Der Gauck-Effekt: Mut kehrt zurück, Hoffnung wächst, Angst verschwindet. Heute betroffen: Katja Lange-Müller, Georg Schramm. Eher nicht so: Wikileaks, Werbefreiheitsdebatten.
What about the Gauck-Euphorie? Spannend an der Horst-Köhler-Nachfolge-Frage bleibt aus medialer Sicht, ob und wie es den Medien gelingt, die Gegenkandidat-Trunkenheit vom Wochenende (Altpapier von gestern) hochzuhalten. War das Träumen vom "besseren Präsidenten" nur dem ersten Frühlingsommerwochenende geschuldet? Sind die verbleibenden drei Wochen bis zur Wahl nicht zu lang für etwas, das wir Werbefritzen Momentum nennen? Kann Lenas Weg nach Oslo als Vorbild dienen?
Die FAZ immerhin meint es ernst und legt gleich heute auf der ersten Feuilletonseite (Seite 29) nach. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller erklärt sich dank Gauck derart kuriert von ihrer "Angst", von der man allerdings nicht so recht erfährt, wovor sie die hatte:
Bei all der Heiterkeit, die ihm eignet, nimmt er unsere, auch meine, Ängste sehr ernst, Ängste, für die wir uns, wie uns von oben herab eingeredet wird, ein wenig schämen sollten, die jedoch, wir wissen es, so unbegründet nicht sind – oder nicht mehr.
Wie auch immer, Gauck ist eine Art Messias, wobei man sich fragen muss, ob das Lob auf ihn durch das wenig sensible Dissen Horst Köhlers gewinnt:
Joachim Gauck ist der, der uns fehlt, richtiger der, den wir benötigen, nicht nur, aber wenigstens in diesem Amt, das beschädigt wurde, nicht nur, aber auch von einem Dünnhäutigen, der schlicht die Nerven verlor und der dem Land, dem zu dienen er zweimal geschworen hatte, nun doch einen letzten Dienst erwies, indirekt, indem er einen Kandidaten wie Gauck ermöglichte.
Während der "Kandidaten-Check" auf Sueddeutsche.de eher den Gewohnheiten einer eingespielten Demokratie entspricht, erteilt im Tagesspiegel der beliebte Querdenker Malte Lehming der Gauck-Euphorie einen Dämpfer.
Darum heißt die eigentlich interessante Frage nicht, warum SPD und Grüne Gauck nominiert haben, sondern warum Gauck sich von SPD und Grünen hat nominieren lassen. Der Kandidat weiß doch, wofür er steht und wofür seine vorgeblichen Bündnisgenossen stehen. Er weiß doch, wie schwierig jede Liaison aus Freiheit und Sozialismus ist. Stattdessen spielt er den Ahnungslosen und warnt vor einem „Parteigeschacher“ ums höchste Staatsamt. Mit Naivität und Eitelkeit allein lässt sich das nicht erklären. Vielleicht haben wir uns in Gauck getäuscht. Vielleicht steckt ausgerechnet etwas von jener Eigenschaft in ihm, die er offiziell am meisten verabscheut hat – Opportunismus.
Das ist naturgemäß das Gegenteil von dem Denken, das Katja Lange-Müller gerade kuriert hat. Wobei Zweifel bleiben, ob sich irgendwelche FDP- oder CDU-Politiker, die jetzt Dampf ablassen, am Ende von Katja Lange-Müller beeindrucken lassen. Zumal der Lebenslauf von Christian Wulff mit dem eigenen Entwurf vermutlich viel kompatibler ist.
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Für die Georg-Schramm-Euphorie (Tagesspiegel)##Wider die Apple-Begeisterung (TAZ)##Einsweiter soll mal weitermachen (FAZ-Fernsehblog)]]
Das Medienressort vom Tagesspiegel bleibt jedenfalls ganz infiziert von Euphorie. Und lobhudelt heute auf breiter Front.
Zum einen würdigt Markus Ehrenberg den Talkmaster Jörg Thadeusz, der heute zum 200. Mal in seiner Sendung "Thadeusz" einen Gast empfängt (22.15 Uhr, RBB).
Zum anderen schreibt der Kabarettist Peter Ensikat (Vater des Tagesspiegel-Redakteurs David Ensikat) über den Kabarettisten Georg Schramm, der heute abend zum letzten Mal in der ZDF-Satiresendung "Neues aus der Anstalt" (ebenfalls 22.15 Uhr, ZDF) auftritt, als handelte es sich um Gauck:
Nein, lustig finde ich ihn nicht, aber ich bin immer wieder froh, dass da einer zu Ende denkt, wovor die meisten von uns zurückschrecken, dass er aus seiner Empörung über herrschende Verhältnisse kein Hehl macht.
