. Insofern sind wir gespannt aufs vorangekündigte 99-Fragen-Interview Moritz von Uslars mit La Neubauer. Leider können wir weitere Details daraus nicht im Altpapier verblassen lassen, da der Gang zum Kiosk heute morgen wegen des Winters vollkommen vergeblich war.+++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

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