evangelisch.de: Herr Dr. Maßmann, Sie begannen während der Corona-Pandemie mit Ihrer Kolumne "Evangelisch Kontrovers". Was hat Sie an einer Zusammenarbeit mit evangelisch.de gereizt?
Dr. Alexander Maßmann: Das fiel in eine Zeit, als sich gesellschaftlich viele Neuerungen und Neuentwicklungen in Deutschland ergaben. Es gab den Regierungswechsel zur Ampel mit verschiedenen neuen Gesetzesvorhaben, in denen sich teilweise auch sozialer Wandel niederschlug. Es wurde wieder über Abtreibung gesprochen, über das Selbstbestimmungsgesetz von Transpersonen und weitere Dinge. Das fühlte sich nach vielen Jahren mit einer konservativen Regierung doch wie ein Einschnitt an. Hinzu kamen dann plötzlich Statistiken wie "Die Mitglieder der großen christlichen Kirchen machen weniger als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung aus". Diese ethischen Debatten wollte ich auf evangelisch.de aufgreifen und darstellen. So entstand die Idee zu "Evangelisch Kontrovers".
War Ihnen diese Form der kontroversen Debatte vertraut?
Maßmann: Nur im beschränkten, akademischen Bereich. Seit 2016 lebe ich in England. Ich erhielt hier die Forschungsstelle eines Instituts, das teils einen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften pflegte, sowie auch ethische Themen ansprach.
In England funktioniert die Debatte aber etwas anders als in Deutschland. Akademische Forschung versucht, in die Öffentlichkeit hineinzugehen. Wir hatten zum Beispiel in einer Kirche öffentliche Podiumsdiskussionen, ja fast wie bei einer Buchmesse, zu einem interessanten Forschungsprojekt zum Thema Genome Editing am Menschen (Anm. d. Red. Begriff für molekularbiologische Techniken zur zielgerichteten Veränderung von DNA). Das gefiel mir sehr gut. Das ist, glaube ich, im englischsprachigen Bereich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Die Unis versuchen, in die breitere Öffentlichkeit auszustrahlen.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, mit welchen Fragen Sie sich beschäftigen?
Maßmann: Es müssen auf jeden Fall Themen sein, die gerade aktuell in der Gesellschaft debattiert werden. Jetzt im Wahlkampf lag es natürlich auf der Hand. Ich schrieb darüber, wie sich Kirche zu der Bundestagsdebatte zum Migrationsbegrenzungsgesetz verhält.
Es sollte immer ein Thema sein, wo man einen christlichen religiösen Bezug mit einbringen kann. Eine wichtige Frage lautet für mich: Wie sollten Kircheninterne mit einem bestimmten Thema umgehen? Da gab es die Vorstellung der Studie über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche oder etwa das Thema, dass sich evangelische Kirchen von Kirchenräumen trennen müssen. Was soll man anschließend mit solchen Häusern machen?
Ich versuche, unterschiedliche Zugangsweisen einzubeziehen, nicht nur die politische. Auch die Frage des individuellen Handelns interessiert mich. Darf man zum Beispiel lügen? Es geht um klassische Fragen, aber mich interessiert dann auch die ökologische Ethik. Es überrascht mich, dass sich in Fachdiskussionen der Theologie relativ wenig dazu findet.
Erzählen Sie uns bitte mehr über ökologische Ethik.
Maßmann: Es geht um den Bereich Umweltschutz. Als die Europawahl anstand, fand ich es interessant, dass in vielen Wahlprogrammen thematisiert wurde, wie man mit Wölfen in Deutschland umgehen möchte. Die konservativeren Parteien hatten dann gesagt, man müsse sie eher zum Abschuss freigegeben. Die Frage wäre ja auch, ob es dazu noch mal eine theologische Perspektive gibt? Der Wolf reißt ein Schaf, das ist auch ein Tierleben. Man wägt vielleicht das eine Leben gegen das andere ab. Das finde ich nicht sehr produktiv. Es wäre jetzt interessant zu fragen: Wie denken wir eigentlich über die Natur? Da müsste man dann auch über das Ökosystem nachdenken. Da spielt der Wolf vielleicht eine besondere Rolle.
Das ist eine Zugangsweise, die meiner Meinung nach sehr wenig Beachtung erhält - sowohl in dem theologischen Fach Ethik als auch in der öffentlichen Debatte. Ich finde es hier auch aus religiöser Perspektive ansprechend, weil das Verhältnis zu den Tieren immer wieder in der biblischen Tradition vorkommt. Ein provokantes Beispiel ist vielleicht der große prophetische Friedenstext, in dem es heißt, der Wolf wird sich mit dem Schaf niederlegen (Jesaja 11).