Ensikat verbindet das Hoch auf Schramm mit einer Kritik der Medien vor dem Hintergrund eines möglichen Nachfolgers:
Mir fällt keiner ein, der von heute auf morgen einen von beiden in der „Anstalt“ ersetzen könnte. Aber das will nicht heißen, dass es keinen gibt. Da man im Fernsehen fast immer dieselben Gesichter sieht, glaubt man leicht, es gäbe gar keine anderen. Die Medien tun sich schwer mit Unbekannten, weil sie keine Quotenbringer sind. Und den meisten von uns bleibt unbekannt, wer nicht über die Medien kommt. Dass ausgerechnet einer wie Schramm es zu solcher Popularität gebracht hat – und das auch noch im ZDF – lässt mich altmodischen Satirefreund hoffen, dass es auch andere schaffen werden. Wer ihn in früheren Kabarettsendungen des SFB, im „Satirefest“ gesehen hat, weiß, wie harmlos verbindlich er einmal angefangen hat, und wie lange es gedauert hat, bis er zu dem wurde, was er heute ist.
Das ist doch mal ein hoffnungsfroher Schluss.
Altpapierkorb
+++ Und eine Mörder-Überleitung: "Sowas kommt im Fernsehen auch nicht mehr alle Tage vor", beginnt Peer Schaders euphorischer Eintrag im FAZ-Fernsehblog über Experimentalprogramm "Einsweiter" des ARD-Digitalkanals EinsFestival. Und endet mit: "Nur das Problem mit dem Budget ist immer noch dasselbe: Es gibt fast keins. Das sollte die ARD schnellstmöglich ändern. Sonst kommt noch jemand auf die Idee, fehlende finanzielle Mittel seien im Senderverbund Voraussetzung für kreatives Ausprobieren im Programm." +++ Dass die Mittel nicht fehlen, darum sorgt sich unter anderem die "Spitzenorganisation der deutschen Markenwirtschaft", wie der SZ (Seite 15) zu entnehmen ist: Zwar geht der Trend zur öffentlich-rechtlichen Finanzierung laut Claudia Tieschky nicht nur von der Geräteabgabe zur Haushaltsabgabe, sondern auch in Richtung Werbefreiheit, fraglich scheint aber – schaut man nach Frankreich – ob die Privaten vom Werbeverzicht der Öffentlich-Rechtlichen überhaupt profitieren. +++ Andere Sorgen hat die Schweizer SRG: Dort wird bis 2011 ein Schuldenstand von 450 Milllionen Franken prognostiziert (NZZ). +++ Derweil hätte der Verband Deutscher Zeitungsverleger gern Geld von Facebook, wie die FTD berichtet. +++ Blogger Thomas Knüwer flüchtet sich aus Verzweiflung darüber zu Shakespeare. +++
+++ Was soll man vom Internet halten? +++ a) Es befördert die Emanzipation, wie Sunny Riedel in der TAZ am Beispiel des Sozialen Netzwerks MyKnet.org zeigt, über das Angehörige von Kanadas First Nations kommunizieren. +++ b) Es bereichert die mediale Abbildung der Wirklichkeit, wie Moritz Baumstieger anhand des Nachrichtenportals VJMovement.com darstellt, das Konflikte nicht aus der Zentralperspektive von Agenturen erzählt (SZ, Seite 15). +++ c) Es kann süchtig machen, wie Sarah Mühlberger in einem FR-Text über "Mediensucht" erläutert. +++ d) Es kann abhängig machen von anderen, wie Detlef Borchers in der FAZ in einem langen Text über Wikileaks am Ende doch relativ deutlich zu bedenken gibt. +++
+++ Abhängig kann auch die Schönheit von Apple-Produkten machen. Merkt Daniel Schulz in der TAZ kritisch an, just da etwa unsere Lieblingsproduktestplattform Meedia.de das neue iPhone mag: "Nie haben iPhone-Nutzer ihre Inhalte schärfer gesehen. Möglich macht dies das sogenannte 'Retina Display', das mit einer Aulösung von 960 x 640 Bildpunkten eine vierfach höhere Pixelauflösung besitzt als die aktuelle 3G S-Version. Mit einer Pixeldichte von 326 Pixel ppi ist es damit sogar schärfer als ein gedrucktes Buch." +++ Marin Majica ist in der FR seinem iPad gegenüber auch nicht unbedingt abgetan. +++
+++ In Simbabwe versucht sich eine neue Zeitung an mehr Meinungsfreiheit (TAZ). +++ Offen ist dagegen, wer N24 übernehmen darf. Wir werden es erfahren an dem Tag, bevor wir erfahren, was aus der Gauck-Euphorie geworden sein wird (TSP). +++ Was man dagegen nicht so ganz dringend wissen will: Was Dieter Hildebrandt von all dem Kram hält, den Sueddeutsche.de ihm als Stichwort hinwirft. +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.