Die Medien sind in der Kritik. Erstens: Hinterher sieht immer alles einfach aus - im Fall der Katastrophe bei der Loveparade seien Journalisten selbstgerecht. Und zweitens: Vorher sieht bisweilen auch alles einfach aus - im Fall Kachelmann gebe es Vorverurteilungen.
Zunächst zum Thema Loveparade (das Foto zeigt Trauernde im Sonntag): Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmet den Aufmacher der Medienseite den Vorwürfen von Journalisten an die Veranstalter und Motoren der Loveparade in Duisburg, man hätte vorher wissen können, was man aber erst hinterher wusste - dass die Sicherheit der Besucher nicht gewährleistet war.
Autor Stefan Niggemeier spricht im Artikel von einer "bemerkenswerten Selbstgerechtigkeit" von Journalisten, die das Sicherheitskonzept eben nicht reihenweise vorher kritisch gewürdigt hätten, wie der eine oder andere hinterher behauptete.
"Vielleicht sagt das Fehlen von Recherchen und kritischen Würdigungen des Sicherheitskonzeptes vor dem Ereignis etwas aus über den Zustand des Lokaljournalismus. (WDR und Bild.de waren Medienpartner und also in der Rolle der Jubelperser.) Ganz sicher aber sagt die fehlende Auseinandersetzung der Medien mit ihrem Versagen etwas aus über ihr Selbstverständnis."
Der zweite Gedanke findet sich, am Beispiel des WDR, ähnlich in der Funkkorrespondenz, die sich die Fernsehübertragung der Loveparade angesehen hat:
"Das WDR Fernsehen hat seit dem Moment, als die Nachricht von der Katastrophe bekannt wurde, weitgehend richtig gehandelt. Die Reporter vor Ort haben rechtzeitig ihren Berichtsmodus vom harmlosen Bestaunen des Ereignisses zur kritischen Beobachtung und Zusammenfassung gewechselt. (...) Selbstkritische Fragen blieben allerdings aus. Der WDR tat so, als habe er mit dem Ereignis, das er im Vorfeld so beworben und an dem er sich mit seinem Jugendsender 1Live selbst beteiligt hatte, nichts zu tun."
Es gibt zwei Ansatzpunkte der Loveparade-Berichterstattung, die in einer Art "Soziologie des Journalismus" sicher früher oder später auftauchen würden. Zum einen ist es die beobachtbare Tendenz, so zu tun, als würde man sich die Welt quasi von außerhalb der Schneekugel anschauen können, als seien Journalisten also nicht Teil des Geschehens, über das sie berichten. Und zum anderen ist es das "Gesetz der Story". Darauf weist Carta hin und dürfte damit dem Verallgemeinerbaren der Loveparade-Berichterstattung wohl tatsächlich auf der Spur sein:
"Die tödlichen Unfälle auf der Love Parade lassen sich letztlich wohl nur als 'multiples Organisationsversagen' verstehen. Ein solches ist nicht vorhersehbar. Jeder Journalist, der über eine 'Vorhersehbarkeit' der Todesfälle fabuliert, stellt die Unfallursache absurd vereinfacht dar – ganz nach den Gesetzen der Story. Das 'Versagen' einiger Journalisten besteht folglich darin, die Vielschichtigkeit des Unglücks nicht mit der gebotenen Ruhe und Distanz herausgearbeitet und die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeiten der eigenen Schlüsse nicht rausreichend thematisiert zu haben – um so letztendlich pointierter urteilen zu können."
Das gilt ähnlich wiederum auch für die Berichterstattung über den Fall Jörg Kachelmann. Man kann sicher die Frage stellen, ob der Fall (den man hier wohl nicht weiter erklären muss, was ja Teil des Problems ist) überhaupt in die Medien gehört - schließlich hat er, auch im Fall eines Freispruchs, Folgen für die weitere berufliche Karriere des Moderators.
Andererseits ist Medienschelte auch eine allzu leichte Übung. Dass alle dazu schweigen, ist undenkbar. Dass sie schweigen sollten, ist zudem nicht ausgemacht. Also schreiben eben alle darüber. Die Aufschaukelung, die sich im Web 2.0 beobachten lässt, lässt sich so seit Jahr und Tag auch im Journalismus beobachten.
Die Ausgangslage für eine Sendung über den sogenannten "Fall Kachelmann" ist in diesen Tagen zwar denkbar ungünstig, der Prozess findet ja überhaupt noch nicht statt. "Anne Will" widmete sich am Sonntagabend dennoch dem Thema (derzeit nicht in der Mediathek) und konzentrierte sich auf mediale Aspekte: "Über Schuld und Unschuld wird ein Prozess entscheiden, aber im Fall Kachelmann schien die öffentliche Meinung schon längst ein Urteil gefällt zu haben", hieß es zur Sendung.
Ein Streitfall darin war ein Artikel der Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, die auch zu Gast war, und in dem sie schreibt:
"Der Fall Kachelmann belegt erneut, dass von einem Prominentenbonus schon längst nicht mehr gesprochen werden darf, eher von einem Malus. Für das zu erwartende Strafverfahren lässt das nichts Gutes erwarten, könnte man meinen. Doch in Prozessen, das lehrt die Erfahrung, ist alles möglich. Manchmal sogar ein überfälliges Wunder."
Die ebenfalls eingeladene Alice Schwarzer warf Friedrichsen (erwartungsgemäß, da nicht zum ersten Mal) vor, sich vorschnell auf die Seite des mutmaßlichen Täters zu schlagen.
Erhellend auch für den Fall Kachelmann ist ein Artikel aus der Zeitschrift Message über den Konflikt Schwarzer gegen Friedrichsen im "Fall Pascal", der im März 2009 erschien.