Das sind nicht immer Dinge, die so ganz auf der ersten Seite oder ganz weit oben auf den Websites der Nachrichtenmagazine stehen. Aber ich lasse mich dann doch sehr davon anregen, was man allgemein findet und versuche dann, verschiedene Faktoren mit einzubringen.
Warum glauben Sie, ist es vielleicht gerade heute wichtig, dass man den christlichen Blickwinkel auf die großen Themen einnimmt?
Maßmann: Ob es nun heute wichtiger ist als früher, weiß ich nicht. Aber ich würde schon sagen, es ist nach wie vor wichtig. Ich finde es bemerkenswert, dass christliche Traditionen, christliche Texte, christliche Bräuche über einen sehr langen Zeitraum gewachsen sind. Und dadurch hat der christliche Glaube einen unheimlich großen Erfahrungsschatz. Es ist ja nicht so, dass in der Kirche immer schon klar war, wie man handelt. Es gab da kein klares religiöses Gebot, an das man sich halten konnte. Sondern man kann an vielen biblischen Texten nachzeichnen, wie schon in der Tradition oft eine Debatte geführt wird.
Was würden Sie jemandem sagen, der daran zweifelt, dass moderne Themen mit dem christlichen Glauben zusammenpassen?
Maßmann: Ja, man kann natürlich skeptisch sein, wenn man sich vor Augen führt, dass die großen christlichen Traditionen nicht über neue Technologien sprechen. Aber es kommen dann doch immer auch Gesichtspunkte in diesen religiösen Traditionen vor, die beeinflussen, wie wir mit solchen neuen Technologien umgehen.
Das ist auch ein Bereich, den ich sehr interessant finde. Viele Leute, die zum Beispiel von der künstlichen Intelligenz fasziniert sind, haben die Vorstellung, dass zur Intelligenz nicht unbedingt so etwas wie das verkörperte Leben gehört. Diese Maschinen sind gewissermaßen die pure Intelligenz. Dagegen steht, dass unser leibliches Leben mit Emotionen und leiblichen Bedingungen ganz stark auch unseren Intellekt, unsere Intelligenz beeinflusst.
Die leibliche Dimension kommt auch bei der künstlichen Intelligenz immer durch die Hintertür wieder mit rein. Ein Roboter wird meist von weißen Männern programmiert und trainiert. Der wird dann zum Beispiel zur Gesichtserkennung eingesetzt. Menschen mit dunkler Hautfarbe erkennt er schlecht, weil er darauf nicht trainiert wurde. Ich muss zugestehen, das wir das in der christlichen Tradition verschiedentlich vernachlässigt haben. Aber immerhin betont das Neue Testament auch den menschlichen Leib, wenn es etwa über Jesus sagt: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (Johannes 1,14).
Vielleicht kann ich noch einen anderen Gesichtspunkt ansprechen. Wer jetzt skeptisch ist, was christliche Ethik überhaupt mit modernen Debatten zu tun hat: Ich stelle mir das nicht so vor, dass irgendwelche Theologinnen und Theologen mit einem kirchlichen Autoritätsbonus auftreten wollen und eine kirchliche oder christliche Position eins zu eins predigen wollen. Man muss in der Ethik auch Argumente finden, die für Menschen, die nicht meine religiösen Überzeugungen teilen, zugänglich sind. Das ist ein Gebot des demokratischen Miteinanders. Das können und müssen die Kirchen annehmen.
Wie stehen Sie zu der Frage, ob sich Kirche stärker in politische oder gesellschaftlich relevant Themen einmischen soll?
Maßmann: Ich finde, es kommt ganz darauf an, wie die Kirche das tut. Kirche muss wirklich den Eindruck vermeiden, dass sie mit einer höheren Autorität spricht, die alle Menschen in unserer demokratischen Gesellschaft einfach anerkennen müssen, weil die Kirche da irgendwie eine besondere göttliche Einsicht hätte. Das ist nicht vermittelbar.
So eine Autorität möchte ich mir auch nicht anmaßen. Das heißt andererseits aber auch nicht, dass ich mit religiösen Überzeugungen ganz hinterm Berg halten muss. Ich kann sie kenntlich machen als meine eigenen individuellen, solange ich mir bewusst bin, dass andere sie nicht teilen und das, was ich dann einbringe in die öffentlichen Debatten, muss gut begründet sein. Kirchliche Akteure müssen einfach auf die Kraft des guten Arguments setzen.
Ein Beispiel: Kirchen äußern sich ja verschiedentlich auch zum Umweltschutz -Thema: Bewahrung der Schöpfung. Da wird es ihnen oft kritisch entgegengehalten, dass sie auch vor ihrer eigenen Haustür fegen müssen. Wie steht es eigentlich mit der Effizienz und dem ökologischen Fußabdruck der kirchlichen Bauten?
