Niemand hat eine Absicht

Niemand hat eine Absicht

Der Fisch stinkt vom Kopf: KMH investigiert als "professionelle Journalistin" bis zur Laktoseintoleranz. Und der ARD-Chef macht mal einen Punkt.

Früher, so erzählen ältere Kollegen, konnten sich Journalisten im Präsidentenpalast frei bewegen, heute bekommt man vom Pressesprecher eines Ministers oft nicht einmal einen Rückruf.

Nein, dieser Satz stammt noch nicht aus Frankreich, sondern aus Venezuela, wie es Sebastian Erb aus Journalistensicht in seinem Text für die Berliner Zeitung beschreibt. Venezuela rangiert auf der Pressefreiheitsliste von Reporter ohne Grenzen aus dem letzten Jahr auf Platz 124 (von 175).

Frankreich dagegen behauptet Platz 43, und man darf gespannt sein, ob die Aktivitäten von Staatspräsident Nicolas Sarkozy allein der letzten Woche (Altpapier von gestern) die Stellung nicht weiter drücken. Sarko gibt sich jedenfalls alle Mühe: Nach der Entlassung der beiden Komiker von Radio France Inter hat er nun einen neuen Chef fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen durchgesetzt.

"Sarkozys neue Fernbedienung", nimmt's die FTD mit Humor. Die Süddeutsche weist derweil auf die historischen Umstände des Vorgangs hin:

Erstmals ist an diesem Montag ein Chef des Staatsfernsehens vom Präsidenten der Republik benannt worden; bisher entschied darüber ein Medienrat.

Allerdings sind sich angesichts der Ernennung des "Elsässers" Remy Pflimlin die Kommentatoren einig, dass es sich bei Pflimlin eher um einen Kompromisskandidat handelt. Die Chavez-Variante, der "glühende Sarkozyst" wäre Alexandre Bompard gewesen, Chef des Privatradios Europe 1. Deshalb resümiert Claudia Tieschky in der SZ:

"Mit der Entscheidung für Pflimlin umgeht Sarkozy die ganz große Machtprobe um den Rundfunk. Der Neue aber muss sich bei France Télévisions nun nicht nur um die Auswirkungen der Werbefreiheit und um eine neue Unternehmensstruktur kümmern - sondern er muss vor allem beweisen, dass er mehr ist als ein Präsident von Gnaden des Präsidenten."

Der letzte Satz führt nun zurück nach Deutschland (Platz 18 bei Reporter ohne Grenzen), denn auch hier stirbt der Glaube ans Gute zuletzt. Katrin Müller-Hohenstein, die sich für ihre Tätigkeit als "Schirmherrin" des "Qualitätsbeirats" einer Molkerei bezahlen ließ, ohne zu wissen, dass man solch einen Vorgang Werbung nennt, kriegt Unterstützung von besagter Molkerei. Auf DWDL.de ist zu lesen, dass die Molkereisprecherin zwar bestätigt, alle Tätigkeiten KMHs seien mit deren Management abgesprochen. Aber:

Entschieden verwahrt sich Weihenstephan-Sprecherin Kameraj gegen die Feststellung, es handele sich bei den Filmen rund um den Qualitätsbeirat, als dessen Schirmherrin Müller-Hohenstein agiert, um Werbespots. Im Zuge einer Internetkampagne für die Molkerei ist Müller-Hohenstein laut Off-Text eines Films als "professionelle Journalistin" Schirmherrin eines so genannten Qualitätsbeirates, der die Molkerei besucht und sich erklären lässt, wie zum Beispiel Laktose-freie Milch hergestellt wird.

Das ist die hohe Peter-Voß-Schule (Altpapier von gestern): Weil die Journalisten von heute ja kaum mehr Zeit zur Themenfindung haben, liefern sympathische Unternehmen zum Honorar den Hinweis auf die großen Fragen unserer Zeit (Wie wird laktosefreie Milch hergestellt) gleich mit, damit dann die Günter Wallraffs des Sportjournalismus einmal derbe investigieren können.

Kinder, Kinder, 7000 Rinder, stöhnen wir an dieser Stelle. Fragen aber gleich weiter: Wozu braucht es da eine "professionelle Journalistin"?

Peer Schader, der noch nie als "Qualitätsbeirat" gecastet wurde, wie er in der Berliner geknickt bekennt, meint mit Blick auf KMHs Werbeaktivitäten:

Man hat dann halt nur den Job, für den man bezahlt wird, nicht verstanden.

Wobei man hier mit der alten Jens-"Bartleby"-Weinreich-Unterscheidung antworten könnte: Das, was KMH in Südafrika oder auch Mainz macht, hat mit dem, was gemeinhin immer noch für Journalismus gehalten wird, nichts zu tun.

Eine andere Frage, die die SZ in diesem Zusammenhang stellt, lautet:

Wozu brauchen Journalisten Manager?

Und liefert die Antwort gleich mit:

Nicht nur ihre Haus-Agentur vermittelte ihr Jobs, auch eine Hamburger "Eventagentur in der Unternehmenskommunikation" führt "KMH" im Portfolio. Sie sei "besonders geeignet für: Gala, Messepräsentation, Tagungsprogramm". Auf Müller-Hohensteins Webpräsenz, Rubrik "Referenzen", ist zu lesen, wie das zu verstehen ist. Sie moderierte seit 2006, als sie übers Sportstudio einem großen Publikum bekannt wurde, Veranstaltungen etwa für Audi, Bayern LB, BMW, Eon, Playmobil.

