Was macht eigentlich Neun Live? Es muss zwar doch keine Bußgelder bezahlen, bringt aber immerhin nach Jahren der Stagnation eine ungewöhnlich große Koalition gegen die deutschen Landesmedienwächter auf die Beine.
Minütlich wächst das Internet vermutlich um Tera- oder Petabytes neu gespeicherter Daten. Insofern wird das Wissen der Welt laufend immer noch größer, einerseits. Andererseits wachsen auch die Schwierigkeiten, den Überblick zu wahren (worum sich in der Mediensphäre ja auch das Altpapier bemüht).
So kann passieren, dass aus den Frankfurter Allgemeinen Medien ein langer Artikel über den fast schon etwas vergessenenen Gewinnspiel-Sender Neun Live dringt, der manche Leser staunen lässt, dass Neun Live doch noch sendet (und manche, dass darüber immer noch solch lange Artikel geschrieben werden). Und kurz darauf kommt aus einer völlig anderen Ecke ein völlig anderer Artikel zum selben Thema, der eigentlich sogar früher erschienen ist - und inhaltlich das viel dickere Ding.
Das ist Stefan Niggemeier passiert, der am Sonntag in der FAS den ziemlich langen Artikel "Die geheimnisvolle Fionnghuala" (frei online seit Montag nachmittag) publizierte. "Die Hoch-Zeiten des Call-TV sind vorbei, im Guten wie im Schlechten", heißt es darin, denn: "Seit ... Bußgelder drohen, ist das Geschäft" solcher Sender "fairer geworden - und schlechter." Es kam auch, Promis müssen ja sein, der deutsche "Big Brother"-Pionier und spätere Neun Live-Animateur Jürgen Milski (unser Foto, Promis müssen ja sein) vor.
Dass diese Bußgelder allenfalls theoretisch drohen und im Grunde nicht einmal das, und dass jedenfalls in der Praxis Neun Live "bisher nicht eine Strafzahlung beglichen" hat (auch wenn Axel Dürr als Sprecher der Landesmedienanstalten in einem Interview der Zeitschrift test genau diesen Eindruck erweckt hat), das steht seit vergangenem Freitagnachmittag in der Funkkorrespondenz, und seit Sonntagabend frei online. Die Funkkorrespondenz, sozusagen das katholische Gegenstück zu epd medien, wird als gedruckter Mediendienst oder als PDF an eine vermutlich nicht ungeheuer große Zahl von Abonnenten gesendet.
"Ich hätte die 'Funkkorrespondenz' lesen sollen", schrieb denn auch Niggemeier gestern spätnachmittags in sein Blog. Als Pionier der Transparenz im Internet (und einer der größten Aufmerksamkeitsspender) macht er vorbildlich deutlich, dass die FK den erheblich brisanteren und besser informierten Artikel früher geschrieben hat.
Was Neun Live nun also vor der Zahlung von 270.000 Euro Bußgeld bewahrt hat, sind allerhand Fälle von Verjährung. Die teilweise zuständige Bayerische Landeszentrale für neue Medien drängte FK-Redakteur Volker Nünning zur offiziellen Auskunft:
"Die Verjährung kam dadurch zustande, dass durch ein äußerst bedauerliches Büroversehen während der Urlaubszeit die fünf Fälle in der BLM liegengeblieben sind und es so versäumt wurde, die Bescheide der Staatsanwaltschaft fristgerecht zuzustellen."
Es sind aber nicht nur bayerische Landesmedienwächter (die wenn für etwas, dann für ihre bayerische Medienstandortpolitik bekannt sind), sondern auch Berlin-Brandenburgische, die ebenfalls Zuständigkeit ausüben und solche Verjährungen verschuldeten. Der dortigen Anstalt MABB, so deren Auskunft,
"kam die Weihnachtszeit dazwischen und wir hatten den Fristablauf übersehen, so dass der Bußgeldbescheid zu spät zugestellt wurde. Das ist sehr ärgerlich und bedauerlich. Seitdem beugen wir dem durch eine verbesserte Fristenüberwachung vor.“
Weil die Leute von der Funkkorrespondenz zu zurückhaltend oder höflich sind, daraus explizite Forderungen abzuleiten, kann Stefan Niggemeier dann doch in bewährter Weise zuspitzen:
"Bei den Landesmedienanstalten - und insbesondere den beiden genannten - verbindet sich in einzigartiger Weise der ganze Albtraum einer föderalen Bürokratie mit Inkompetenz und schlichtem Unwillen. Ich bin überzeugt davon, dass die Bayerische Landesmedienanstalt unter Wolf-Dieter Ring (seit 21 Jahren im Amt) kein Interesse daran hat, die von ihr lizensierten (und im Land angesiedelten) Sender wirkungsvoll zu kontrollieren. Und der Aufsichts- und Auskunftswiderwille der MABB unter Hans Hege (seit 19 Jahren im Amt), die theoretisch für Pro Sieben zuständig wäre, ist ein fortdauernder Skandal."
Und weil das einigen Usern noch nicht spitz genug war, spitzte er um 2.06 Uhr nochmal nach:
"Landesmedienanstalten sind überflüssig, machen nur Mist und verbrennen Gebühren."
Daraus leitet er eine griffige Forderung ab, nämlich die 2005 (u.a.) von ihm erhobene: "Schafft die Landesmedienanstalten ab!"
Wenn sich fünf Jahre danach ziemlich zufällig so eine weit auseinanderliegende und daher vielleicht wirklich große Koalition dafür zusammenfindet, vielleicht klappt's ja. Wir hätten auch nichts dagegen. Womöglich kann mal jemand eine E-Petition oder so etwas aufsetzen?