Da haben verschiedene Kirchen sich Ziele gesetzt, denen sie dann oft hinterherhinken. Man muss zunächst erst seine eigenen Hausaufgaben machen und darf sich nicht prophetisch aufspielen, ohne sich kritisch zu hinterfragen.
"In den moralischen Fragen rund um Homosexualität ist die Church of England oft mit sich selbst beschäftigt. Aber sie ist den deutschen Kirchen wohl in der Frage voraus, wie sie mit der Krise des sexuellen Missbrauchs in der Kirche umgehen soll"
Wie sehen Sie die Kommunikation der Kirche von England?
Maßmann: In England ist die Situation ein bisschen anders, weil die Kirche meiner Meinung nach weniger in die verschiedenen gesellschaftlichen Debatten verwoben ist. Man hat doch eher noch den Eindruck, es ist abgeschlossener.
Es gibt auch wesentlich weniger Menschen, die die Gottesdienste besuchen oder sich als Kirchenmitglieder bezeichnen. Und gleichzeitig, wenn man denn auf die Kirche schaut, sieht man auch einen Kontrast zum etwas säkulareren Alltagsleben, weil die Kirchen hier etwas liturgischer sind.
Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland die Position der evangelischen Kirche doch etwas stärker volkskirchlich gehalten ist. Kirche als Institution hat nicht so ein scharfes Profil, sondern spricht doch eher mit vielfältigen Stimmen.
Manche Themen werden im englischen Sprachraum außerdem anders behandelt. Das große Thema Gendern zum Beispiel hatte ich mal angesprochen in einer Kolumne, die sich auch im Buch findet. Und das wird in Deutschland meiner Meinung nach sehr als eine Debatte geführt, die vor allen Dingen ästhetischen und logischen Gesichtspunkten folgt.
Das ist in England anders. Kürzlich habe ich in einer Zeitung einen Artikel einer Autorin gelesen, die erzählte, wie eigentlich unser Alltag oft sehr auf Männer ausgerichtet ist, bis hin zum Design von Autositzen und Airbags. Auch Medikamente werden oft an Männern getestet. Aber wie sie auf weibliche Körper wirken, ist dann oft weniger gut erforscht. So wird die Genderdebatte in England geführt, weniger danach, ob sie logisch ist.
In den moralischen Fragen rund um Homosexualität ist die Church of England oft mit sich selbst beschäftigt. Aber sie ist den deutschen Kirchen wohl in der Frage voraus, wie sie mit der Krise des sexuellen Missbrauchs in der Kirche umgehen soll. Das betrifft zwar mehr die Kirche selbst und weniger die Gesellschaft in der Breite, aber hier die eigenen Hausaufgaben gewissenhaft zu erledigen, ist eine gewichtige Voraussetzung, ohne die man in der breiteren Öffentlichkeit schlecht das Wort erheben kann.
Noch mal zurück zu Ihrem Buch. Gab es ein Thema , bei dem Sie besonders mit sich gerungen haben oder sogar Ihre Meinung geändert haben?
Maßmann: Ja, geändert hat sich meine Meinung einmal in der Frage "Wie halten es die evangelischen Kirchen mit AfD-Mitgliedern in Ehrenämtern?" Da hatte ich anfangs geschrieben, dass man AfD-Mitglieder nicht ausschließen sollte, denn in der evangelischen Kirche darf man nicht so stark bewerten, was eine einzelne Person tut, sondern der Glaube ist das Verbindende. Aber dann kam, nachdem ich das in der Kolumne online veröffentlicht hatte, diese journalistische Recherche raus zum Thema Remigration. Das hat sehr viele Menschen in Deutschland aufgewühlt. Ich hatte dann den Eindruck, diese Partei macht vielen Menschen richtig Angst. Auf noch mal ganz andere, handfeste Weise, als ich das vorher im Blick hatte. Ich änderte meine Haltung: Man sollte doch die Weichen auch rechtlich so stellen, dass man AfD Mitglieder im kirchlichen Ehrenamt ausschließen kann.