Vielleicht könnte sich der "professionelle Journalismus" in solchen Fällen ein Beispiel am Gebaren der Politik nehmen, das der FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner idealiter so beschrieben hat:

Ein Minister, der in einem Aufsichtsrat sitzt, kommt da nicht hin, weil er so ein Fachmann ist, sondern weil er eine bestimmte Position hat. Der muss seine Vergütung als Aufsichtsrat komplett an den Staat abführen.

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Peter Boudgoust über den Hautgout der ARD (TAZ)##Eine Molkerei über ihre "professionelle Journalistin" (DWDL)##KMHs Referenzen (SZ)##Wäre auch gern "Qualitätsbeirat" (Berliner)##"Sarkos neue Fernbedienung" (FTD)]]

Aber damit es dazukommt, müssten die Senderverantwortlichen aufhören, sich dauernd in die eigene Tasche lügen. ARD-Chef Peter Boudgoust erklärt im TAZ-Interview auf die Frage, ob es nicht problematisch sei, dass Ulrich Wilhelm im nächsten Jahr aus dem Kanzleramt auf den Posten des BR-Chefs wechselt:

Da wird ein Scheinproblem aufgemacht. Es geht doch darum, ob jemand für ein Amt geeignet, souverän genug ist. Und da habe ich noch keine Zweifel an Ulrich Wilhelm gehört.

Es geht ja auch nicht um Ulrich Wilhelm, sondern um das Prinzip. Aber das kann oder will Boudgoust nicht begreifen. Der Fisch stinkt vom Kopfe her, wenn Boudgoust sagt:

Aber das kann doch nicht dazu führen, dass jetzt schon die Herkunft eines Kandidaten aus der Politik mit einem Hautgoût behaftet und erklärungsbedürftig wird.

Was lernen wir daraus? Platz 43 ist drin für Deutschland. Und der nächste Einzelfall Brender kommt bestimmt. Peter Boudgoust wird ihn geißeln. Wetten, dass?


Altpapierkorb

+++ Apropos Hautgout: Der Schauspieler und Kabarettist Fatih Cevikkollu hat im SZ-Portrait (Seite 15) mehr Ahnung von der ARD als ihr Vorsitzender: "Er sieht im Falle von Günther Jauch, wie sich das Erste die Stars zusammenkauft und ist fassungslos. 'Es kann doch nicht sein, dass die ARD zu Inter Mailand mutiert', sagt er und spielt auf einen Club voller teuer eingekaufter Legionäre an." +++ Der Witz dabei ist ja, dass Boudgoust im TAZ-Interview vom Sparen redet, am teuren Jauch-Deal aber auch nichts Unanständiges entdecken kann. +++

+++ Was macht eigentlich Jörg Kachelmann und sein anständiges mittelständisches Unternehmen Meteomedia ohne ihn? Der Tagesspiegel berichtet, die FAS hatte schon vor einiger Zeit den aufhaltsamen Aufstieg des Schweizer Unternehmens im ganz gewöhnlichen Kapitalismus nachgezeichnet. Und die Welt kennt neue News aus dem Umfeld der Anklage. +++

+++ Wir schalten ins Ausland. Die FAZ-Reportage von Friederike Böge über Kommunikation in Afghanistan vom Samstag ist online. +++ In der FAZ von heute (Seite 37) stellt Mathias Heybrock das in Krisensituationen hilfreiche Portal Ushahidi.com vor. +++ Und in der NZZ diskutiert Rainer Stadler in seiner Kolumne mit unglaublicher Nüchternheit eine Schweizer Sex-Affäre. +++

+++ Die Fußball-WM beschäftigt auch an spielfreien Tagen. Jan Freitag verabschiedet im KSTA würdevoll Günter Netzer als (ebenfalls nicht billigen) ARD-Experten. +++ Matthias Kalle macht den Kachelmann und will wegen falscher medialer "Vorhersagen" die großen Themen der WM betreffend erbost Köpfe rollen sehen. Wobei man sich fürs erste vielleicht auch auf einen Medienbegriff einigen könnte, in dem das Gestern naturgemäß vom Heute dementiert werden kann. +++ Und Meedia.de hat Blogs gelesen, die einen merkwürdigen Fan auf der Fanmeile, der in die Fernsehkameras immerfort sein "Eye Love Deutschland"-Schild gehalten hat, zum Schleichwerbungsskandal für ARD/ZDF aufbauen wollen. Bis Volker Lilienthal zu dem Fall befragt ist, ein Vorschlag zur Güte: Angesichts eines so bescheuerten Logos ist es womöglich nur recht und billig, nicht auf die Idee zu kommen, damit wolle und könne ernsthaft jemand Geschäft machen. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

weitere Blogs

Altar mit dekoriert in Regenbogen-Farben
Für diesen Blogbeitrag habe ich ein Interview mit Lol aus Mainz geführt. Lol ist christlich, gläubig und non-binär. Nicht für alle christlichen Kreise passt das gut zusammen.
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Heute: mein Glaube in diesem November
Weihnachtsbaum Emil beim Abtransport für Kasseler Weihnachtsmarkt
In Kassel war der Weihnachtsbaum zu dick für den Transport