[listbox:title=Artikel des Tages[Das dickste Ding zu Medienwächtern & Neun Live (Funkkorrespondenz)##Niggemeier darüber##Eher weniger aktuell: FAS vom letzten Sonntag##Jetzt wieder aktuell: FAS von 2005##ROG-Petition für Shiva Nazar Aharai]]
Falls E-Petitionen sinnvoll sind, in jedem Fall noch sinnvoller: diese der Reporter ohne Grenzen für die Freilassung der vielleicht sogar von der Todesstrafe beedrohten iranischen Bloggerin Shiva Nazar Aharai. Darauf machen heute die TAZ und die SZ aufmerksam.
Altpapierkorb
+++ Wie spacig ist das denn? Die Berliner Zeitung, sonst kein early adoptor neuer medialer Entwicklungen, heute mit 3-D-Brille und großer "Die Zukunft ist 3-D"-Beilage (funktioniert natürlich nur gedruckt). Und das drei(!) Tage bevor die ungewöhnlichen Kooperationspartner Bild-Zeitung und Arte gemeinsam ins 3-D-Bett steigen, vgl. meedia.de. +++
+++ "Actionheldenmaterial, Eisenfaust, Haudrauf, Schwarzenegger": der Name des (allerdings amerikanischen) Bloggers Andrew Breitbart, der "etablierte Medien vor sich her" treibt. Mit ihm beschäftigt sich Tobias Moorstedt in der Süddeutschen ausführlich. +++
+++ Doch erst 100 Folgen "hart aber fair" mit Frank Plasberg in der ARD. Man denkt ja manchmal beim Warten auf die "Tagesthemen", es seien schon 1000. Jedenfalls machen nicht nur allerhand Vierfarbanzeigen der ARD in den Zeitungen darauf aufmerksam, sondern auch redaktionelle Beiträge. Plasbergs Selbsteinschätzung "Wenn man von Underdog zum Platzhirsch wird, ist das toll" (TAZ) bezieht sich auf den Marktanteil im Vergleicht mit Anne Will. "Er ist mit Abstand der beliebteste Moderator, ohne beliebig zu sein", sagte Plasberg über Kollege Jauch indes zu Antje Hildebrandt und damit zu BLZ, KSTA, FR. +++
+++ Strahlende, blaue Augen, glänzende Goldhaare - das ist nicht, oder zumindest nicht in diesem Tagesspiegel-Bericht Plasberg, sondern: Judith Rakers, die Radio Bremen neu in die Getalke-Arena sendet. +++
+++ Heute vor Plasberg in der ARD: der viel besprochene Fernsehfilm "Takiye - Spur des Terrors". "Auf die gesteinigten Frauen, die sie aufbietet, kontert er mit den pädophilen Priestern. Lange Blicke. Doch die zarten erotischen Vibrationen, die jetzt aufkommen, dürfen sich nicht entwickeln, weil … ja nun, die Familienehre", schildert Barbara Sichtermann (Tsp.) distanziert, nicht richtig begeistert, das Konstruktionsprinzip. +++ "Ohne diesen Ringparabelkitsch und mit etwas mehr Mut zu Graustufen hätte aus dem rasanten Film ein bedeutender werden können", meint Oliver Jungen (FAZ). "Wäre 'Takiye' ein amerikanischer Film, dann wäre er krude mit inszenatorischen Schwächen. Als einer der wenigen ARD-Produktionen, die selbstbewusst aus dem Leben von Deutschtürken erzählen, bedient er gärendes Vorurteils-Gruseln", Barbara Gärtner (Süddeutsche). +++ Wer häufiger Fernsehkritiken überfliegt, weiß, dass Klaudia Wick (DuMont-Presse) immer vieles in milderem Licht sieht. Auch hier sah sie dicht und anrührend inszenierte Szenen, "große, sehenswerte Momente". Wo sie sich allerdings täuschte: "Sinan Toprak" war nun keine "klassisch-kitschige Degeto-Krimireihe". Bloß dreht deren Hauptdarsteller Erol Sander inzwischen pausenlos ARD-Schund. +++
+++ Auch schon ein Jahr alt: ZDF-Neo. Zeit für neues Programm, das Senderchef Dr. Norbert Himmler gern im dwdl.de-Interview skizziert. +++
+++ Er "war Berliner. Unverkennbar das Idiom. Berlin aber war viel mehr als der Geburtsort. Lothar Loewe verkörperte die besten Tugenden der Stadt: das Nüchterne, Geradlinige, keine Fisimatenten, ungemein neugierig, hilfsbereit, der Welt offen, Intrige als Fremdwort. So einer konnte in seiner kurzen Zeit als Intendant des Senders Freies Berlin nicht glücklich werden..." (aus Jürgen Engerts Nachruf in der FAZ, S. 31). +++
+++Kolumnenmäßig nimmt Patrick Beuth den "eiPOTT"-Hersteller koziol gegen den iPod-Hersteller Apple in Schutz, der allerdings gerichtsurteilmäßig siegte. +++ Und hurra, die TAZ-Kriegsreporterin ist wieder da. Heute u.a. mit Schlingensief, dem Wehrlosen: "Zu seinem Tod war in der B. Z. online zu lesen: 'Weggefährten wie Michel Friedman oder Wolfgang Joop erinnern in der B. Z. an Christoph Schlingensief.' Ist das aus der Rubrik 'Mit Toten kann man es ja machen'? Natürlich kann der Jopi Heesters der Mode seine Klappe wieder einmal nicht halten: 'Seine treuherzigen Augen konnten einen verführen'. Die Kalaschnikow suchend zurück nach Berlin!" +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.