Auch bin ich sehr hin- und hergerissen beim Thema Klima-Kleber. Ich fand es imponierend, dass viele Leute sich relativ wehrlos auf so eine Kreuzung festkleben. Sie profitierten davon ja nicht selbst, sondern wollten die Politik daran erinnern, dass auch das Bundesverfassungsgericht besseren, effektiveren Klimaschutz anmahnt. Der Aktivist in mir muss sich da aber ein bisschen bremsen. Denn es bringt die Leute letztlich doch sehr stark gegen den Klimaschutz auf. Auch könnte es zu Unfällen kommen. Ein Bekannter von mir ist auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Er ist körperlich eingeschränkt. Der hatte damit sehr zu hadern, dass auch hier in England teils Kreuzungen blockiert wurden. Ich frage mich: Kann man nicht auch irgendwo Kompromisse finden? Das klingt natürlich nicht besonders sexy, dass man dann Kompromisse finden muss, aber das macht die kreative Arbeit in der Ethik aus. Was sagt die Ethik dazu? Gibt es vielleicht bestimmte Protestformen, die jungen Menschen nicht als zu harmlos erscheinen, aber die nicht die einfachen Bürgerinnen und Bürger gegen den Klimaschutz aufbringen? Vielleicht könnte man zum Beispiel gegen Banken protestieren, die an den fossilen Energien mitverdienen und da stark investiert haben.
"Ich glaube, auch Kirchen haben hier eine besondere Rolle, weil sie sich einerseits relativ gut in ethische Debatten einklinken können, aber auch den Kontakt zu den Menschen vor Ort haben"
Gibt es weitere Themen, die Sie auf uns zukommen sehen?
Maßmann: Es hat sich in den letzten Jahren vieles in unseren Diskussionen verschoben. Ich glaube, wir müssen mit vielem erst noch mal aufholen, was jetzt präsent ist, aber noch nicht so lange debattiert wird. Zum Beispiel das Thema Transidentität ist noch relativ neu.
Es ist erforderlich, sich in die Lage von Transpersonen hineinzudenken und zu überlegen, ob man nicht doch auch Verständnis für sie aufbringt. Aber ich sehe auch, dass es vielen Menschen Schwierigkeiten bereitet, die jetzt meinen, elementare und scheinbar objektive Dinge wie die Geschlechtszugehörigkeit werden hinterfragt. Das können wahrscheinlich einige Menschen nicht mehr nachvollziehen. Da wird es noch weitere Verständigungsprozesse in der Gesellschaft geben müssen.
Auch künstliche Intelligenz ist ein Thema, das wir noch stärker diskutieren sollten in der Gesellschaft. Im letzten Jahr haben amerikanische Riesenunternehmen dramatisch an Macht gewonnen, die immense Summen mit künstlicher Intelligenz verdienen. In den USA spricht man von einem Wettrüsten mit China im Bereich künstliche Intelligenz, und im Februar fand ein internationaler Gipfel zum Thema in Paris statt, aber im deutschen Wahlkampf herrschte dazu Schweigen im Walde. Weshalb geht das Thema auch die christliche Ethik an? Mir scheint, viele laden künstliche Intelligenz unbewusst mit Eigenschaften auf, die die religiöse Tradition lange Gott zugeschrieben hat: maximale Intelligenz, unbestechliches, objektives Wissen, das ganze auf unkörperliche Weise, die uns nicht recht zugänglich und auch ein wenig mysteriös scheint. Das ist sowohl eine schlechte Theologie als auch ein Missverständnis der künstlichen Intelligenz. Aber an der Uni Zürich gibt es zum Beispiel bereits eine Professur für "digitale Religion", wo die Lehrstuhlinhaberin beobachtet, wie die Gesellschaft das Phänomen der künstlichen Intelligenz religiös auflädt.
Ich glaube, auch Kirchen haben hier eine besondere Rolle, weil sie sich einerseits relativ gut in ethische Debatten einklinken können, aber auch den Kontakt zu den Menschen vor Ort haben. Sie sind Katalysator und das muss nicht darauf hinauslaufen, dass irgendeine Kirchengemeinde mit einer Stellungnahme kommt, sondern dass sie einfach gewisse Gesichtspunkte noch mal einbringen und sich dann Menschen zu Hause Gedanken machen. Es ist wirklich für die Kirche eine riesige Chance, relevant zu sein in unserer Gesellschaft.
Mehr von Alexander Maßmann in seinem Videopodcast auf YouTube "Evangelisch Kontrovers".
Infos zum Buch und Bestellung bei der Evangelischen Verlagsanstalt: Evangelisch Kontrovers - Aktuelle Streitfragen aus ethischer Sicht.
216 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-374-07720-5, 19 Euro.
Ebenso als E-Book erhältlich.
Zum Inhalt: In den großen praktischen Debatten unserer Gesellschaft steckt große Brisanz. In 30 kurzen, allgemeinverständlichen Texten bezieht der Theologe Alexander Maßmann Stellung zu aktuellen Themen, aus theologischer und ethischer Perspektive. Ohne abstrakte Theoriedebatten regt das Buch zur eigenen Meinungsbildung an.