Schwarzers "Vorwurf: Mit ihrer Art der Berichterstattung, die sich einseitig den Interessen der Angeklagten widme und die Opferseite sträflich vernachlässige, schwinge sich Gisela Friedrichsen selbstherrlich zur 'Richterin der Richter' auf und erzeuge einen solchen medialen Druck, dass Gerichte nicht mehr im Namen des Volkes Recht sprechen, sondern Freisprüche 'im Namen des Spiegel' verkünden."
Allerdings, so Autor Norbert Leppert damals, berichte nicht nur Friedrichsen aus dem Gerichtssaal, sondern auch viele andere:
"Man nennt es Meinungsvielfalt, und diese herzustellen ist Aufgabe der Presse. Als Hilfsbeamte der Justiz aufzutreten und den Mund zu halten, bis das hohe Gericht seinen Spruch verkündet hat, ist dagegen nicht unsere Aufgabe. Strafprozesse sind öffentlich. Folglich darf die Öffentlichkeit erwarten, dass wir unserer Informations- und Kontrollaufgabe auch gegenüber der Justiz nachkommen."
Was ist nun das Problem im Fall Kachelmann?
Zunächst einmal ist die Fülle der Details, die bereits bekannt wurden, bevor der Prozess überhaupt beginnt, Ausdruck von Veränderungen in der Rechtswirklichkeit, wie Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung schreibt:
"Seit geraumer Zeit gibt es in der Rechtswirklichkeit erhebliche Veränderungen, die für einen ordentlichen Strafprozess, der einzig über die Schuld- und die Straffrage entscheidet, hinderlich sein können. Dazu gehören der Deal, in dem sich die Beteiligten vor Prozessbeginn informell verständigen. Die echten Entscheidungsprozesse werden der Öffentlichkeit meist vorenthalten. Dazu zählen aber auch, wie im Fall Kachelmann, die Vorberichte über die im September beginnende Hauptverhandlung, die Vorverurteilungen und Vorfreisprüche sein können. In der angloamerikanischen Rechtskultur würden sie als 'contempt of court' (Missachtung des Gerichts) mit Sanktionen belegt. Aber auch solche Berichte können aufklärerisch sein."
Es hätte nicht geschadet, zu erwähnen, dass auch in der Süddeutschen Zeitung eine ganze Seite drei zum Thema erschien. Meedia sprach vor zwei Wochen deren Autoren Leyendecker und Nicolas Richter ebenso wie den Kollegen von Spiegel und Zeit gute Recherche nicht ab, formulierte aber dennoch ein Problem: "Die Recherchetiefe und Qualität der Texte ist in allen Fällen beeindruckend. Aber es bleibt auch ein mulmiges Gefühl."
[listbox:title=Artikel des Tages[FAS über die Selbstgerechtigkeit##Carta über das Gesetz der Story##SZ über die Rechtswirklichkeit##FAZ-Blog "Deus ex machina"]]
Dieses Gefühl gießt auch Michael Ridder für epd in eine Kritik der Fallberichterstattung:
"Müßig zu fragen, von welchen interessierten Seiten die Gutachten an 'Zeit', SZ und andere lanciert wurden - der Effekt jedenfalls ist verheerend: Die Medien haben einen Kampf um die Deutungshoheit im Fall Kachelmann angezettelt. Sie haben, lange vor der öffentlichen Hauptverhandlung, ein fragwürdiges Vor- und Nebengericht eröffnet. Dabei verlieren sie aus dem Blick, dass sie die Justiz zwar kontrollieren sollen, aber nicht deren Geschäft zu besorgen haben."
Dieser Kampf um die Deutungshoheit ist die Basis der Aufschaukelung. Das führt mitunter nicht nur zu einer bisweilen schmierigen Hatz um die privatesten Details, sondern in einzelnen Beiträgen, gerade in SZ, Zeit und im Spiegel vor einiger Zeit, auch zu sehr guten Recherchen und im einzelnen vernünftigen Ansichten. Was aber in erster Linie Folgen haben wird, ist nicht unbedingt der einzelne Beitrag, sondern die Aufschaukelung. Der mutmaßliche Täter wird den Fall jedenfalls, genau wie das mutmaßliche Opfer, nie mehr los. Wie die unsichtbare Hand des Marktes ist auch die unsichtbare Hand des Journalismus mitunter ziemlich effizient dafür, dass sie selbst nicht vernunftbegabt ist.
Altpapierkorb
+++ Man kann sagen, dass darüber hinaus durchaus Sommer ist: Zwei Fernsehfilme dominieren die über den "Fall Kachelmann" und die Loveparade hinausgehende Berichterstattung. Ein Film über Josef Ackermann, den taz und FAZ (S. 31) besprechen. Und der Spielfilm "So glücklich war ich noch nie" im ZDF. Besprochen u.a. von SZ (S. 13), FAZ (S. 31), Berliner Zeitung und Tagesspiegel +++
+++ Mehr zur Loveparade: Ein Interview mit einem Duisburger Medienethiker im KSTA +++ Focus Online bespricht die Ausgabe von "Anne Will" (und schreibt: "Wer kennt nicht eine Frau, die sich nach einer Abfuhr, nach dem Entdecken der Untreue gerächt hat? Zu den leichteren Fällen gehört eine Anzeige beim Finanzamt oder die Zerstörung des geliebten alten Porsche." Ist das so?) +++
+++ Ein neues Blog - Thema: Internet und Gesellschaft - gibt es bei FAZ.net. +++ Harald Schmidt könne Mathias Richling nachfolgen, mutmaßt der Spiegel +++
Frisches Altpapier gibt es am Dienstag.